ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Dr. Joachim Landkammer wurde 1962 geboren und studierte in Genua und Turin. Nach seinem dortigen Philosophiestudium, abgeschlossen mit einer Arbeit über den frühen Georg Simmel und einer ebenfalls in Italien durchgeführten Promotion über den Historikerstreit, hat Joachim Landkammer als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. W. Ch. Zimmerli an den Universitäten Bamberg, Marburg und Witten/Herdecke gearbeitet. Seit 2004 ist er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität und Verantwortlicher des ZU-artsprogram für den Bereich Musik.
Joachim Landkammer arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit und einer gewissen journalistischen Textproduktion an verschiedenen interdisziplinären Themen in
den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie, der Ästhetik und der Kulturtheorie. Ein dezidiertes Interesse gilt dem Dilettantismus und der Kunst- und Musikkritik.
Bei den jetzt öfter zu hörenden Warnungen vor „Panikmache“ war vor einigen Tagen in den Medien auch die Stimme eines besonnenen Verantwortlichen aus dem Kleinhandel zu hören, der vor voreiligen Schlüssen aus Bildern von „leeren Supermarktregalen“ warnte, die per Handyfoto-Schnellschuss in die sozialen Netzwerke verteilt werden. Anstatt einzusehen, dass am nächsten Tag, ja manchmal binnen einer Stunde die gleichen Regale wieder voll sind, werden so erst die Hamsterkäufer alarmiert und damit gerade jene Versorgungsengpässe provoziert, die man meint, schon dokumentieren und beklagen zu müssen.
Die hysterische Angst vor leeren Supermarktregalen (sollte man von „Agoravakuaphobie“ sprechen?) scheint aber, metaphorisch gesehen, auch in der Politik umzugehen. Die herrschende Idee des Meinungs-, Haltungs- und Ideenpluralismus verleitet offenbar zu der Annahme, dass auch in politicis jederzeit alles möglich, denkbar, wählbar und sagbar sein muss. Sobald das derart imaginierte Angebots-Spektrum politischer Positionen von ganz links bis ganz rechts irgendwo eine Lücke aufweist, stellt man sich mit dem Selfie-Handy davor und beweist und beklagt die Unvollständigkeit der Wahlmöglichkeiten, die Schieflastigkeit und Unausgewogenheit der Versorgung, die manipulative Einschränkung der Konsumchancen. Diese Klage ist insofern ziemlich kommod, als sie den Klagenden davon dispensiert, Rechenschaft darüber abzugeben, warum gerade er und gerade jetzt diese nicht zur Verfügung stehende Option vermisst und für unersetzlich hält. Denn es genügt ja, auf das vermeintliche ideale Ziel der Totalabdeckung aller und jeglicher Vorstell- und Wünschbarkeiten auf dem (natürlich) vollkommenen „offenen“ Meinungsmarkt hinzuweisen, auf das sich eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft ja doch eigentlich verpflichtet habe. Daran, dass sie diesem Ideal nicht gerecht werde („das Regal ist leer!“), sehe man aber, dass sie in Wahrheit nichts als eine gelenkte Meinungsdiktatur mit streng bewachten „Gesinnungskorridoren“ vorstelle – und so weiter, und so weiter.
Man hat es längst erkannt: die Rede ist vom neu-rechten Lamento über die „links-grün versiffte Gegenwartskultur“, die jede „nonkonformistische“ Gegenrede ausgrenze und verfolge; so jetzt zum wiederholten Male Uwe Tellkamp in Dresden (vgl. Stefan Locke im FAZ-Feuilleton vom 09.03.), der „die Meinungsäußerungsfreiheit und die Meinungsakzeptanz […] in diesem Land in einem Maße bedroht“ sieht, die ihn „an 1989 erinnert“. Und man sieht auch, wie schwer es ist, solchen Anwürfen zu begegnen: Denn der einfache Hinweis auf den performativen Selbstwiderspruch, dass Tellkamp ja gerade in dem Moment genau das sagen darf, was man angeblich gerade in Deutschland nicht sagen darf, wird den Rechten als Gegenbeweis nicht genügen. Genauso wenig wird die Befürchtung überzeugen, dass wer sich hier und heute auf „Meinungsvielfalt“ beruft, sie sobald wie ihm nur möglich abschaffen wird. Richtig bleibt ja trotzdem, dass bestimmte extrem-rechte Diskurs- und Denkoptionen heute durch diverse „Unvereinbarkeitsbeschlüsse“ auf vielen Ebenen ausgeschlossen sind – und hoffentlich auch bleiben. Aber impliziert das das Eingeständnis einer Bankrotterklärung von „Pluralismus“ und „Meinungsvielfalt“?
Vielleicht hilft da ja die Supermarkt-Metapher. Nein, dürfen wir dann vermuten, es ist kein grundsätzliches Indiz einer defizitären Grundversorgung, es ist kein Zeichen einer nie wieder gutzumachenden Leere, kein Hinweis auf eine prinzipielle Unvollständigkeit und keine tendenziöse Konsumzwang-Bevormundung, wenn mal ein Regal leer bleibt und bestimmte Produkte nicht (mehr) lieferbar sind. Neu-rechtes „Gedankengut“ (wie das Konglomerat aus meist relativ altbackenen Ingredienzien ja warengerecht genannt wird) ist zurzeit leider „aus“, etwa so, wie man ja auch keine Gänsestopfleber, keinen Labskaus, keinen pfälzischen Saumagen mehr im Supermarkt finden wird (was ja nicht ausschließt, dass die Ware in bestimmten, darauf spezialisierten Nischen-Feinkost-Läden, etwa in Schnellroda oder im „Buchhaus Loschwitz“, noch zu finden ist, dort natürlich so „frisch wie eh und je“…).
Freilich wäre das Bild völlig falsch, wenn es als Plädoyer für einen mehrheitsfähigen Konsens-Geschmack und gegen eine gourmetbewusste Minderheiten-Kulinarik missverstanden würde. Es geht vielmehr um die Anerkennung der Tatsache, dass es auch in einer grundsätzlich „offenen Gesellschaft“ relativ gut begründbare Leerstellen und Fehlanzeigen im politischen Selbstbedienungsladen geben darf. „Jedem Tierchen sein Plaisirchen“ zu versprechen, war noch nie sinnvoll. Das wird nicht nur von prinzipiellen, historischen und ethischen Erwägungen abhängen (man könnte zum Beispiel darauf verweisen, dass man mit der Produktpalette vom Typ „Nation“, „Heimat“ oder gar „Rasse“ eher negative Erfahrungen gemacht hat und daher in Zukunft gern darauf verzichtet), sondern auch von pragmatischen und situativen Erfordernissen: Bestimmte Waren passen eben gerade nicht ins Sortiment, wie Christstollen zu Ostern oder frische Erdbeeren im Winter. Das heißt dann aber vor allem auch, dass sich die Begründungspflicht umkehrt: Unsere politische Kultur muss sich nicht den Vorwurf der Unvollständigkeit und der willkürlichen Angebotsreduzierung gefallen lassen, sondern der unzufriedene „Konsument“ muss begründen, warum und wofür er gerade dieses selten gewordene, aus guten Gründen aussortierte (zum Beispiel weil als gesundheitsgefährdend eingestufte) Produkt braucht. Und warum es auch für alle anderen wieder im Angebot sein sollte. Nur damit die Regale alle schön voll sind? Das reicht nicht – auch wenn uns, wie man gerade wieder beobachten kann, wenig so sehr in Angst und Schrecken versetzt wie ein paar leere Regalmeter.
Titelbild:
| Marc van der Chijs / Flickr.com (CC BY-ND 2.0) | Link
Bilder im Text:
| Anaterate / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
| Annca / Pixabay.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (mit Bildunterschriften): Dr. Joachim Landkammer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm