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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Viel zu oft macht sich ein neuer Gebrauch von Wörtern breit, auf deren Verbot Preise ausgesetzt werden sollten. Besonders nervig finde ich die in allen Varianten der deutschen Sprache zur Regel gewordene Ersetzung des Adjektivs „interessant“ durch das Partizip „spannend“, einfach aus Geschmacksgründen. Ähnlich irritierend wirkt die Inflation von „Nachhaltigkeits“-Mahnungen, deren Moralingeruch uns mit allzu gut gemeinten Empfehlungen von Hotels im Handtuch nach der Morgendusche erwartet.
Am vertracktesten jedoch sind jene Fälle, wo sich eine ursprüngliche Wortbedeutung ins Gegenteil verkehrt hat, ohne dass ihre Anhänger irgendwelche Konsequenzen ziehen wollen. Dazu gehört der Begriff „Kritik“, der vor zweieinhalb Jahrhunderten für den höchsten Erkenntnisanspruch des aktiven Geistes stand und der in einer erfolgreich vergessenen Verfallsgeschichte mittlerweile zur Parodie seines Ausgangs geworden ist.
Meist entstehen solche Verschiebungen und ihre ärgerlichen Konsequenzen aus Wörtern, die mit einer Vielzahl überlappender Bedeutungen assoziiert werden. Was „Kritik“ angeht, so hätte sich das Schlimmste vielleicht verhindern lassen, wenn im Deutschen eine Unterscheidung zur Verfügung stünde, die zum Vokabular der englischen Sprache gehört.
„Critique“ nimmt dort Bezug auf philosophisches Nachdenken über die Leistungsfähigkeit der menschlichen Intelligenz, während „criticism“ vor allem für abwertende Äußerungen gebraucht wird und daneben auch für bestimmte Diskurse, die den Gebrauch der Urteilskraft voraussetzen (vor allem in der Literatur- und Kunstkritik). Selbst diese eher harmlose Unschärfe macht zuweilen klärende Nachfragen notwendig, doch die aus ihr hervorgehenden Unsicherheiten stehen in keinem Verhältnis zu den Folgen eines spezifischen Kurzschlusses zwischen philosophisch-wissenschaftlichen Höchstansprüchen und habituellen Vorurteilen des Alltags, wie er sich im deutschen Wort „Kritik“ seit dem 19. Jahrhundert etabliert hat.
Dabei scheint die Bedeutung der griechisch-antiken Wurzel von „Kritik“ unmissverständlich gewesen zu sein. Es ging um die Praxis des Urteilens in Kontexten, deren Relevanz die Grenzen individueller Interessen überschritt. Urteilen wurde – und wird immer noch – notwendig in der Reaktion auf Phänomene, Ereignisse oder Fragen, die einen Rückgriff auf Standardwissen nicht zulassen. Kompakter gesagt: Mangel an Evidenz ist die Voraussetzung des Urteilens. Deshalb gehören urteilende Antworten eher zur Ebene des Richtigen, zur Ebene dessen, was weiterhilft, als zur Sphäre übergreifender oder gar ewiger Wahrheiten.
Jene Praxisnähe des Urteils als Vorläufer des neuzeitlichen Begriffs von Kritik blieb für die philosophischen Gespräche der Antike, vor allem für Plato und Aristoteles, immer in Reichweite – und könnte als Orientierung dienen, wenn ein Prozess intellektueller Hygiene je wieder die Möglichkeit eines neuen Wortgebrauchs eröffnete. Seine moderne Geschichte hingegen setzte, zumal für die deutsche Sprache, auf höchster Stufe ein in Immanuel Kants „kritischen“ Schriften und ihrem Vorhaben, „nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt“ zu unternehmen. Ebendiese Bedeutung einer allgemein gültigen Prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens, mit der die Aufklärung ihren Höhepunkt und Abschluss erreichte, hat der englische Begriff von „critique“ bewahrt.
Unter den Denkern des Idealismus, vor allem bei Fichte, Schelling und Hegel, verlor das Wort „Kritik“ dann einerseits jene dominante Stellung, die es in Kants Schriften besetzt hatte, und geriet andererseits auf den Weg zu einem veränderten Gebrauch. Er ergab sich aus einer wachsenden Nähe zum damals neuen Begriff der Wissenschaft, wie er nach 1800 schnell – und im Gegensatz zu dem von Kant untersuchten allgemeinen Erkenntnisvermögen – eine Aura intellektueller Überlegenheit gewann.
Doch erst unter den sogenannten „Linkshegelianern“, die Hegels Denken benutzten, ohne seine Schließung im eigenen philosophischen System mitzuvollziehen, vor allem bei Karl Marx, nahm „Kritik“ die bis heute anhaltende Zentralstellung und grundsätzlich problematische Bedeutung an. Sie ergaben sich aus einer Koppelung des Prestiges wissenschaftlicher Sprachgesten (auf die sich Marx zum Beispiel in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von 1844 verließ) mit der Zurückweisung von Zuständen im zeitgenössischen Staat wie seiner kapitalistischen Wirtschaft (etwa in der „Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859). Diese Angleichung machte Kritik zu einem vermeintlichen politischen Instrument, das zur Einlösung des Versprechens von der „klassenlosen“ Gesellschaft beitragen sollte.
Über die singuläre Wirkung der Schriften von Marx und Engels wurde der Kurzschluss zwischen Wissenschaftsaura und politischer Polemik zu einer dominanten Erfahrungsvoraussetzung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wer sich an der Gegenwart stieß, brauchte seine Reaktion kaum mehr zu begründen, weil sie im Licht geistiger Überlegenheit stand.
Damit war zugleich die seit der ursprünglichen Praxis des Urteilens prinzipiell vorgegebene Möglichkeit einer positiven Bewertung von Erlebnissen blockiert. Wer sich also je lobend äußerte, der fiel unter den Verdacht, durch seine „Affirmation“ Teil einer Verschwörung von Ausbeutern gegen die arbeitenden Klassen zu sein.
Die Einseitigkeit des Urteilens als Ablehnung setzte sich auch in der seit den 20er-Jahren entstehenden „Kritischen Theorie“ durch, einer anspruchsvollen akademischen Praxis der Analyse von Kunst, Literatur und Musik auf marxistischer Grundlage, für die bis heute vor allem das Werk von Theodor W. Adorno emblematisch geblieben ist. Die politische Chance ästhetischer Erfahrung, behauptete Adorno, ergebe sich aus der Verdichtung und Vergegenwärtigung von Klassenkonflikten durch die Formen der Werke.
Aus Unzufriedenheit über die aus der Zeit geborenen Texte wie die von Hölderlin oder Beckett können die These gewiss illustrieren. Alle gegenteilig gepolten Weltsichten in Literatur und Kunst aber haben es seither und bis heute schwer, sich angesichts des generellen Affirmationsvorbehalts durchzusetzen. Dieser simple Schematismus dürfte mehr zur Wirkungsmacht der „Kritischen Theorie“ beigetragen haben als eine Reihe analytischer Meisterwerke.
Zu ihren großen Leistungen zählen auch die Reflexionen von Jürgen Habermas über strukturelle Situationen der Ungerechtigkeit in den Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts. Doch so sehr Habermas als weithin gelesener Intellektueller zur späten Etablierung eines demokratischen Alltags in Deutschland beigetragen hat, so deutlich setzte sich auch in seiner Polemik die Überlegenheitsaura der Wissenschaft durch. Während er mit dem französischen Generationsgenossen Michel Foucault im Blick auf soziale Missstände und ihre Alternativen weitgehend übereinstimmte, trieben die Anhänger der „Kritischen Theorie“ ihre Vorbehalte gegen das Ausbleiben einer marxistischen Grundlage in Foucaults Arbeiten bis hin zum – absurden – Vorwurf des Neokonservatismus.
Habermas selbst hat in einem im vergangenen Jahr erschienenen Buch seine Konzeption von Wissenschaft vor dem Hintergrund von Traditionen des Glaubens noch einmal differenziert. Anders als er verschließt sich jedoch die Mehrzahl der unter seinem Einfluss zu akademischen und öffentlichen Ehren aufgestiegenen Intellektuellen – ausgerechnet mit dem Anspruch, kritisch zu bleiben – jeder selbstkritischen Revision.
Blind gegenüber Phänomenen des fortschreitenden 21. Jahrhunderts, die sich nicht auf der Achse wohlfahrtsstaatlichen Fortschritts abbuchen lassen, wie Erderwärmung, Transformation menschlicher Arbeit durch elektronische Technologie oder Veränderung der Alterspyramide, halten sie an überkommenen philosophischen Lösungen und Gewissheiten der Ethik (ein neues Lieblingswort) fest. Derart unerschütterliche Prinzipienfestigkeit erinnert an ihre populistischen Gegner im öffentlichen Raum, die auf inhaltsfreie Zustimmung zu Gesten der Authentizität als einen neuen Modus der Politik setzen – und die ehemaligen Linken als „politisch korrekte“ Status quo-Bewahrer bloßzustellen versuchen.
Wer nach den Motiven dieser Versteinerung des ehemals kritischen Geistes sucht, stößt noch einmal auf eine merkwürdige Affinität zur politischen Gegenseite.
Man hat – überzeugend, wie ich meine – eine Stimmung des „Abgehängtseins“ und des daraus folgenden Ressentiments im Hinblick auf die technologisch-kulturelle Gegenwart als diejenige Situation identifiziert, der etwa die gegenwärtigen Staatschefs in den Vereinigten Staaten, Brasilien, Italien oder Ungarn ihre stabile Wählerbasis verdanken. Aber lässt sich ein strukturell ähnliches Ressentiment nicht auch bei den „kritischen Linken“ von früher – und heute – beobachten, deren traditionelle Bilder vom sozialen Fortschritt (etwa drastisch verkürzte Arbeitszeiten) ihre Attraktivität für andere Zeitgenossen in dem Maß verloren haben, wie sie realisierbar geworden sind?
Der Habitus des Kritischseins ist zur letzten Affirmation einer vergangenen Sozialutopie geworden – und zur grotesken Selbstfeier des Ressentiments als Wissenschaftlichkeit. Vom Bannkreis dieser Endstation sollten sich neugierige Intellektuelle durch eine Praxis polemischer Interventionen in der Alltagssprache befreien, selbst wenn darin eine letzte „Affirmation“ des „Kritik“-Syndroms läge.
Wer auf die erstarrten Implikationen in der kritischen Praxis der Linken hinweist, muss sich eine Verballhornung als „affirmativ“, „rechts“ oder „neoliberal“ heute nicht mehr bieten lassen. Schon immer ist die obligatorische Einschwörung der Intellektuellen auf ein verengtes Spektrum politischer Positionen das Erbe eines amputierten Begriffs von „Kritik“ gewesen, mithin ein großes Selbstmissverständnis.
Der Impuls einer Kritik am überkommenen „Kritik“-Begriff könnte dagegen unsere Lust an unabhängigen, nie vorhersehbaren Urteilen als die ursprüngliche kritische Praxis wieder wecken.
Dieser Artikel ist am 26. Februar unter dem Titel „Warum der kritische Gestus der Intellektuellen passé ist“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm