ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Da ist auf einmal so viel Welt. So viel, dass man sich fragt, ob sie da überhaupt sein soll und ob man selbst sie betreten darf. Zumindest hier, wo ich wohne, ist das so, am Bodensee, der zur Corona-Zeit menschenleer war und nun plötzlich von den saisontypischen Touristen geflutet wurde. Die Zeit der Corona-Lockerungen erinnert mich an Platons Höhlengleichnis: an den lange Gefesselten, der nichts kannte als die auf eine Höhlenwand geworfenen Schatten der wahren Welt – und dann plötzlich nach draußen gelassen wird. Viel zu viel Welt. Er kann sich kaum daran gewöhnen.
Die Stoßrichtung dieses Homeoffice-Gleichnisses ist allerdings völlig anders als bei Platon. Der Philosoph sah die gewöhnliche Welt des politischen und gesellschaftlichen Alltags als die bloßen Schatten an. Was sich mit gelösten Fesseln erschloss, war die Welt der Wahrheit und des Geistes.
Was dem lange an die Höhle des Homeoffice und die Schatten der Videokonferenzen gefesselten Bodenseeanwohner in Form von Seglern, Paddlern, Schwimmern, Kitesurfern, vollen Uferpromenaden und Kursschiffen, Cafés und Menschenmassen auf dem Markt entgegenprallt, ist hingegen gerade der leuchtende und überwältigende Alltag. Der Alltag, der hinter einer von Wissenschaftern anhand von Fakten, Berechnungen und gesichertem Wissen geregelten Ordnung verschwunden war.
Platons Höhlengleichnis findet sich im Dialog „Politeia“ – meistens übersetzt als „Der Staat“, obwohl das Wort eigentlich eher die Ordnung des Staates, die Staatsform bedeutet und der Staat zudem eine Stadt von der Größe einer heutigen Kleinstadt oder kleinen Mittelstadt war: eine Polis. Die gute Ordnung dieser Polis wollte Platon durch „Wächter“ sicherstellen, philosophisch gebildete Wissende, die die Stadt von den Fesseln der bloßen politischen Meinungen lösen und zur Sonne des wahren Wissens führen sollten.
Vielleicht hat uns die Corona-Zeit eine Ahnung davon gegeben, wie ein Wächterstaat heute aussehen würde, wenn er wirkliche Staaten umfasste und von der modernen Wissenschaft bestimmt wäre. Darüber nachzudenken, ist wichtig, denn ein solcher Wächterstaat könnte Schule machen: Am Horizont warten schon neue Krisen – Wirtschaftskrisen, Klimakrisen, Migrationskrisen, Staatskrisen, militärische Konflikte – und vielleicht ließe sich auch hierauf jeweils mit einer Unterwerfung der Politik unter die wissenschaftliche Vernunft reagieren.
Dieser Weg könnte gegenwärtig umso näher liegen, als diejenigen Staaten, die alternative Lösungen gesucht haben (zum Beispiel Brasilien oder die USA oder anfangs Großbritannien), dabei eine nicht immer glückliche Figur gemacht haben.
Bis jetzt haben sich zwar alle Versuche, Wächterstaaten zu errichten, als Desaster erwiesen – angefangen bei Platons eigenem unrühmlichem Experiment in Syrakus bis zum real existierenden Reißbrett-Sozialismus der UdSSR. Aber vielleicht ist die moderne Wissenschaft mit ihrem enormen digitalen Empowerment ja so weit, dass der Wächterstaat zumindest in Ausnahmesituationen funktionieren könnte: Dann also, wenn einzelne große Herausforderungen gemeistert werden müssen – und nicht viele kleine gleichzeitig. Im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte ließe er sich dann vielleicht auch für Letztere einführen.
Um dieses Gedankenspiel zu verfolgen, muss man sich über die Bedeutung der Ausnahmesituation verständigen. Die massgebliche Theorie zum Ausnahmezustand hat der deutsche Rechtsphilosoph Carl Schmitt vor fast hundert Jahren entwickelt. Schmitt machte den Ausnahmezustand zum Ausgangspunkt seiner „Politischen Theologie“. Der berühmte erste Satz dieses Werkes lautet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, das heißt, wer Recht zu setzen und außer Kraft zu setzen in der Lage ist.
Der Umkehrschluss liegt nahe, dass Ausnahmezustände immer dazu neigen, rechtsstaatliche Regeln ausser Kraft und an ihre Stelle bloße Souveränität zu setzen; tatsächlich wurde Schmitt zu einem entscheidenden Vordenker der Nationalsozialisten, die genau dieses Mittel einsetzten.
Nun erweist sich eine solche Theorie für unsere Situation allerdings zunächst nur als teilweise tauglich. Aus juristischer Perspektive handelt es sich bei den Corona-Verordnungen nicht um einen Ausnahmezustand – die Rechtsordnung ist nicht außer Kraft gesetzt, sondern es wird lediglich eine Güterabwägung zwischen Grundrechten getroffen.
Doch lässt sich Schmitts Theorie auch politisch weiter auslegen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben argumentierte etwa in seinem Buch „Ausnahmezustand“ von 2003, dass auch moderne Demokratien von Ausnahmezuständen bedroht seien, in denen mit ungesetzlichen Gesetzen die Legislative entmachtet und die Exekutiven die Souveränität gewinnen würden. Agamben bezog sich damals auf die Zeit unmittelbar nach dem 11. September 2001. Aber auch die Corona-Maßnahmen betrachtete er in diesem Licht und beschrieb eindrücklich, mit welcher Leichtigkeit selbst die elementarsten Rechte geopfert werden konnten.
Allerdings ist auch die Replik des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy ernst zu nehmen, der Agamben entgegenhielt, dass die Regierungen der Gegenwart trotz all ihren Massnahmen nicht die selbsternannten Souveräne, sondern nur die ausführenden Organe der Krise seien: einer Krise der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technologie und menschlichem Körper, die sowohl von biologischen Viren als auch von sich viral verbreitenden Nachrichten ausgelöst werde.
Beim gegenwärtigen Ausnahmezustand ist Souveränität also vielleicht gar nicht mehr der entscheidende Punkt. In der Tat scheinen eigentlich nur Verschwörungstheoretiker in den Corona-Maßnahmen eine Selbstermächtigung der Exekutiven ausmachen zu können. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie recht hätten mit der Annahme, die gegenwärtigen Maßnahmen seien ungerechtfertigt und überzogen, wirkt gerade ihre bewusst oder unbewusst an Schmitt angelehnte Schlussfolgerung gestrig: Dass es sich nämlich bei der freiwilligen Einschränkung ihres Handlungsspielraums und also der Selbstunterwerfung unter das Wissen der Epidemiologen in Wahrheit um eine Selbstermächtigung handle, ist fast so absurd wie die Annahme, dass diese Wissenschafter die Handlanger dunkler Mächte seien.
Der Denkfehler liegt in der Übertragung von Schmitts Souveränitätstheorie auf die Gegenwart, für die sie – zumindest in funktionierenden Demokratien – unangemessen ist. Besser zur heutigen Situation passt die Theorie des weitgehend in Vergessenheit geratenen amerikanischen Essayisten Randolph Bourne. Sein (im Titel an Platon erinnerndes) Werk „The State“ („Der Staat“) ist wie Schmitts „Politische Theologie“ als direkte Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden, allerdings aus gänzlich anderer Perspektive.
Bourne hatte als Heranwachsender erlebt, wie mit dem Eintritt der USA in den Krieg eine Unmöglichkeit nach der anderen geschah: Die florierende global verflochtene Wirtschaft wurde zugunsten einer nationalistischen geopfert; die Proletarier aller Länder vereinigten sich nicht, sondern schossen einander tot; die humanitäre und humanistische Wissenschaft vergaß sich und unterwarf sich einem ihr eigentlich fremden Ziel; die demokratischen Interessen- und Meinungsunterschiede verschwanden, und die plurale Gesellschaft verwandelte sich in eine gigantische Gemeinschaft: den „State“, dessen Symbole, Ziele, Interessen auf einmal heilig zu sein schienen.
Diese Beobachtung brachte Bourne zu der Vermutung, dass der Staat in Friedenszeiten eigentlich krank sei und nur in Kriegszeiten gesunde. Bourne erklärte diese Gesundung geschichtlich aus der Herkunft der Staatsgebilde aus Verteidigungsbündnissen. Doch erlaubt die Corona-Erfahrung eine etwas weniger bellizistische Deutung.
Auch am Coronavirus sind schließlich in Bournes Sinne Staaten „gesundet“: Sie regulierten das öffentliche Leben auf eine Weise, die man ihnen nie zugetraut hatte, ihre Regeln reichten bis in die Familien und die Körpersprache der Menschen hinein, sie regelten Reisen, Kontakte, Zusammenkünfte und Supermarktschlangen. Und ihre Regulierungen wurden auf eine Weise ohne Widerspruch befolgt, wie man dies von pluralen Gesellschaften eigentlich nicht kennt.
Nüchtern könnte man Bournes „Staat“ daher als diejenige Institution verstehen, die zwar weiß, dass Gesellschaften keine Gemeinschaften sind – aber sie trotzdem als solche zu organisieren trachtet. Die inhärente „Krankheit“ des Staates beschreibt auch ziemlich genau dasjenige Problem, dem sich Platon in seiner „Politeia“ widmete. Bournes „kranker“ Staat hadert damit, dass er über die als Gemeinschaft organisierbare Dorfgrösse hinausgewachsen ist. Für Platon war die Polis ein zu plurales, das heisst zu sehr von meist falschen Meinungen und daraus erwachsenden Konflikten beherrschtes Gebilde, das dem einen Wissen und der einen Wahrheit unterworfen und so geeint werden musste.
Insofern erinnert die Art und Weise, in der die Staaten in der frühen Corona-Zeit qua Ausnahmezustand „gesundeten“, nun wieder direkt an Platons Wächterstaat: Die Ausnahmemaßnahmen verfolgten eine Außerkraftsetzung der aufklärerischen Allianz von Demokratie und (wissenschaftlicher) Vernunft – und sie brachten Letztere auf Kosten der Ersteren zu Geltung.
Sollte diese Entwicklung anhalten und würde die rationalisierende Form des Ausnahmezustands auch auf Klimakatastrophen, Migrationsnotstände, Wirtschaftskrisen oder geostrategische Probleme übertragen, dann wäre dies ein später Triumph der platonischen Theorie. Umso dringlicher stellte sich aber die Frage, ob man auf diese Weise an die Sonne geführt würde – oder eher in eine neue Höhle.
Dieser Artikel ist am 10. April unter dem Titel „Sind wir unterwegs zu Platons Wächterstaat?“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
| Joshua Sortino / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Devon Janse van Rensburg / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Ricardo Gomez Angel / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm