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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
In einem für American Football typischen Vier-Stunden-Drama hatten wir gerade auf dem Bildschirm verfolgt, wie die Mannschaft unserer Universität ihren von allen Buchmachern favorisierten Erzrivalen zum ersten Mal seit Jahren mit einem knappen Vorsprung schlug, den sie eisern bis zum Ende verteidigte. Und weil wir den derzeit so seltenen Moment aus echter Leidenschaft und künstlicher Geräuschkulisse verlängern wollten, hängten mein Sohn und ich auch noch die Pressekonferenz mit dem Trainer an – um plötzlich und brutal aus der Live-Illusion gekippt zu werden, ohne zu verstehen, wie dies geschah. Coach Shaw und etwa zehn Journalisten waren vor einem schwarzen Hintergrund mit dem roten Stanford-Emblem als Muster erschienen, so als ob sie sich im selben Innenraum des Stadions befänden. Doch der kompetente und sogar witzige Diskussionsleiter sprach aus einer Wohnküche der höheren Preislage, was den Siegesrausch abbrach und uns die Sendung mit erschrockener Enttäuschung abschalten ließ.
Zwei Tage später löste ein per Zoom an der Universität Mainz gehaltenes Seminar die gleiche Wirkung aus. Der Abstand zu den Hörern in Deutschland war natürlich keinen Moment zu vergessen. Trotzdem hatte ich mich in die inspirierende Vorstellung hineingeredet, dass sie aus einem gemeinsamen Raum so aufmerksam und genau reagierten. Als sich dann aber zwei meiner Kollegen aus ihren – selbstredend anderen – Arbeitszimmern verabschiedeten, ging die im lebhaften Austausch der Argumente entstandene Hochstimmung mit einem Mal unumkehrbar zu Ende.
Warum schmerzt ausgerechnet dieser harmlose Typ von Distanzerfahrung so sehr, der doch objektiv weder die heiße Spannung eines Footballspiels noch die prägnante Qualität einer Diskussion beeinträchtigt? Sich unter Corona-Bedingungen darauf einzustellen, nicht mehr ohne Weiteres reisen, unsere angestammten Arbeitsplätze benutzen, ein Konzert oder ein Stadion besuchen, neue Bekanntschaften machen und alte kultivieren zu können, solche objektiv horrenden Verlustbilanzen der Pandemie haben die meisten von uns vorerst – mit staatstragender Verantwortungspose oder zähneknirschend – ganz erfolgreich absorbiert. Sich über sie allzu laut zu beklagen, ist banal geworden. Analoges kann man jedoch nicht von jenen sich Tag für Tag anhäufenden und über unsere Laune legenden Augenblicken der Auflösung von Präsenzillusionen behaupten. Diesem anderen Verlust nämlich kommen unsere vernünftigen Trostbemühungen nicht bei, und deshalb machen sie vor allem – ebenso verdeckt wie einschneidend – jene Beeinträchtigung aus, mit der das Virus uns eingeholt hat.
Was dabei an die existenzielle Substanz geht, ist ein spezifisches, vom allgegenwärtigen Corona-Gebot der „sozialen Distanz“ ausgehöhltes „Zwischen“ der menschlichen Beziehungen, das – wie ich von einem Freund und einschlägigen Spezialisten lernte – niemand genauer beschrieben hat als Hannah Arendt. Ihr Hauptwerk „The Human Condition“ aus dem Jahr 1958 (deutsch „Vita Activa“ von 1960) unterscheidet zwei Schichten des „Zwischen“ für Sprechen und Handeln in der Öffentlichkeit. Bewusst ist das von einem gemeinsamen Gegenstand der Aufmerksamkeit (als Erfahrung oder Projekt) erfüllte Zwischen, das wir meinen, wenn wir von „Inter-Aktion,“ aber auch von „Inter-esse“ reden. Ein Zwischen, dass uns per Bewusstsein verbindet.
Das andere Zwischen musste Arendt mit einer viel ausführlicheren Beschreibung heraus präparieren, weil es nur an der Peripherie oder sogar außerhalb unserer Selbstbeobachtung vorkommt. Dieses zweite Zwischen „durchwächst und überwuchert“ die Öffentlichkeit als ein „Bezugssystem, das aus den Taten und Worten selbst, aus dem lebendigen Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und ansprechen. Dieses zweite Zwischen, das sich im Zwischenraum der Welt bildet, ist ungreifbar, da es nicht aus Dinghaftem besteht. Aber dieses Zwischen ist in seiner Ungreifbarkeit nicht weniger wirklich als die Dingwelt unserer sichtbaren Umgebung. Wir nennen diese Wirklichkeit das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten.“ Ein kompliziertes, aber für unser Verständnis der Gegenwart bedeutsames Zitat.
Dass jedes menschliche Gegenüber – unabhängig von den gemeinsamen Objekten der Aufmerksamkeit – noch einmal in einem zweiten Zwischen der körperlichen Präsenz zugänglich ist, hörbar, sichtbar, berührbar, macht den Punkt von Arendts Unterscheidung aus. Doch während das zweite Zwischen in der Bewegung seiner Elemente tatsächlich nie auf eine einzige dinghafte Gestalt festgelegt und in ihr „greifbar“ wird, sollte man wohl deutlicher als Arendt hervorheben, dass es als körperliches Zwischen durchaus dinghaft ist und ohne Ko-Präsenz der beteiligten Körper in einem gemeinsamen Raum nicht existieren kann. Deshalb muss das derzeit auferlegte Gebot der sozialen Distanz und die Lawine von Ersetzungen real-präsenter durch elektronisch vermittelte Formen der Kommunikation das zweite Zwischen, das Zwischen des „Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“ aushöhlen. Ob solche Maßnahmen von Fall zu Fall plausibel sind, steht dabei gar nicht zur Debatte.
Doch worin liegt der existenzielle Verlust dieser Aushöhlung, den wir als plötzlichen Schmerz ja nur in jenen Momenten erleben, wo es uns nicht gelingt, ihn vor uns selbst zu verbergen (etwa mittels der künstlichen Geräuschkulisse bei der Übertragung von Stadionereignissen)? Wir können zunächst sagen, dass angesichts des jetzt entstehenden Vakuums unsere Körper in den meisten Beziehungen zu anderen Menschen ganz ohne Anbindung und Funktion (etwa in der Entstehung eines gemeinsamen Raums) bleiben müssen. Nicht zufällig erinnern wir uns ja an Stimmungen und Details der Kulisse entscheidender Ereignisse in unseren Leben, auch wenn sie im Blick auf ihre Relevanz ganz irrelevant waren. Sich nicht „festhalten“ können am körperlichen „Bezugsgewebe“ von Ereignissen der Begegnung, trifft umso härter in einer Welt, deren Komplexität schon längst vor der Corona-Zeit aufgrund vielfacher Technologien erheblich gewachsen war.
Bei der Bestandsaufnahme des so entstehenden Verlusts können und sollten wir aber noch um eine Stufe weitergehen mit der These, dass die Möglichkeit der Intensität unseres Lebens, nach der wir uns sehnen, jenes materielle Bezugsgewebe des zweiten Zwischen als ihre unerlässliche Voraussetzung braucht. Die wenigen Philosophen, welche sich an eine Definition von Intensität gewagt haben, gehen davon aus, dass es dabei (erstens) um einen Prozess, nicht um einen Zustand geht, der (zweitens) einsetzt bei einer zufälligen, nicht beabsichtigten Konfiguration von Gegenständen im Raum und dann (drittens) übergeht in einen wachsende Euphorie auslösenden Eindruck von Notwendigkeit – so als könnte die entstehende Situation einfach nur so sein, wie sie ist (man kennt das vom Tanzen, Spielen, Diskutieren). Oft wird die Intuition jener euphorisierenden Notwendigkeit mit dem Bild der Schwarzen Löcher vergegenwärtigt, was unter anderem suggeriert, dass im Lauf des Intensitätsprozesses die anfangs zufällige Konfiguration zunehmend ein Gegenstand suchthaft-gefährlicher Anziehung werden kann. Zwischen ihrem Euphorie- und ihren Suchtpotenzial gehören Intensitätsprozesse allemal zu den denkbaren Folgen einer jeden Interaktion im gemeinsamen Raum, ob es sich dabei um eine Pressekonferenz, ein Seminar oder ein Sportereignis handelt. Letztlich geben sie uns die Frage auf, ob wir die Aushöhlung des menschlichen Beziehungsgewebes als Einklammerung eines Suchtrisikos feiern sollen – oder als Verlust einer Euphoriequelle beklagen.
Im Blick auf die sogenannten „Geisterspiele“ vor leeren Tribünen hat Jochen Hieber in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ jüngst eine bemerkenswerte Gegenrechnung zur Präsenz-, Intensitäts- und Euphorieoption aufgemacht. Nicht allein das statistisch erfasste Abnehmen von Fouls in der neuen Situation erwähnt er, sondern vor allem seine eigene Zuschauerwahrnehmung eines Anwachsens an strategischer Komplexität, die noch verstärkt wird durch die Chance, nun zumindest in Fragmenten die Anweisungen der Betreuer und die Kommunikation zwischen den Sportlern nachzuvollziehen: „Aus Geisterspielen werden so Geistesspiele“.
Aber sind wahrhaft geniale Stadionmomente – wie der Weltrekordnachmittag von Jesse Owens bei der Olympiade 1936, der Urknall des deutschen Fußballs im Weltmeisterschaftsfinale von 1954 oder die erste als perfekt bewertete Turnkür von Nadia Comaneci 22 Jahre später, sind unvergessliche Reden wie Martin Luther Kings „I have a Dream“ und selbst intellektuelle Durchbrüche wie Albert Einsteins emblematischer Gedanke von der Relativität ohne die intensivierende körperliche Gegenwart anderer Menschen überhaupt vorstellbar? Vielleicht hängt es letztlich von unseren je verschiedenen Hoffnungen auf ein erfülltes Leben ab, ob wir uns wünschen, dass solche Augenblicke auch aus Einsamkeit – und mithin selbst unter Corona-Bedingungen – entstehen können.
Eine konkrete Frage allerdings stellt sich noch hinsichtlich der Intensität. Kann sie allein aus Zufallskonstellationen entstehen, anders gesagt: aus Zufallsbegegnungen, wie sie unter Lock-out-Bedingungen praktisch ausgeschlossen und in manchen Kontexten sogar förmlich verboten sind? Am Ende dieses exzentrischen Jahres ist die Welt jedenfalls vielerorts auf die Nähe weniger, uns vertrauter Menschen beschränkt, und obwohl seit vergangenem März neue Rituale der Privatheit hervorgetreten sind, fällt es schwer, sich Situationen alltäglicher Nähe als Matrix von Augenblicken der Intensität vorzustellen.
Intensität können im Umkreis stabiler Privatheit höchstens jene seltenen Ereignisse bewirken, die bestehende Strukturen in spannungsvolle Dynamik hinüberspielen. Die Ermordung von George Floyd zu Beginn des Corona-Sommers etwa hatte weltweit Proteste heraufbeschworen, die das ausgehöhlte soziale Zwischen gegen alle Distanzgebote wieder mit Körpern füllten. Nicht nur in meiner Familie hat jener Moment dann aber auch die politischen Gedanken und Gefühle so drastisch verschoben, dass daraus eine neue existenzielle Bewegung entstand. Niemand will freilich auf derartige Auslöser von Intensität hoffen. So sind die Zeichen eher auf ein Austrocknen des existenziellen Zwischen und der Intensität gestellt. Wer sich nicht damit abfinden will, hat es eilig mit der Rückkehr zu realer Präsenz.
Dieser Artikel ist am 27. Dezember unter dem Titel „Die versäumte Existenz“ in der WELT erschienen.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm