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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Als Quarterback, bildlich gesprochen als „Gehirn“ seiner Mannschaft, führte der 25-jährige Colin Kaepernick im Januar 2013 die einst glorreichen San Francisco 49ers zur ersten Super-Bowl-Teilnahme in zwei Jahrzehnten. Trotz einer Endspielniederlage wurde er, der die Saison als Reservist begonnen hatte, zur Sensation jenes Moments im American Football. Weil er mit entspannter Entschlossenheit eine Position ausfüllte, welche die weißen Trainer in einem von Afroamerikanern dominierten Sport über lange Zeit schwarzen Spielern wie ihm nicht anvertraut hatten.
Nach Anlaufschwierigkeiten gelangen Kaepernick auch gelegentlich provozierende Äußerungen vor dem Mikrofon, die auf seinen athletischen Stil zu passen schienen. Es sah so aus, als hätte ein charmantes Mittelfeldgenie «mit Migrationshintergrund» seinem verbleichenden Traditionsteam – wie den Grasshoppers oder Schalke 04 – eine neue Aura erspielt.
Was folgte, war kein Karriereknick, sondern das jedem Fan schmerzhaft vertraute Zurückfallen hinter einen charismatischen Höhepunkt von Kompetenz und Glück. Gut drei Jahre nach dem Super-Bowl-Auftritt, im Sommer 2016, hatte Kaepernick zwar finanziell ausgesorgt, aber nach mehreren chirurgischen Eingriffen und einem Trainerwechsel auch seine Position als «Starter» verloren. So lag der Verdacht nahe, dass er frische Aufmerksamkeit in nicht-sportlichen Dimensionen zu gewinnen suchte, als er beim obligatorischen Abspielen der Nationalhymne zu einem Vorbereitungsspiel für die anstehende Saison auf der Spielerbank sitzen blieb.
Die anschließenden Interviews zeigten allerdings, dass ihn vor allem die Idee einer Konvergenz zwischen der Sportszene mit der damals Fahrt aufnehmenden Protestbewegung „Black Lives Matter“ inspiriert hatte. Auch sein selbstkritischer Entschluss, beim nächsten Match den Gestus des Sitzenbleibens – aus Respekt vor dem nationalen Militär – durch ein Knien zu ersetzen (den im American Football unwiderruflichen symbolischen Akt einer Spielunterbrechung), sprach für den reflektierten Ernst seines Verhaltens.
Hinzu kam, dass Football-Spieler – entgegen einem europäischen Vorurteil – aufgrund ihrer besonders guten Studienergebnisse als die Intellektuellen im College-Sport gelten (was über die strategische Komplexität ihres Spiels zu erklären ist) und gerade Colin Kaepernick vor der Profikarriere an einer guten Universität mit brillanten Noten das anspruchsvolle Fach „Business Administration“ abgeschlossen hatte. Dennoch schien die Wirkung seiner Geste schnell absorbiert: vor allem von Donald Trumps vor Entrüstung schäumender Polemik im damaligen Präsidentschaftswahlkampf, aber auch durch die kategorische Ablehnung aller Protestformen seitens der Clubbesitzer und ihrer Ligaverwaltung.
Seit dann der ehemalige Quarterback und die 49ers ihren Vertrag 2017 einvernehmlich auflösten, hat Kaepernick deshalb trotz guter Form und günstigen finanziellen Bedingungen kein Angebot von anderen Mannschaften mehr bekommen. Er verklagte die Liga im Verdacht auf eine ihn ausschließende, arbeitsrechtlich untersagte Absprache - und erreichte bald einen für beide Seiten tragbaren Vergleich. Diese juristische Entscheidung bestätigte den seit der Bürgerrechtsbewegung vor einem halben Jahrhundert erreichten Standard. Das Rechtssystem behandelt afroamerikanische Bürger, die sich eine solche Klage leisten können, stets nach strikten Gleichheitsprinzipien.
Politisch gemeinte Interventionen zur Kritik von sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit jedoch stießen meist auf aggressive Ablehnung. Tommie Smith und John Carlos von der San José State University, die als Medaillengewinner im 200-Meter-Lauf der Olympiade von 1968 das Abspielen der Nationalhymne mit erhobenen Fäusten in schwarzen Handschuhen („Black Power“) auf dem Siegerpodium begleiteten, mussten gegen Akte der Rache und Diskriminierung ebenso verteidigt werden, wie der Oberste Gerichtshof zwei Jahre zuvor das Recht Muhammad Alis auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen bestätigt hatte.
Im Sommer der Pandemie hat nun Colin Kaepernicks Pathosformel – verspätet und zum ersten Mal – eine strukturell breite und politisch wirkungsvolle Reaktion ausgelöst. Seit die unerträglich drastischen Bilder von der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch eine Polizeistreife Ende Mai die für manche Institutionen des amerikanischen Staats ausschlaggebenden Prämissen von Ungleichheit und Gewalt ins nationale Gewissen rückten, hat sich ein Klima konkreter Forderungen und revolutionärer Träume intensiviert.
Vor allem die jüngere Generation scheint in unseren Wochen langsam fortschreitender Zeit ihre pragmatische Geduld und Bescheidenheit abgelegt zu haben, während die fortschreitend globale Resonanz der Proteste immer deutlicher auch je lokale Missstände ins Visier nimmt. Entgegen jener Lage, die es den Besitzern der Football-Unternehmen noch ermöglicht hatte, positive Reaktionen auf Kaepernicks Geste zurückzudrängen, entfaltet sich nun das Motiv von „Black Lives Matter“ mit der Dynamik einer anderen #MeToo-Bewegung.
Denn man muss ja nicht selbst Afroamerikaner sein, um den Minderheiten zugemutete Ungleichheit abzulehnen; und auch in Ländern wie der Schweiz gibt es Situationen strukturellen Unrechts zu entdecken, für die relativer Wohlstand kaum als Entschuldigung dient. An einem der ersten Geisterspieltage der deutschen Bundesliga zeigte Borussia Dortmunds schwarzer Jung-Star Jadon Sancho beim Torjubel ein Trikot mit der Inschrift „Justice for George Floyd“, und schnell nachfolgende Akte anderer Fußballer, die oft Kaepernicks Geste kopierten, brachten nun erstmals die Einwände des Fußball-Bunds zum Schweigen.
Aus Europa ist die zur politischen Welle gewachsene Bewegung nach Amerika zurückgekehrt, wo jetzt auch Spieler und Trainer der Baseball-Liga, deren Stars meist Latinos sind, als Mannschaften zum Klang der Nationalhymne knien. Die Football-Liga hat sich bei Colin Kaepernick entschuldigt. Zu spät, um ihm ein letztes Kapitel als Quarterback zu eröffnen, aber früh genug doch, um den Vollzug einer entscheidenden Verschiebung im Kraftfeld der Politik zu markieren.
Denn ohne die Augen vor der weiter bestehenden Realität dumpfer Trump-Begeisterung zu schließen, ist deutlich geworden, dass sich eine Mehrheit der Wähler in Amerika und der ganzen westlichen Welt nach über den Stand der Gegenwart hinausgehenden Situationen von Gleichheit und Gerechtigkeit sehnt. Sportler haben diese Einstellung keinesfalls – nach dem Anspruchsmuster der Intellektuellen – erfunden, aber als weit sichtbare Vermittler eben ihren Mehrheitsstatus ins Bewusstsein gebracht. Denn dass Athleten Bewunderung auf sich ziehen und zugleich gerade für eine Normalität intellektueller Ansprüche stehen, macht sie vertrauenswürdig.
Und natürlich kommt ihrer vorbewussten Orientierungsfunktion eine Reichweite zu, die kein Intellektueller je erreichen könnte. So hat eine Forschergruppe der Stanford University dokumentiert, dass islamfeindliche Akte in der Bevölkerung von Liverpool zurückgegangen sind, seit zum erfolgreichsten Stürmer der Stadt Mohamed Salah geworden ist, der jedes seiner Tore mit der muslimischen Gebetsgeste feiert.
Im neuen politischen Status des Sports erlebt es niemand als Zumutung, wenn die mit 16 Jahren zur Tennisweltklasse aufgeschlossene Afroamerikanerin Coco Gauff jede Gelegenheit nutzt, um – vielleicht allzu wortreich – an die Würde schwarzen Lebens zu erinnern. Sie ist Teil und Echo einer veränderten Stimmung.
Colin Kaepernick hat inzwischen einen Verlag und eine Organisation gegründet, die Jugendlichen Klarheit über ihre politischen Optionen liefern sollen. Erst einmal bleibt trotz gelegentlicher Tautologien und Banalitäten in den Inhalten zu hoffen, dass weder die Depression über eine mögliche Wiederwahl Trumps noch überzogener Optimismus angesichts eines Siegs von Biden das nordamerikanische Vibrieren der letzten Monate stilllegen.
Den europäischen Sportszenen droht eher ein Erstarren in selbstzufriedener Solidarität mit den Unterdrückten anderer Welten. Sich mit den Protestgesten von Spielern aus der eigenen Lieblingsmannschaft zu identifizieren, das könnte in der nächsten Spielzeit nun auch Impulse der Selbstkritik und der Aktivität vor Ort auslösen.
Dieser Artikel ist am 26. August unter dem Titel „Als das Knie das Stadion eroberte“ im Tages-Anzeiger erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm