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Dr. Angelica V. Marte ist ausgebildete systemische Beraterin, Wissenschaftlerin und Führungskräfteentwicklerin. Sie arbeitet seit 1996 mit internationalen Unternehmen und Universitäten als Expertin für die Themen „Global Leadership“, „Networks“ und „Diversity“ und als Executive Coach. Sie publizierte und forschte dazu unter anderem an der Universität Witten/Herdecke, der MIT Sloan School of Management und der Universität Zürich. Aktuell ist sie Unternehmerin sowie Gastwissenschaftlerin und Senior Lecturer am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität und an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Sie engagiert sich als Beirätin an der Donau-Universität Krems (Department für Interaktive Medien), im Supervisory Board des Schweizer Beratungsunternehmens DOIT- Smart und seit 2013 als zertifzierte Lehrtrainerin für systemisches Coaching am Zentrum für systemische Forschung und Beratung (zfsb) in Heidelberg.
Plötzlich scheint ein Ruck durch die Menge zu gehen. Von einem Moment auf den anderen herrscht wieder Anspannung. Dutzende Feuerläufer haben das Ritual in den späten Nachtstunden bereits hinter sich. Doch dieser Feuerläufer unterscheidet sich von allen anderen schon auf den ersten Blick. Seine Stirn wird von einer weißen Bandana geschützt. Das bei Straßengangs und Rappern so beliebte Kopftuch kommt vom Hindi-Wort „bandana“ für „binden“. Seine Augen sind hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Und den Mundbereich schützt ein feuerrotes Halstuch. Der junge Mann kommt am Ende einer Hindu-Gruppe, trägt aber die weiße Zeremonienkleidung der Buddhisten.
Die Zuseher erkennen sofort, dass das keine modischen Accessoires sind. Gebannt starren sie auf den rund 15 Meter langen Teppich von glühenden Kohlen. Mit den Feuerläufen von Selbstfindungsseminaren hat das hier nichts gemein. Mehr als vier Stunden brannte ein gewaltiger Holzstapel aus speziellen Bäumen. Die meterhohe Feuersbrunst ließ es nicht zu, sich näher als zehn Meter heranzuwagen. Wer hier zumindest seine Gesundheit für den aus Feuer geborenen Gott aufs Spiel setzt, hat einen triftigen Grund. Zumeist ist es die Erfüllung eines Gelübdes. Was den jungen Mann dazu veranlasst hat, bleibt sein Geheimnis. Aber angesichts dessen, was nun folgt, muss es ein wichtiger Wunsch gewesen sein.
Viel langsamer als alle anderen vor ihm schreitet er durch die Glut. Und dann das Unglaubliche. Genau an der Stelle, wo die meisten anderen zu laufen begannen, weil das zur Kohle gewordene Feuer ihre Füße zu verbrennen drohte, hält er inne, kniet sich nieder, versenkt seine ungeschützten Hände in den glühenden Kohlen und berührt sie mit seiner Stirn. Dann erhebt er sich ohne Eile und geht den Rest des Flammenweges. Ein Raunen geht durch die Menge. Begleitet von ekstatischen „Haro Hara“-Rufen. „Haro Hara“ bedeutet: Allmächtiger Gott! Beende unser Leiden und gewähre uns Erlösung!
Die gefährliche Feuerprobe, der sich in dieser Nacht Hunderte unterziehen, hat nicht nur religiöse Bedeutung. In seinem Feuer vereint Gott, der keine Ungleichheit duldet, die verschiedenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppen des Landes. Vor allem die mehrheitlich hinduistischen Tamilen, die sich gerne mit Tigern identifizieren, und die mehrheitlich buddhistischen Singhalesen, was so viel wie „Löwenmenschen“ heißt. Menschliche Tiger und Löwen bekämpften sich hier bis 2009 in einem blutigen Bürgerkrieg. Der fast drei Jahrzehnte währende Konflikt endete in einem Blutbad zur militärischen Vernichtung der sogenannten „Tamil Tigers“. Aus der Asche dieser verheerenden Auseinandersetzung wieder so etwas wie einen prosperierenden Staat mit einer einigermaßen stabilen sozialen Einheit zu schaffen, stellt auf lange Zeit eine ständige Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft dar. Kataragama ist so etwas wie ihr Sinnbild. Das weiß kaum jemand so gut wie Premakumara de Silva, Professor für Sozialanthropologie an der Universität von Colombo: „Kataragama ist ein Ort des Friedens, aus dem die politische Führung Sri Lankas eine Lehre ziehen sollte. Ich denke, Kataragama liefert ein Zukunftsmodell für Sri Lanka. Es beinhaltet Frieden und Liebe, Güte und harmonisches Zusammenleben.“
Vielleicht war das physiologisch kaum erklärbare Niederknien des jungen Mannes im Glutteppich mehr als die Erfüllung eines persönlichen Gelübdes: Wer seine Stirn und Hände in heißer Kohle versenkt, aus der immer noch Flammen züngeln, zeigt nicht nur Stärke, sondern gibt sie auch. Eine Kraft, die der Inselstaat braucht, um die tiefen sozialen Spaltungen zu überwinden. Mit dem angedeuteten Feuertod geben sich die Menschen völlig der Gottheit hin, die hier verehrt wird: Kataragama, wie ihn Buddhisten nennen, oder Skanda nach hinduistischer Überlieferung. Die lodernden Flammen gedenken seiner Geburt aus dem Samen des Feuergottes Agni.
Aber das Kataragama-Fest erinnert nicht an die Geburt der Gottheit, sondern an eine Liebesgeschichte. Sie steht für die Vereinigung der ursprünglichen Bewohnerinnen der Insel, den indigenen Veddas, mit allen späteren Einwanderern. Das zweiwöchige Festival folgt diesem Narrativ. Abend für Abend reitet Kataragama symbolisch auf dem Rücken des Königselefanten zu seiner Geliebten Valli – der Überlieferung nach eine Vedda-Prinzessin. Aber nur vor dem einmaligen Feuerlauf wird das Sakralobjekt, das ihn repräsentiert, ins Gemach der Geliebten getragen. Angehörige der Veddas begleiten den aus Indien stammenden Königselefanten, genannt Nadungamuwa Raja, bis zu Vallis Tempelhaus. Die zweistündige Prozession von Kataragamas Tempel im Innersten des multireligiösen Bezirks bis zum gut einen Kilometer entfernten Valli-Tempel bietet ein farbenprächtiges Schauspiel, das selbst die Vorstellungskraft eines Bollywood-Regisseurs übersteigen dürfte.
Begleitet wird Nadungamuwa Raja, reich geschmückt mit der Last von unzähligen Blumengestecken, von rund 15 weiteren Zeremonialelefanten. Um diese wirbeln Trauben von Tanzgruppen in Tierkostümen, Akrobaten, verkleidete Dämonen und Gottheiten in einem Panoptikum der hinduistischen Mythologie. Feuerschwinger und Peitschenknaller sollen Kataragama den Weg frei machen. Sie symbolisieren Blitz und Donner, die Waffen des Gottes, der schon bald in seiner weltlichen Gestalt erscheint. Eine Heerschar von buddhistischen Flaggenträgern begleitet seinen Reitelefanten. Das weist auf die Deutungshoheit der buddhistischen Elite auch bei diesem ursprünglich hinduistischen Fest hin. Hindus und Buddhisten haben völlig unterschiedliche Vorstellungen über den Gott und verehren ihn unter verschiedenen Namen. Doch der buddhistische Name Kataragama gab schließlich dem Ort seinen heutigen Namen.
Auch wenn eine halbe Million Pilger – verteilt auf zwei Festivalwochen – kaum kontrollierbar sind, folgt der Ablauf einer festgelegten Choreografie. Der Machtkampf zwischen buddhistischen Singhalesen und hinduistischen Tamilen hält sich hier zwar im Hintergrund, ist aber deshalb nicht ausgesetzt. Die Bevölkerungsmehrheit der Singhalesen versucht seit der Unabhängigkeit vor mehr als 70 Jahren so etwas wie eine buddhistisch-singhalesische Leitkultur durchzusetzen. Die dazugehörige Politik war der Anlass für die Eskalation der Gewalt im Bürgerkrieg. Kataragama mit seinen Ursprüngen im Glauben der indigenen Veddas und der tamilischen Einwanderer bleibt von der buddhistischen Vereinnahmung keineswegs verschont. Der weitläufige Tempelbezirk steht unter Verwaltung des buddhistischen Klerus. Soziologen nennen diesen Prozess „Buddhisierung“. Damit ist keine Form der Missionierung gemeint, sondern der politischen Herrschaft auch im Bereich der Religion.
Seit Jahrhunderten findet ein ständiges Tauziehen zwischen dem buddhistischen Mönchsorden und der Hindu-Priesterschaft statt. Dabei geht es um die Frage der wahren Identität der Gottheit, der angemessenen Rituale und Zeitpunkte für die jeweiligen Zeremonien. Nur vor dem Kali-Tempel auf dem Weg der Prozession von Kataragama (oder Skanda) verneigen sich alle. Die Hindu-Göttin Kali gilt schließlich als Herrin über die Zeit, die am Ende nicht nur Dämonen tötet, sondern alle Lebenden. Eine mit Schlagstöcken bewaffnete Polizeitruppe trennt die buddhistische Elite in ihren aristokratischen Festgewändern von den Hindu-Pilgern in ihren einfachen roten Saris und Lungis. Ein klares Zeichen dafür, wer hier das Sagen hat. Unterstrichen wird ihre Oberhoheit von der Rangfolge: Unmittelbar hinter Nadungamuwa Raja geht die buddhistische Elite, dahinter die Hindu-Priester und am Ende die Veddas. Nur der Feuergott Agni kennt keinen Unterschied. Die von beiden Gruppen verehrte Gottheit Kataragama (oder Skanda) ist ein Gott der Gleichheit. Auf den glühenden Kohlen sind alle gleich verletzlich. Und damit. Selbst wenn auch diese Tradition Gegenstand der kulturellen Aneignung wurde, wie Professor Premakumara de Silva betont:
„Der Feuerlauf ist eigentlich eine Tamil-Hindu-Praxis, die Singhala-Buddhisten übernommen haben. Dahinter steht die Bhakti-Religiosität der Hindus, die sich Buddhisten nunmehr zu eigen machen. All das geschieht sehr harmonisch. Hindus und Singhalesen begehen diesen Feuerlauf gemeinsam. Es geht dabei um die völlige Hingabe an Gott.“
Im Feuerlauf manifestiert sich die ultimative Opferbereitschaft des hinduistischen Bhakti-Glaubens. Bhakti beschreibt eine Form der Gottesliebe, die auf intensivem Opfermut beruht. Aber Opfer wofür? Das Narrativ der Kataragama Perahera gibt die Antwort: für die Liebe. Hier personalisiert durch Kataragama (oder Skanda) und Valli. Es handelt sich um eine aus vielen Gründen verbotene Liebe: Kataragama war schließlich bereits mit einer Hindu-Göttin verheiratet, als er Valli zur Geliebten nahm. Zudem ist sie als Vedda-Prinzessin weltlicher Herkunft. Der Feuerlauf hat eine Kernbotschaft: Nur für die Liebe lohnt es sich durchs Feuer zu gehen. Denn sie ist Grundlage jeder Religion und jedes glücklichen Zusammenlebens. Gemäß dem Bhakti-Glauben besitzt nur die Liebe die Kraft, Unterschiede zu überwinden und Verschiedenes zu integrieren. Jeder Tag der Perahera und jede Prozession von Kataragama zu seiner Valli erneuert diesen Gehalt des multireligiösen Festes. Im krisengebeutelten Sri Lanka hat das vielleicht mehr als anderswo politische Relevanz. Nach dem Ende des offenen Bürgerkrieges (von 1983-2009), der die Wirtschaft weitgehend zum Erliegen brachte, bleibt der soziale Friede brüchig: Gewaltausbrüche, Terroranschläge und der völlige Einbruch des wichtigen Tourismussektors infolge von Covid-19 verlangen der Leidensfähigkeit der Bevölkerung alles ab.
Sozialer Friede und der eigentliche Gedanke der Nächstenliebe war der Kerngehalt unseres Gesprächs mit Reverend Jude Raj Fernando, dem Rektor des berühmten St. Anthony’s Schrein in Colombo. Diese katholische Kirche ist deshalb bekannt, weil täglich Hindus vom nahegelegenen Hindu-Tempel und sogar einige Buddhisten zur Messe kommen. Der Heilige Antonius gilt überkonfessionell als Schutzheiliger, um Verlorenes wieder zu finden. In Sri Lanka sind es der soziale Friede, die Toleranz, die wechselseitige Fürsorge und der Respekt, die in der langen Zeit des Bürgerkrieges verloren gingen. Daher ist es wohl kein Zufall, dass gerade dieser Ort ein Angriffsziel der Osteranschläge von 2019 war. Vater Fernando, wie er hier von allen genannt wird, überlebte den Anschlag, der 55 Menschenleben forderte. Er gilt als entschiedener Vorkämpfer für eine Form der „Nächstenliebe“, die eben nicht nur den unmittelbar Nächsten (Verwandten) meint, sondern jeden „Fremden“. In der katholischen Nachrichtenagentur beschrieb er seine ersten Empfindungen: „Ich habe niemals zuvor ein solches Geräusch gehört. Meine ersten Worte nach den Bombenexplosionen waren: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
In Sri Lanka war das vergangene Jahrzehnt von einem starken wirtschaftlichen Aufschwung geprägt, nicht zuletzt durch die Investitionen der wohlhabenden, vor dem Bürgerkrieg geflohenen Auslands-Singhalesen. Tourismus und Exportwirtschaft gelten als Schlüssel für den deutlich sichtbaren Neuanfang. Colombo wurde schon mitunter als Klein-Dubai bezeichnet, nicht zuletzt wegen dem weithin sichtbaren Boom in der Bauwirtschaft. Den Luxushotels konnte man regelrecht beim Wachsen zusehen. Nicht zuletzt wegen der – Tag und Nacht sowie bei Flutlicht arbeitenden – indischen Kontraktarbeiter.
Doch die Rückschläge der vergangenen drei Jahre, seit wir den vereinten Feuerlauf der Tiger- und Löwenmenschen in Kataragama erleben durften, erfordern fast schon übermenschliche Kraftreserven. Immer wieder schüren verantwortungslose Politiker und religiöse Führer ethnisch und religiös aufgeladene Konflikte. Im März 2018 zog ein marodierender buddhistischer Mob durch die Straßen der alten Königsstadt Kandy, um sich wegen eines singulären Vorfalls an allen Muslimen zu rächen. Zahlreiche Todesopfer und niedergebrannte Geschäfte von muslimischen Händlern blieben zurück.
Nur wenige Tage davor strahlte der ORF unsere hoffnungsvolle Reportage über Kataragama im Religionsmagazin „Orientierung“ aus. „Wenn der Kriegsgott Frieden gibt“ war ihr durchaus ambivalenter Titel. Am Ostersonntag 2019 versank Sri Lanka noch tiefer im Sumpf der Gewalt. Eine Terrorzelle von IS-Sympathisanten griff in einer konzertierten Aktion vier touristische Ziele und drei christliche Kirchen an. Mit den betroffenen Hotels wurde bewusst die wirtschaftliche Basis des Wirtschaftswachstums angegriffen. Ursprünglich hatten die Attentäter buddhistische Tempel als Ziele vorgesehen und nicht Kirchen. Die komplexen Konfliktlinien verlaufen lokal nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen Buddhisten und Muslimen. Doch Massaker an Christen ausgerechnet zu Ostern erzeugen die größtmögliche Propagandawirkung für den IS, in dessen Namen die Gruppe 258 Menschen ermordete. Auffallend dabei, dass auch einige Muslime unter den Opfern waren. Denn das Cinnamon Grand Hotel, eines der schönsten und teuersten Colombos, wird stark von Gästen aus dem arabischen Raum frequentiert. Auch das zeigt das eigentliche Anschlagsziel: die Zerstörung von Toleranz und friedlichem Miteinander.
Kataragama (oder Skanda) scheint machtlos gegen menschliche Unvernunft und Hass. Götter – so heißt es hier – sprechen alle Sprachen. Sie sind weder Singhalesen noch Tamilen, weder Buddhisten noch Hindus; und sie haben Respekt für alle Glaubensformen, auch jene des Islams und des Christentums. Daher ist es kein Zufall, dass das Kataragama-Festival jeden Juli im Schrein des muslimischen Sufi-Ordens beginnt. Würdenträger aller Konfessionen kommen hier zusammen, um einer Zeremonie beizuwohnen, die in der heutigen Welt Seltenheit, wenn nicht absolute Einzigartigkeit besitzt. Das Hissen der heiligen islamischen Flagge im Heiligtum des sufistischen Islam eröffnet das mehrwöchige Fest im Namen der Toleranz. Unmittelbar neben dem hinduistischen Valli-Tempel zeigen Angehörige aller großen Religionen, dass es auch anders geht.
Das macht Kataragama – als Pilgerort – so besonders. Hier wollen die islamischen Mystiker der lokalen Sufi-Gemeinschaft demonstrieren, dass der Islam eine Religion des Friedens, der Toleranz und vor allem des Mitgefühls ist. Auch deshalb werden hier die Ärmsten der Armen bis zu zwei Wochen lang beherbergt und verköstigt. Das Geld kommt von wohlhabenden muslimischen Händlern, die damit ein Zeichen setzen. Die Perahera von Kataragama ist ein soziales Ereignis – und Realität gewordene Utopie. Man fühlt sich an einen fiktiven Ort in ferner Zeit versetzt, eine Traumwelt, in der Menschen sich nicht nur tolerieren und respektieren, sondern sich Liebe schenken.
Für Hussein Kadir Bava, den Kalifen des hiesigen Sufi-Ordens Refai Faqir, ist es eine Selbstverständlichkeit, für die er den Zorn vieler orthodoxer Muslime in Kauf nimmt: „Alle Menschen sind doch gleich, ob sie nun Buddhisten, Hindus, Christen oder Muslime sind. Gemäß den Lehren des Sufismus spielen der soziale oder religiöse Hintergrund keine Rolle. Wir behandeln alle als Brüder und Schwestern, ohne jeden Unterschied. Sie mögen sich in ihrem Denken, ihrer Kleidung, ihrer Sprache und ihrem Verhalten unterscheiden. Aber nach unseren Überzeugungen ändert das nichts an ihrer grundlegenden Gleichheit.“
Das sieht man innerhalb der Mauern des Moscheekomplexes mehr als deutlich. Es ist auch ein multireligiöser Campingplatz, wo Hunderte Pilger bis zu zwei Wochen lang leben und versorgt werden. Das hat nicht nur mit Verköstigung in Form von Almosen – mehrmals täglich –, sondern auch mit einer Legende zu tun, die überkonfessionell geteilt wird. Gemäß der Lehre des hier verehrten Sufi-Heiligen Palkudi Bava soll die Quelle der Unsterblichkeit im Moscheebezirk zu finden sein. Entdecken kann sie freilich nur, wer in seinem Herz und seiner Seele danach gräbt, nicht in der Erde, betont der Kalif des Sufi-Schreins. Darin zeigt sich die Anschlussfähigkeit der sufistischen Glaubenssätze an die Lehren Buddhas und jene der großen Hindu-Yogis.
Sri Y.M.S. Sivasandri, ein hochrangiger und „Swami Yogi“ genannter Hindu-Priester, zieht inmitten der singenden und tanzenden Sufis zum Grabesschrein von Palkudi Bava. Mit seinem orangen Yogi-Gewand betet er inmitten der in den islamischen Farben grün-weiß gekleideten Fakiren des Sufi-Ordens – und ist dabei das genaue Gegenteil eines Fremdkörpers. Die Kultstätte des Sufi-Islam versteht er als geistige „Heimat“.
„Ich komme schon seit weit mehr als 30 Jahren in den Schrein. Palkudi Bava verbrachte hier seine Zeit mit Meditation. Seit langer Zeit kommen Gläubige aller Religionen, um Seelenfrieden zu erlangen. Denn dieser Ort hat eine starke Energie. Nicht nur für Muslime, auch für Hindus, Buddhisten und Christen ist es ein Ort der Gemeinschaft. Deshalb komme auch ich hierher, weil mir genau das gefällt. In allen Religionen geht es doch um göttliche Liebe. Das schließt die Menschen, aber auch alle anderen Lebewesen mit ein.“
Westliche Touristen sah man auch in Kataragama schon vor Covid-19 kaum. Dazu strapaziert das Pilgerfest die Komfortzone der meisten Pauschaltouristen wohl zu stark. Deren Ziel ist die viel berühmtere Perahera von Kandy. Sie ist Fixpunkt im Kalender der großen Reiseveranstalter und findet sogar im heutigen Covid-Jahr statt (vom 25. Juli bis 4. August). Perahera bedeutet die rituelle Prozession einer heiligen Reliquie. Bei der berühmtesten Perahera auf Sri Lanka in Kandy geht es um das wichtigste buddhistische Heiligtum des Landes. Auf dem Rücken eines gewaltigen Tempelelefanten wird angeblich der linke Eckzahn Buddhas in einer Schatulle von rund 70 Elefanten durch die Stadt getragen. Es bleibt ein Geheimnis, ob der Zahn sich tatsächlich in dem reich geschmückten Sakralobjekt befindet.
Die Perahera findet nicht zufällig zu Beginn der Regenzeit statt. Die Verehrung Buddhas soll im landwirtschaftlich wichtigen Inselinneren Segen in Form von Regen bringen. Nach dem Volksglauben besitzt sein Zahn die Macht des Regenmachens. Für Premakumara de Silva wird er aus diesem Grund in Kandy zur Schau getragen. Boomt der Tourismus, so ist es ein Geldsegen, der über der immer noch wohlhabenden früheren Königsstadt niedergeht. In ihrer wechselvollen Geschichte erlebte die Stadt viele Herrscherwechsel zwischen buddhistischen Singhalesen und tamilischen Hindus. Darin liegen die tieferen Wurzeln heutiger Konflikte. Vom Tourismus erhofft man sich hier auch einen wirtschaftlichen Impuls zur nationalen Versöhnung. Am Geldregen haben schließlich alle gleichermaßen Interesse. Doch die Grundlage dafür ist wie überall soziale Harmonie, Sicherheit und Stabilität.
Eine gewaltige Detonation erschüttert den Tempelbezirk in Kandy. Erster Gedanke: ein Terroranschlag. Aber niemand scheint davon Notiz zu nehmen. Unser fragender Blick erhält eine klärende Antwort: Das ist der allabendliche Böllerschuss aus einer uralten Kanone, der den Beginn jedes Elefantenumzuges markiert. Die drei mächtigsten Elefanten werden direkt aus dem Tempelinneren herausgeführt. Sie werden Abend für Abend geweiht und mit Festgirlanden und Lichterketten geschmückt. All das gibt der immer lauter werdenden Kritik von Tierschützern reichlich Nahrung. Detonationen, die wie Bombenexplosionen klingen, allgegenwärtige Feuertöpfe und die Geräuschkulisse aus Trommeln, Fanfaren, Gesängen und einer Vielzahl von Schlaginstrumenten sprechen ebenso wenig für artgerechte Tierhaltung wie die schweren Ketten um die Elefantenbeine oder die „Ankus“ genannten Elefantenhaken mit Eisenspitzen.
Die Kulturgeschichte der engen Mensch-Elefant-Beziehung reicht Jahrtausende zurück. Elefantenumzüge sind zwar jüngeren Datums, in Sri Lanka sollen sie jedoch seit dem 4. Jahrundert zu Ehren des heiligen Zahns stattfinden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass lokale Perspektiven dem Standpunkt von internationalen Tierschutzorganisationen einiges entgegensetzen. Für den Sozialanthropologen Premakumara de Silva ist die ganzheitliche Sicht wichtig:
„Elefanten werden in Sri Lanka bestens versorgt. Sie werden täglich gebadet und gut genährt. Nicht nur von ihren Besitzern, sondern auch von den Festivalbesuchern. Diese geben ihnen zu essen und erweisen ihnen so Respekt. Umgekehrt respektieren die Elefanten auch die Menschen. Das ist eine sehr bemerkenswerte Beziehung, besonders während der Festivals. Elefanten werden in Sri Lanka jedenfalls äußerst respektvoll behandelt.“
Das ist auch für die Anliegen des Tierschutzes nicht bedeutungslos. Zu Mensch-Elefant-Konflikten gibt kommt es in Sri Lanka häufig, weil noch viele Wildtiere außerhalb der Nationalparks leben. Wenn sie sich an der Ernte vergreifen oder mitunter auch Menschen verletzen oder töten, dient das Bewusstsein vom heiligen Tier auch ihrem eigenen Schutz. Trotzdem waren die Proteste auch in Sri Lanka so erfolgreich, dass die Naturschutzbehörde zahlreiche Perahera-Elefanten aus Tempeln und von privaten Besitzern konfiszierte. Seit 2009 benötigen alle Zeremonialtiere staatliche Bewilligungen, die nur unter strengen Auflagen erteilt werden. Dazu gehören auch Befähigungsnachweise für Mahuts, die Führer aller zahmen Elefanten.
Immer wieder kommt es in Indien und manchmal auch auf Sri Lanka zu Amokläufen von verängstigten Tieren bei Tempelfesten, die mitunter schwerwiegende Folgen haben können. Elefantenprozessionen werden mit dem Verweis auf uralte Traditionen, religiöse Verpflichtungen und nicht zuletzt ihren Marktwert im Tourismus gerechtfertigt. All das kann die Tierschutzorganisationen im In- und Ausland freilich nicht überzeugen. Sie argumentieren, dass Buddha wohl kaum einen solchen Umzug zu seinen Ehren haben wollte, und alte Traditionen ohnehin nichts begründen würden, weil ansonsten ja auch die Elefantenjagd noch erlaubt wäre. In den vergangenen Jahren hatten die Organisatoren der Perahera von Kandy erstmals Mühe, genügend geeignete Tiere zu finden. Einige lokale Zeitungen fürchteten schon ein Ende der berühmtesten Perahera und schrieben von einer Elefantenkrise in Kandy.
Dann wären als erstes die hoch spezialisierten Elefantenführer arbeitslos. Sie sind für die Sicherheit der in- und ausländischen Besucher verantwortlich. Es gilt, die Elefanten auf die spektakulären Sinneseindrücke einer Perahera und den Trubel rundherum vorzubereiten. Die Oberverantwortung obliegt Pradeep Miyanapalawa, einem eigens bestellten Kontrollorgan. Er überprüft nicht nur die Zuverlässigkeit und Erfahrung der Mahuts, sondern auch die Eignung und gesundheitliche Verfassung der Elefanten für die Anforderungen einer Perahera:
„Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Verbindung zwischen Mahut und Elefant zu erkennen. Bei dieser Mensch-Tier-Beziehung gibt es eine tiefe emotionale und geistige Ebene. Sie müssen eine richtige Einheit bilden wie enge Freunde oder Familienmitglieder. Der Elefant muss dem Mahut blind vertrauen und seine Autorität aus freien Stücken respektieren. Er darf sich nicht aus Furcht unterwerfen. Nur wenn sie sich total verstehen, lasse ich sie für die Parade zu. Wenn aus irgendeinem Grund was schiefgeht, muss der Mahut die Erfahrung mitbringen, den Elefanten unter seiner Kontrolle zu halten. Niemand darf durch Elefanten zu Schaden kommen. Aber auch die Sicherheit des Elefanten muss gewährleistet sein. Das ist die größte Verantwortung bei der Perahera und gleichzeitig meine größte Sorge.“
Bereits Stunden vor dem Beginn des Umzuges herrscht eine spürbare Anspannung in der Stadt. Mehr als 70 Elefanten im emotionalen Ausnahmezustand durch eine Stadt zu führen, birgt keine geringen Risiken. Ein einziger Amok laufender Elefant kann in der angespannten Atmosphäre das Ende der Perahera in ihrer bisherigen Form bedeuten. Für Tierschützer wäre gerade diese Konsequenz wünschenswert. Eines sollte man dabei allerdings bedenken: Für die Tempelelefanten könnte das sogar den Tod bedeuten. Sie zu ernähren, ohne die Einnahmen aus ihrer Vermietung an die Tempel, wäre für die meisten Elefantenbesitzer kaum möglich. Die Folgen sind abschätzbar. Elefanten muss man nicht töten, um sie umzubringen. Ein Mangel an medizinischer Versorgung und Verpflegung reicht.
Während einer Perahera – gleichgültig ob bei der Zahnprozession in Kandy oder beim Fest der Liebe in Kataragama – treten alle Ambivalenzen und Sorgen scheinbar in den Hintergrund. Für die Pilger zählt einzig die spirituelle Erfahrung einer Gemeinsamkeit über alle möglichen und unmöglichen Grenzen hinweg, die Menschen aus den unerfindlichsten Gründen zwischen sich einziehen. Für die TouristInnen zählen die Sinneseindrücke der exotischsten Inszenierungen weltweit. Unter dem Eindruck von Covid-19 könnte die Perahera von Kandy – zumindest einmalig – wieder eine Gestalt wie vor vielen Jahrzehnten annehmen. Ob sich dabei auch Perspektiven für eine Zeit nach dem Massentourismus eröffnen, ist wie vielerorts Gegenstand interner Debatten über alternative Formen des Reisens. In jedem Fall geht es dabei auch um die Beteiligung aller sozialen und religiösen Gruppen. Die Idee der Inklusion entfaltet gerade in Sri Lanka ein viel beschworenes Potential gegen die wiederkehrenden Ausbrüche der Gewalt.
Sri Lanka bedeutet die „ehrenwerte Insel“ in der Sprache der singhalesischen Bevölkerungsgruppe. Darunter lässt sich auch eine Bringschuld der Mehrheitsbevölkerung verstehen, die immer noch ihrer Erfüllung harrt. Die beinahe zeitgleich stattfindenden Peraheras von Kataragama und mit einigen Abstrichen auch Kandy erinnern jährlich daran. Die Minderheiten der Tamilen und Muslime fühlten und fühlen sich nicht nur bei der Namensfindung und Umbenennung des kolonialen Ceylons in Sri Lanka übergangen. Wenn pünktlich zu Prozessionsbeginn – nur Augenblicke nach dem Böllerschuss – der Regen einsetzt, betrifft der Segen alle Teile der Bevölkerung.
Die nur mit offenen Ohren hörbare Botschaft der Elefantenprozessionen beinhaltet einen Appell zur oftmals beschworenen, aber selten gelebten „Einheit in Vielfalt“. Oder wie Jeewanthi Adhikari, eine buddhistische Pilgerin im Hindu-Tempel, räsonierte: „Ich glaube, dieser Kataragama mit seinen sechs Gesichtern und zwei Frauen ist ein echter Trickster-Gott. Er lockt Menschen mit all ihren Unterschieden hierher, um sie durch das Feuer der Erkenntnis zu führen: Vor seinem Antlitz sind wir alle gleich.“
TV-Tipp: Die Dokumentation „Sri Lanka – Insel der Hoffnung“ wird am Donnerstag, 17. September, um 22.55 Uhr auf 3sat ausgestrahlt.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Angelica V. Marte und Werner Zips (alle Rechte vorbehalten)