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Dr. Joachim Landkammer wurde 1962 geboren und studierte in Genua und Turin. Nach seinem dortigen Philosophiestudium, abgeschlossen mit einer Arbeit über den frühen Georg Simmel und einer ebenfalls in Italien durchgeführten Promotion über den Historikerstreit, hat Joachim Landkammer als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. W. Ch. Zimmerli an den Universitäten Bamberg, Marburg und Witten/Herdecke gearbeitet. Seit 2004 ist er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität und Verantwortlicher des ZU-artsprogram für den Bereich Musik.
Joachim Landkammer arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit und einer gewissen journalistischen Textproduktion an verschiedenen interdisziplinären Themen in den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie, der Ästhetik und der Kulturtheorie. Ein dezidiertes Interesse gilt dem Dilettantismus und der Kunst- und Musikkritik.
Die Corona-Werbeclips der Bundesregierung, die Jugendlichen das Zu-Hause-Bleiben schmackhaft machen sollen, machen es auf amüsante Weise klar: Der wahre Heroismus unserer Zeit besteht im Nichtstun. Wer wirklich „sozial“ und „verantwortlich“ handeln will, muss nicht handeln. Vielleicht darf man in der Tat als eine der vielen, erst in weiter Zukunft wirklich zu ziehenden Lehren der Krise die avisieren, die uns die vergessenen Tugenden des Unterlassens wieder vor Augen führen: Tugenden, die man einst lediglich dem „Takt“ und „Anstand“ zugeschrieben (und diskreditiert) hatte, wie Distanz („social distancing“), Diskretion (die „Gefühle“ bleiben hinter meiner „Gesichtsmaske“) und eben maximal gesellschaftsverschonendes Nichtstun durch ganztägig-und-nächtliches Zuhausebleiben.
Wenn dagegen die professionelle Ethik den Verzicht so, wie es eben der Grandseigneur der deutschen Moralphilosophie Otfried Höffe mit einem philosophiegeschichtlichen Rundumschlag in der FAZ vom 30. November getan hat, auf bloße „Besonnenheit“ und auf Vermeidung von „Hybris“ und „Pleonexie“ herunterdimmt, gerät die klare Option des Nicht(s)-Tuns aus den Augen. Denn man muss heute ja nicht allzu lange nach anderweitigen, leider viel zu oft ungenutzten Rentabilitätschancen durch Handlungs-Vermeidung suchen. Sie werden besonders da leider viel zu hartnäckig verdeckt, wo jahrhundertelang unhinterfragte Produktionsimperative herrschen und reflexhafte Schaffens-Manien wüten, also etwa im ganzen Bereich der Kultur, wo die Sorge, dass überhaupt etwas geschieht, meist die eigentlich prioritär zu klärende Frage, ob denn das, was da geschieht, auch gut, sinnvoll, relevant oder auch nur „interessant“ ist, gar nicht mehr stellen lässt. Das mag in Zeiten einer Epidemie begründet vollständig brach-gelegten Kulturlandschaft zynisch klingen, aber man wird ja um die Hypothese kaum herumkommen, dass all das schöne „Kulturelle“ heute auch deswegen so leichtfertig aus Gesundheitsrisikogründen in die Zwangspause geschickt wird, weil es schon immer unter dem – natürlich kaum je laut ausgesprochenen – Verdacht stand, „zu viel“ zu sein. Die Schließungen von Konzertsälen, Theatern, Kinos werden vermutlich heute am meisten beklagt von denen, die unter normalen Umständen nie hingegangen wären.
Dem sei aber, wie ihm wolle; eindeutiger belegbar wird die Behauptung einer aus dem Ruder gelaufenen kulturellen Überschussproduktion dort, wo klare Symptome für das Erreichen der Grenzen ihres Wachstums zu identifizieren sind. Als solche sind die sich häufenden Plagiats-Fälle in wissenschaftlichen Abschluss- und Qualifikationsarbeiten zu interpretieren. Denn nur in der Wissenschaft wird jenes Kriterium, das man sonst in aller Kultur statt substanzieller, inhaltlicher Qualitätskriterien relativ locker in Anspruch nimmt, nämlich das Kriterium der „Neuheit“ – also all das, wofür die sogenannte „Kreativität“ einstehen soll, was ja nur heißt: die Legitimation jedes „Mehr“ durch ein „Anders“ (und nicht durch ein „Besser“) – noch einigermaßen ernst genommen, zumindest eben zu Qualifikations- und Rang-Attestierungs-Zwecken. In aufsteigendem Grad soll jede akademische Haus-, Bachelor-, Master-, Dissertations- und Habilitationsarbeit „Neues“ beinhalten, selbst entdeckte und vor allem selbst formulierte Erkenntnisse des neu-schöpfenden Text-Kreators; eine Anforderung, die bekanntlich dadurch erschwert wird, dass gleichzeitig all dies überraschend Neue anschließen und zurückführbar sein muss auf bereits Bekanntes, Bewährtes, Etabliertes, also: Zitierbares (das dann aber eben auch zitiert und belegt werden muss).
Jedes Plagiat besteht darum in einer eigentlich genialen Antwort auf diese paradoxe Doppelanforderung: Es schließt brav an, verwendet bereits Bestehendes und Approbiertes, tut aber so, als sei diese Wiederverwendung neu und gerade eben selbst erfunden. Die mittlerweile ja quasi zum Volkssport gewordene Plagiatsjägerei hat daher auch immer etwas tendenziell Heuchlerisches; sie suggeriert, Originalität und Individualität seien das absolute Wissenschaftsideal – während man doch mittlerweile nur zu gut weiß, dass die „Normalwissenschaft“ (Kuhn) im synchronen Gleichschritt die ausgetretenen Heerstraßen der immergleichen Theorie- und Denkschulen, unter den ewig gleichen Bannern drittmittelförderlicher Buzz-Words („Digitialisierung“, „Gender“, „Klima“) rauf- und runtermarschiert.
Immerhin kann beziehungsweise könnte sich der lebenslang Lehrstuhl versorgte Normalwissenschaftler (hier und in der Folge: immer auch die weibliche Form), wenn und solange er nicht von verschulten Studienprogrammen, angeordneten Forschungsstrategien und knappen Fördermitteln abhängig ist (und wer wäre das schon nicht?), das Risiko des „Neuen“ noch leisten („Lehr- und Forschungsfreiheit“). Gerade die Qualifikationsschrift des Noch-Nicht-Etablierten erzwingt aber den seltsamen Spagat zwischen dem Beweis der Vertrautheit mit allem bisher Bekannten und dem Nachweis der Fähigkeit, trotzdem noch Unbekanntes zu bieten zu haben (oder besser: gerade deswegen, sonst bedeutete „Originalität“, wie eben oft, nur mangelnde Literaturkenntnis). Es bedarf sehr mutiger Verfasser (und vor allem auch sehr mutiger Betreuer), um an dieser Stelle jenes „Nach-Neuen-Erkenntnissen-Forschen“ zu riskieren, das Wissenschaft angeblich durchwegs ausmacht. Viel einfacher zu „prüfen“ bleibt hingegen die Versiertheit im Umgang mit dem Gängigen und Standardisierten, und genau diese ist es, die die Methode des Plagiierens so nahelegt: Jeder Gutachter fühlt sich doch am wohlsten und sichersten in seinem (schon dadurch positiv gestimmten) Urteil, wenn er Formulierungen in einer Diktion und einem Jargon liest, die ihm wohlvertraut sind. Kein Wunder also, dass Doktorväter meist nicht einmal die Plagiate ihrer eigenen Texte in den von ihnen betreuten Abschlussarbeiten als solche erkennen.
Was hilft? Nichts Neues, nur das ganz Alte und heute leider Corona bedingt wieder Aktuelle: nichts. Nichts tun. Einfach nichts schreiben, was es nicht auch wert ist, aufgeschrieben und gelesen zu werden, weil es nirgendwo sonst so (also in ausreichender Differenz) schon zu lesen wäre. Das bedeutet: Wer zu wenig gelesen hat, darf nicht schreiben. Es würde auch heißen, alle vermeidbaren Qualifikationsschriften zu unterlassen (und abzulehnen), die nichts Lesenswertes enthalten, die daher auch dann sinnlose Wiederholungen des bereits Gesagten, also „Plagiatsfälle“ darstellen, wenn sie kein einziges nachweisbares tatsächliches Plagiat enthalten. Und es würde bedeuten, auch diesen Text hier lieber nicht geschrieben zu haben. Denn all das hat zum Beispiel Harry Frankfurt 1986 in seinem schönen Essay „On Bullshit“ schon viel besser gesagt.
Daher schließe ich hier, mit der Bitte um Entschuldigung an den schon wieder mal nicht ausreichend überraschten Leser. Und gehe lieber wieder lesen oder am besten gleich: gar nichts tun. Wie wir es in dieser langen Zeit des Wartens, dieser mit Weihnachten noch lange nicht endenden „Advents“-Zeit höherer (An-)Ordnung ja sowieso alle tun müssen. Nützen Sie sie.
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Beitrag (mit Bildunterschriften): Dr. Joachim Landkammer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm