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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Mit ambivalenter Nostalgie kommen in den Corona-entvölkerten amerikanischen Universitäten jetzt die Erinnerungen an jene Periode des Protests auf, die vor genau vier Jahren einsetzte, nachdem – viel schneller als vor Wochen – die Entscheidung über den neuen Präsidenten gefallen war. Bald schon marschierten damals unermüdliche Gruppen von Studenten und Professoren Tag für Tag vom einen zum anderen Ende unseres Campus und skandierten sich mit dem beliebten revolutionären Zweizeiler „El pueblo unido / jamás será vencido“ („Das geeinte Volk wird nie besiegt werden“) in immer neue Hochstimmung.
Inhaltlich unpassender hätten diese Worte großzügig-akademischer Solidarität mit dem „Volk“ allerdings nicht sein können. Denn der unter Intellektuellen verachtete Donald Trump war ja gerade von unterprivilegierten Wählerschichten ins Weiße Haus gebracht worden.
Als dann jedoch die Energie der gutgemeinten Entrüstung abflaute, nahm die Schärfe der politischen Analysen leider kaum zu. Über herablassende Gesten der Distanzierung von ihrem Land und über die Beschimpfung von Trump und seinen Anhängern als „Faschisten“ sind die Gebildeten unserer Gesellschaft während der vergangenen vier Jahre nur selten hinausgekommen.
Deshalb wirkte der selbstkritische Gestus eines kürzlich erschienenen Leitartikels in der – zur Pflichtlektüre aller Trump-Gegner aufgestiegenen – „New York Times“ am Tag nach der neuen Wahl wie die sprichwörtliche Morgenröte eines zu lange verschobenen Aufbruchs. Unabhängig vom Endergebnis, so stand dort zu lesen, sei es angesichts des massiven Anwachsens der Unterstützung für Trump um sechs Millionen Stimmen nicht mehr angemessen, ihn als einen Wahlirrtum des Jahres 2016 von der „amerikanischen Seele“ abzusetzen, die sein Herausforderer und nun auch designierter Nachfolger Joe Biden so gerne heraufbeschwört.
Mit anderen Worten: Erst im Moment der Niederlage und im Blick auf sein politisches Ende – viel zu spät jedenfalls – ist die Gestalt von Donald Trump für die amerikanischen Intellektuellen zu einem historischen Ernstfall der Gegenwart geworden, der Analysen und produktive Reaktionen herausfordert. Gerade die Verspätung setzt uns Berufsdenker einer dreifachen Verpflichtung aus: Es ist erstens höchste Zeit, dass wir unsere unterkomplexen Erklärungsmuster für Trumps Faszination revidieren; wir müssen zweitens endlich plausible Hypothesen über die Gründe und Grenzen des Trump-Syndroms entwickeln; und auf dieser Grundlage sollten wir drittens innovative Strategien entwickeln, die es ermöglichen, Trumps Wähler in die politischen Prozesse der Zukunft einzubeziehen.
Was genau ist also etwa am fast schon selbstverständlich gewordenen Gebrauch des Begriffs „Faschismus“ zur Beschreibung des Trump-Syndroms auszusetzen? Vor allem, dass es sich dabei – wie so oft in politischen Debatten – um einen Ausdruck der Empörung hinter der Maske eines typologischen Vergleichs handelt. Wer ernsthaft von Trump als einem „Faschisten“ (oder auch „Rassisten“) redet, der macht damit eher eine selbstzufriedene Aussage über sich selbst als über Trump und mag übersehen, dass solche impliziten Vergleiche zugleich unerwartete Erkenntnischancen eröffnen.
Denn so wie der Faschismus als Nationalsozialismus verbindet auch Trumps Stil traditionell als „links“ und als „rechts“ angesehene Elemente (etwa die als „populistisch“ verteufelte Öffnung der Politik für bildungsferne Schichten und Steuerentlastungen für Höchstverdiener). Viel deutlicher freilich sehen die Unvereinbarkeiten zwischen Trump und dem Faschismus aus. Säbelrasselnder Militarismus à la Mussolini oder Hitler gehörte nicht einmal zu den Randbeständen seines rhetorischen oder außenpolitischen Repertoires. Und vor allem war Trump nie darauf aus, seine Äußerungen in der geschliffenen Kohärenz einer Ideologie festzulegen.
Weniger automatisiert, aber vielleicht allzu geistreich wirkt der andere gängige (und biografisch zutreffende) Verweis auf Trumps Erfahrung als Showmaster in der Unterhaltungsbranche – die er wohl mit einer wachsenden Zahl anderer Politiker teilt. Der Vorwurf, er habe Politik wie die Episoden einer Netflix- Serie gehandhabt, sollte sich aber die Rückfrage nicht ersparen, wie viel Naivität denn die unterstellte Alternative eines erfolgreichen öffentlichen Handelns ganz ohne Inszenierungsdimension voraussetzt.
Praktische Politik ist immer schon von einem Kontrast zwischen öffentlicher Erscheinung und widerständigen Alltagsproblemen ausgegangen. Und zu Trumps rhetorischen Manövern des Ausweichens in die Dimension „alternativer Wirklichkeiten“ hatte es ja im philosophischen Zeitalter von „Konstruktivismus“, „Pragmatismus“ und der „Pluralität der Welten“ hochgeschätzte akademische Vorgänger gegeben.
Wenn wir Intellektuellen an dem Anspruch festhalten wollen, außerhalb unserer eigenen Spezialistenkommunikation wahrgenommen zu werden, dann müssen wir über solche Revisionen von Denkbequemlichkeit hinaus auch die Entwicklung bestimmter demokratischer Kompetenzen ins Auge fassen. Dabei können ausgerechnet einige Stärken von Donald Trump als Motivation und Messlatte helfen.
Sind wir bereit, die zum Ritual gewordene Klage über die Spaltung unserer Gesellschaften in zwei unversöhnliche Lager durch eine Initiative zu Gesprächen mit solchen Fellow Citizens hinter uns zu lassen, die wir bisher als „Faschisten“ oder „Rassisten“ verurteilt und auf hygienischer Distanz gehalten haben? Ist Konsens das zwingende Ideal einer politischen Gesellschaft? Bidens freundliches Versprechen, ein „Präsident aller Amerikaner“ zu werden, das ja außer Trump alle Vorgänger im Amt gemacht haben, wird für nachhaltige Veränderungen keinesfalls ausreichen.
Besser, weil konkreter, war seine Bemerkung, er könne „die Frustration der Anhänger von Präsident Trump über die Wahlniederlage aus der Erfahrung eigener Niederlagen nachvollziehen“. Doch derzeit wissen wir „Linksliberalen“ ja nicht einmal, wo wir jene „anderen Amerikaner“ finden könnten, von Diskussionen mit ihnen ganz abgesehen. Vor allem und im Blick auf die kommenden Wochen sollten wir uns darauf einstellen, dass es das – für seine Gegner – unangenehme Recht eines Politikers wie Trump ist, die praktisch gegebenen Möglichkeiten der Machterhaltung skrupellos und mit machiavellistischer Rationalität auszuschöpfen. Auch hier läuft Entrüstung bloß auf geistige Bequemlichkeit hinaus.
Wer jedoch ernsthaft die Frage nach den Gründen für Donald Trumps Erfolg bei seinen Stammwählern stellt, muss zu der Diagnose einer akuten und prägnant umschreibbaren Krise in der institutionellen Form der parlamentarischen Demokratie gelangen. Nach ihrem Stil kann man Trumps Zuwendung zu Schichten von Amerikanern, die sich seit Jahrzehnten von der Entwicklung des Alltags im wörtlichen Sinn „abgehängt“ fühlen, als „Resonanzkommunikation“ charakterisieren. „Resonanz“, weil sich ihre Wirkung nicht in spezifischen Inhalten und ihrer jeweiligen Perspektivierung erfüllt, sondern allein in dem Eindruck, von diesem Präsidenten in den eigenen – meist vagen – Affekten gehört, ernst genommen und eben auch mitgenommen zu werden. So verkörpert Trump für seine Anhänger eine Authentizität, die sie in der Öffentlichkeit verloren glauben.
Dieses Bedürfnis nach Resonanz und Nähe entsteht auf zwei verschiedenen Ebenen, die beide mit Funktionen der „Repräsentation“ als Grundstruktur der Demokratie zu tun haben. Ab 2016 gewann Trump die meisten seiner Wähler über das Motiv einer Diskontinuität gegenüber den an den Elitehochschulen des Landes geformten Berufspolitikern, von denen sie sich – wohl zu Recht – nicht mehr verstanden und vertreten fühlen.
Der erste Auftritt der zweifellos hochqualifizierten Kamala Harris als gewählte Vizepräsidentin im festlich-weißen Hosenanzug mag diesen Eindruck nur bestätigt haben. Für die hier einsetzende Frustration gibt es zahlreiche Anlässe, unter denen heute wohl die Asymmetrie zwischen den identitätspolitisch durchwirkten Diskursen der akademisch Gebildeten und den eher harten Klassenerfahrungen (wirtschaftliche Nachteile, soziale Hierarchien) der Bürger ohne College-Abschluss im Vordergrund steht.
Den kollektiven Eindruck, nicht vertreten zu sein, hat die fortschreitende Dominanz elektronischer Kommunikation im Alltag nur weiter intensiviert. Statt neue Möglichkeiten der Teilnahme an öffentlichen Debatten zu erschließen, wie man während der kurzen Phase der „Piratenparteien“ in Europa hoffte, haben sich in der Welt der Handys, Laptops und Suchmaschinen ungeahnte Distanz, Kälte, Isolierung und Einsamkeit zum Kern einer neuen Lebensform zusammengeschlossen. Hyperkommunikation bringt mehr Freiheit, mehr Kontingenz und mehr Alltagskomplexität um den Preis eines Rückgangs von Präsenz und Wärme hervor, und auch diese Lücke hatte der politische Stil von Donald Trump gefüllt.
Fast die Hälfte der amerikanischen Bürger fühlt sich in der Öffentlichkeit als Raum der Repräsentation nicht mehr zu Hause, was erklärt, warum sie zögern, ihre Bedürfnisse und Präferenzen offenzulegen – und damit die klassisch-empirischen Umfragen unzuverlässig machen. Vielleicht steht dasselbe Misstrauen gegenüber der Repräsentation ja auch hinter einer neuen Faszination für Familienstrukturen als Strukturen der Politik. Nach den Kennedys der 60er-Jahre haben nun auch die Bushs und die Clintons Erinnerungen an monarchische Genealogien geweckt, die Donald Trump mühelos reaktivieren konnte.
Zu Recht überzeugt von der Unersetzlichkeit des Prinzips der Gewaltenteilung, tendieren wir Intellektuellen in Krisenzeiten dazu, an den klassischen Formen der parlamentarischen Demokratie als einer Art Orthodoxie festzuhalten. Diese Position sollten wir nicht aufgeben, weil gerade Probleme der Repräsentationsstrukturen – seit der Implosion der römischen Republik ins Kaiserreich – immer wieder zu Phasen der Diktatur geführt haben. Doch Verfassungskonservativismus allein hilft nicht weiter – und noch weniger der kurzsichtige Vorschlag, die Zahl der Richter am Supreme Court zu erhöhen, um politische Gleichheit in einem auf juristischer Rationalität fundierten Gremium herzustellen.
Kritisches – und selbstkritisches – Denken muss sich dagegen an der Frage üben, welche neuen institutionellen Formen zu einem breiten Vertrauen in die Wirksamkeit der Repräsentation zurückführen können. Diese Frage ist umso dringender, als derzeit niemand überzeugende Antworten parat hat. Dabei ist klar: Der Entschluss, nicht allein gebildete Mitbürger zu hören und politisch ernst zu nehmen, wäre der praktische Anfang einer solchen Antwort für die Regierung von Joe Biden und Kamala Harris.
Dieser Artikel ist am 12. November unter dem Titel „Donald Trump ist kein Irrtum der amerikanischen Geschichte: Woran Intellektuelle nun zu kauen haben“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
| Gage Skidmore / Commons.Wikimedia.org (CC BY-SA 2.0) | Link
Bilder im Text:
| Gage Skidmore / Flickr.com (CC BY-SA 2.0) | Link
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm