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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Wer geistig auf sich hielt, sprach damals entweder entlang von Begriffen und Argumenten (manchmal sogar in der eigentümlich hohen Stimmlage), die der persönlich distanziert wirkende Professor aus Bielefeld in Umlauf gebracht hatte; oder aber in polemischer Reaktion und politischer Identifikation mit den neomarxistischen Prinzipien der sogenannten „Frankfurter Schule“, zur deren öffentlichem Herausforderer er seit einer vielbeachteten Debatte mit Jürgen Habermas in den frühen 70er-Jahren geworden war. Luhmanns Anhänger gingen davon aus, dass die mit seinem Namen verbundene „Systemtheorie“ der Gesellschaft bald die internationalen Nervenzentren der sozialwissenschaftlichen Diskussion beherrschen würde und verstiegen sich sogar zu der Behauptung, ihre Sicht der Dinge sei außerhalb der akademischen Welt bereits „der Fall der Gegenwart“. Und selbst die am Ende respektvollen Antagonisten fanden es schwierig, sich ein produktives Leben des Geistes ohne Niklas Luhmann vorzustellen.
Gut 20 Jahre später hat sich keine dieser Erwartungen oder Befürchtungen erfüllt, und mit vielen anderen Veteranen aus jener Zeit erinnere ich mich an die „Systemtheorie“ im bittersüßen Gefühl einer Jugendliebe, die wir als Liebe unseres Lebens umarmen wollten. Die wie selbstverständlich erwartete Gesamtausgabe von Luhmanns Werken ist im überwältigenden Volumen seines Nachlasses und in juristischen Streitigkeiten unter den Erben stecken geblieben. Aus der vorhergesagten Global-Rezeption seiner Theorie ist eine Diaspora-Präsenz geworden: nur an wenigen juristischen Fakultäten der Vereinigten Staaten etwa sind Luhmanns meist frühe Schriften zur Rechtssoziologie Pflichtlektüre geblieben; in einigen Ländern – zum Beispiel in Mexiko – haben dank breiter Übersetzungsprojekte Luhmann-Sekten aus Mitgliedern im heute fortgeschrittenen Pensionsalter überlebt; und wer zwischen seiner Geburtsstadt Lüneburg und dem Universitätssüden von Konstanz noch systemtheoretisch spricht oder schreibt, der kann sich bestenfalls auf einen Nostalgieeffekt verlassen. Selbst der Wikipedia-Bezug auf Luhmann als einen der soziologischen „Klassiker im 20. Jahrhundert“ wirkt inzwischen eigentümlich unzeitgemäß.
Wie können wir diesen drastischen Konjunkturumschlag erklären? Und vor allem: Ist es nicht an der Zeit, Luhmanns Werk auf die Theoriegeschichte abzulegen wie die Karte eines Spiels, dessen Regeln bald vergessen sein werden? Oder existiert doch ein Versprechen lohnender Neulektüre unter früher eingeklammerten Voraussetzungen? Für produktive Antworten auf diese Fragen ist ein Blick auf besondere Ambivalenzen in Luhmanns beruflicher Biografie erhellend, von deren Details er ohne alle Relevanzansprüche erstaunlich gern redete.
1944 der NSDAP beigetreten, ohne je eine Mitgliedsnummer erhalten zu haben – wie Luhmann 1949 in einem Fragebogen zur Entnazifizierung angab – diente er seit dem 15. Lebensjahr als Flakhelfer, verbrachte mehrere Monate in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und schloss zwischen 1946 und 1949 ein Jurastudium in Freiburg ab. Er absolvierte die Referendarausbildung am Lüneburger Oberverwaltungsgericht und wurde 1955 ins niedersächsische Kultusministerium abgeordnet, wo er einen Ruf als intellektuell herausragender Beamter erwarb, der ihm 1960 bis 1961 ein Fortbildungsstipendium in Harvard einbrachte. Nach der Rückkehr arbeitete er für drei Jahre als Referent an der Verwaltungshochschule in Speyer, promovierte und habilitierte sich innerhalb von fünf Monaten in Münster und wurde 1968 an die neugegründete Bielefelder Reformuniversität berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 lehrte. Als spät entdeckter Überflieger der akademischen Welt pflegte Luhmann einen Verhaltensstil der administrativen Nüchternheit und der Sprache, deren durchgehaltener Indikativ an die Stelle hochfliegender Spekulationsekstasen trat.
In der Entfaltung seiner Theorie lassen sich drei Phasen unterscheiden, die er – abweichend von dem heute deutlichen Eindruck von eigenständigen Schritten einer fortgesetzten Ableitung – ostentativ mit den Namen anderer Wissenschaftler verband. Erstens die in Deutschland bis heute sprichwörtlich gebliebene These, dass soziale Systeme grundsätzlich Funktionen der „Komplexitätsreduktion“ gegenüber ihren verschiedenen, aber immer überkomplexen Umwelten erfüllen – mit dem Soziologen Talcott Parsons, an dessen Seminaren er in Harvard teilgenommen hatte. Zweitens die Beschreibung der internen Struktur von sozialen Systemen als geschlossen, sich selbst nach verschiedenen Umweltbedingungen reproduzierend und (entgegen einer scheinbar natürlichen Annahme) menschliche Individuen ausschließend – mit den chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Schließlich die Reflexion über soziale Systeme als selbst-beobachtend und deshalb bis zu einem gewissen Grad auch sich selbst-steuernd – mit dem Formbegriff des britischen Mathematikers George Spencer-Brown. In dieser Endphase versah Luhmann seine Theorie – zögernd aber doch konsequent – mit dem Vorzeichen des damals unvermeidlich scheinenden „Konstruktivismus“, nach den Beschreibungen der Welt unvermeidlich von den Gesellschaften geprägt werden, aus denen sie hervorgehen. Eben dieser Konstruktivismus hat die Systemtheorie im neo-realistisch gewordenen Philosophieklima der Gegenwart mit der Patina eines unumkehrbar vergangenen Denkens überzogen.
Vor gut 30 Jahren hingegen hatte die Luhmann-Rezeption nicht nur eine inzwischen obsolet gewordene Auslegungsindustrie seines eigenen Werks auf Touren gehalten, sondern auch eine ganze Generation von Parsons-, Maturana/Varela- und Spencer-Brown-Spezialisten an deutschen Universitäten ins beamtete Brot gesetzt. Von heute evident gewordenen Anregungen aus der Tradition von Edmund Husserls Phänomenologie war kaum die Rede. Zu diesem Eindruck einer Asymmetrie zwischen den Ursprüngen von Luhmanns Denken und dem Diskurs seiner Selbstpräsentation kommt mittlerweile die Intuition, dass er von den jeweils erreichten Phasen des eigenen Denkens sprach, wenn er sich auf „den Forschungsstand der soziologischen Systemtheorie“ bezog, die außerhalb seines eigenen Schüler- und Leserkreises eigentlich nicht existierte. Hatte der nüchtern-indikativische Gestus des Verwaltungsdiskurses in der Systemtheorie einen Status der Ironie angenommen? Einmal abgesehen von Luhmanns Absichten, die uns nicht mehr zugänglich sind, gibt es zahlreiche Anhaltspunkte für diesen Verdacht.
Denn der viel bewunderte Niklas Luhmann liebte es, über seine Arbeit aus einer Perspektive zu reden, die von ihm selbst als potenziell heroischem Subjekt oder intellektuellem Genie ablenkte – und damit die Bewunderung nur weiter intensivierte. So setzte er den bis heute fortlebenden Glauben durch, dass er seine besten Ideen der „Kommunikation“ einem eher konventionellen Zettelkasten entnehme; beim akademischen Hochamt zur Feier seines 60. Geburtstags dankte er mit stirnrunzelndem Erstaunen den aus aller Welt angereisten Kollegen, dass sie nach Bielefeld gekommen waren, „um sein Werk zu ehren“ (nicht ihn selbst); folgerichtig stellte Luhmanns Theorie auch kein rundes Äquivalent für die klassischen Begriffe des „Subjekts“ oder des „Menschen“ bereit, sondern platzierte die „menschliche Selbstreferenz“ (wie es systemtheoretisch hieß) auf der prekären Position einer Koppelung zwischen dem Körper („biologisches System“), dem Bewusstsein („psychisches System“) und der Gesellschaft.
Für diesen ausgefallenen Theorie-Schachzug hatte Luhmann einen spezifischen Grund, auf den er nur selten zu sprechen kam: Seine Arbeit sollte jede Möglichkeit vermeiden, „im Namen der Menschheit“ allzu vollmundig ethische, politische und ideologische Ansprüche zu stellen. Die eigene Stärke lag – ganz auf der anderen Seite – in den Provokationen einer philosophischen Verfremdung, mit der er seine Leser etwa konfrontierte, wenn er sie dazu verpflichtete, die Gesellschaft ohne Rückgriff auf „den Menschen“ als ihr Grundelement zu denken. Diese Strategie erklärt Luhmanns Wissenschaftstheorie, die ich für das bedeutsamer gewordene Versatzstück seiner Arbeit ansehe. Unter allen sozialen Systemen, schrieb er, diene allein die Wissenschaft nicht der Reduktion von Umweltkomplexität, sondern steigere sie; Wissenschaft soll unseren Blick auf die Welt komplexer und komplizierter machen, statt Probleme zu lösen.
Zu liefern, was im Denken und als Weltsicht „der Fall ist“, soll gerade nicht ihre Aufgabe sein, sondern die Produktion von Alternativen, die das Denken auch und vor allem unter Problemdruck in Gang halten. Als Beispiel und Testfall könnte der jetzt anstehende Rückweg zu realistischen Positionen der Philosophie aus einer noch vom Konstruktivismus geprägten Umwelt von Vorschlägen und Systemen dienen. Ob die sich heute immer mehr zu einer Institution der Vermittlung von Berufswissen verhärtende Universität fähig ist, diesen Luhmann-Vorschlag wirklich werden zu lassen, steht auf einem anderen Blatt. Gegebenenfalls bleibt auch die Möglichkeit offen, Luhmanns Wissenschaftstheorie als Vorlage für ein neues Selbstverständnis des Intellektuellen aufzufassen, dessen klassische Funktion des „Engagements“ für präexistierende politische Positionen ja längst das Ende ihrer Möglichkeiten erreicht hat.
Ohne einen Sinn für Ironie allerdings oder als Rezeptwissen für intellektuelle Kreativität wird man diese Dimension der Systemtheorie nicht zum Leben erwecken können. Vielmehr muss gelten, was Niklas Luhmann in den späten 80er-Jahren den Stipendiaten eines Graduiertenkollegs mit heller Altstimme dringend empfahl: „Und wenn Sie ein Problem haben, meine Damen und Herren, bitte nicht lösen – bewahren, hätscheln Sie Ihr Problem.“
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm