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Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Dass die Corona-Pandemie eine historische Zäsur einleiten wird, ist kaum mehr zu leugnen. Will man aber erahnen, welche neue Epoche sich gerade zu formieren beginnt, kommt man nicht weit. Man steht kaum besser da, als wenn man die Überlebenden der Pest von 1348/49 gefragt hätte, wann denn die Renaissance beginne. Vielleicht hilft es daher, etwas bescheidender zu werden und nur zu fragen, auf welche Weise unsere Gegenwart sich der Zäsur stellt.
Sobald man aber diese Frage formuliert, versteht man, dass man eigentlich fragen sollte, auf welche Weise sich unsere Gegenwart dieser Zäsur eben nicht stellt, sondern stattdessen auf die Rückkehr einer alten Normalität hofft. Genauer: nicht einmal hofft, sondern einfach so lebt, als sei nichts geschehen – obwohl man zugleich weiß, dass es so nicht ist.
Ein gutes Beispiel war die erstaunlich weitreichende Normalisierung des Ferienbetriebs in Europa in den letzten Wochen. Sie ereignete sich vor einem Hintergrund, den man bewusst zum Verschwinden zu bringen suchte, aber nicht konnte: vor dem Hintergrund von Ferienländern, deren Gesundheitssysteme nur Monate zuvor fast kollabiert waren, ohne dass die Herkunftsländer der Touristen ihnen nennenswert Beistand geleistet hätten.
Dazu stiegen die Fallzahlen in aller Welt von Tag zu Tag wieder an. Und überall war man sich der Gefahr bewusst, dass es durch Ferienmachende zu einer zweiten Welle kommen könnte, die Tausende Menschenleben kosten und die ökonomische Erholung zunichtemachen würde – die Erholung des Arbeitslebens also, die überhaupt erst die Möglichkeit der Ferienerholung schafft. Die zelebrierte Normalität stemmte sich dem Wissen um die Anomalie der Lage entgegen und gab dabei ein bestenfalls lächerliches Bild ab.
Das lebenspraktische Verschwindenlassen von Unangenehmem und Bedrohlichem ist per se noch nichts Besonderes. Denken wir an die Ferien, die man sich in anderen Jahren gönnte – trotz dem Wissen um die CO2-intensiven Formen des Reisens, um die toten Fichten und Kiefern und im Bewusstsein um den Raubbau, den die meisten Tourismusformen an just jener Natur betreiben, die man genießen will. Oder denken wir an den Fleischkonsum bei gleichzeitiger Abscheu vor der Massentierhaltung und der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte in Schlachthöfen.
Normalität ist immer nur dank Selbstbetrug zu haben – „mauvaise foi“ oder Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber, nach Jean-Paul Sartre. Im Fall der Corona-Krise wurde die große menschliche Fähigkeit zum Selbstbetrug aber auf eine selten harte Probe gestellt. Nicht nur das bessere (und doch meist wirkungslose) Wissen störte die Wahrnehmung der Normalität, vielmehr ist das Leben selber anormal geworden: durch Lockdown-Maßnahmen, einen unerwarteten Digitalisierungsschub, Homeoffice und anderes mehr.
Im Prinzip hat die Corona-Krise damit ein großes Potenzial: Sie könnte den Boden der Normalität nachhaltig unsicher machen – und dies vielleicht in genau dem Maße, in dem die Pest von 1348/49 eine auf Gott hin lesbare Welt und die Vorstellung eines von der Vorsehung gebändigten Zufalls unsicher machte. Auf ähnliche Weise könnte das Jahr 2020 uns zu Bewusstsein bringen, dass Normalität eben kein Zustand, kein Hintergrund unseres Lebens ist oder sein kann – sondern nur ein gekonntes und aufwendiges Vorbeileben an Anomalien.
Drängt sich diese Einsicht in den Vordergrund, kann die Verunsicherung über das bisherige Leben so stark werden, dass auch andere Anomalien unerträglich sichtbar werden. Der Umstand etwa, dass die Zyklen der Natur, von denen wir noch immer abhängen, nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden können. Oder die Tatsache, dass die politische und ökonomische Globalität, von der wir abhängen, nicht mehr als stabil gelten darf. Oder dass die digitalen Technologien, die unser Leben bestimmen, mit einem immensen dystopischen Potenzial befrachtet sind.
So gesehen, hätte der Sommer 2020 das Potenzial gehabt, eine ganze Epoche ins Wanken zu bringen und die Suche nach einer anderen, lebbaren Normalität zu befördern. Allein, dazu ist es bis jetzt nicht gekommen. Denn ist unsere Normalität auch bis ins Mark erschüttert, hat sie, jenseits des altbekannten menschlichen Selbstbetrugs, doch mächtigere Immunreaktionen ausgebildet, als jede andere Normalität vor uns sie je gehabt hat.
Auch hier ist die frühere Pandemie ein gutes Beispiel: Führte die Pest von 1348/49 zu einem kompletten Zusammenbruch der zivilen Ordnung, so ist die zivile Ordnung im Rahmen der Corona-Maßnahmen nur stärker und stabiler geworden. Gerettet wurden damit nicht nur unzählige Menschenleben – gerettet wurde auch die Statik einer Normalität, die sonst nicht mehr gehalten hätte.
Dass dies möglich war, ist ein Triumph des Wissens, der sich tief in den Alltag hinein fortgesetzt hat. Man orientiert sich an den täglich publizierten Infektionszahlen, Statistiken, Prognosen, Hypothesen, Szenarien. Dabei sind die Zahlen zu Stützen der eigentlich brüchig gewordenen Normalität geworden: Im Rahmen dessen, was sie erlauben und nahelegen, führen wir unser bisheriges Leben weiter.
„Hört auf die Wissenschaft“, lautet die Losung, und tatsächlich wurden die Wissenschaften in der Corona-Zeit teilweise zu einer Macht, die staatliche Exekutiven und Legislativen in den Schatten stellte. Doch alsbald trat dabei ein Problem zutage: die Übersetzung von Wissen in Handeln.
Als Politik und Alltag sich in die Obhut epidemiologischer Erkenntnisse zu begeben suchten, wurde Entscheidung um Entscheidung getroffen, die für die seelische und soziale Gesundheit der an den Bildschirm und in die Wohnungen verbannten, vereinzelten Menschen ebenso fatal waren wie für die ökonomische, gesellschaftliche und politische Lage der Staaten. Das Wissen-Können ist im Verhältnis zum Handeln-Müssen immer zu eng. Und eine wissenschaftlich gewonnene Handlungsanweisung verhält sich zum Alltag etwa so wie eine Videokonferenz zu einem Abend mit Freunden.
Auch in der vermeintlichen Hinwendung zur Erforschung der eigentlichen Probleme trat damit ein Hintergrund zutage, den man nicht mehr so leicht zum Verschwinden bringen konnte: der Umstand, dass die Wissenschaften erstens weitaus weniger wissen, als man für eine sichere Entscheidungsgrundlage brauchte, und dass sie zweitens viel zu spezialisiert sind, viel zu partial vorgehen, als dass sie dem Anspruch gerecht werden könnten, den man an sie heranträgt.
Damit soll nun nicht gesagt sein, dass man auf die Wissenschaften nicht hören sollte. Im Gegenteil. Eine bessere Alternative haben wir nicht. Aber es ist wichtig, das nicht blind zu tun, das heißt: trotzdem wahrzunehmen, dass unsere Epoche bröckelt. Man muss wissen, was man tut, wenn man sich den Anomalien unserer Zeit auf eine von den Wissenschaften angeleitete Weise stellt, oder vielmehr: Man muss sich bewusst sein, dass auch die Wissenschaften an etlichen Problemen unserer Zeit „vorbeiwissen“ und dass die Wissenschaftlichkeit nicht nur eine Art und Weise ist, sich unserer Lage zu stellen, sondern dass sie auch eine Hilfe anbietet, um weiterhin an ihr vorbeileben zu können.
Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit alten Menschen. Denn zu diesen führten diesen Sommer nur wenige Reisen. Wohnen sie zu Hause, dann rät die Wissenschaft, sie als Risikogruppe durch Fernbleiben zu schützen. Leben sie in Alters- oder Pflegeheimen, wird man aus denselben Gründen teilweise gar nicht erst hineingelassen. Ob die alten Menschen selbst das Infektionsrisiko zugunsten menschlicher Nähe eingehen wollen, ist nicht entscheidend: Man schützt sie lieber vor sich selbst und vor dem Leben, das sie leben wollen.
Diese Haltung ist besonders merkwürdig, wenn man sie in einem Sommer antrifft, in dem gleichzeitig die Wissenschaften ignoriert werden, um fahrlässig eine Feriennormalität zu zelebrieren. Doch gibt es auch eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Haltungen: Denn beide leben letztlich an dem vorbei, was gerade eigentlich zu erleben wäre.
In dieser fortgeführten Erlebensunfähigkeit unterscheidet sich die Corona-Krise sehr markant von jener Krise, die vor fast 700 Jahren mit der Pest begann. Damals trat in der Unausweichlichkeit der erlebten Seuche zutage, dass das in Gott begründete Wissen über die Welt keine Normalität mehr zu tragen in der Lage war. Auf lange Sicht setzten sich dadurch die auf Gott verzichtenden Wissenschaften durch – es setzte sich Ockhams Rasiermesser durch, das Prinzip, dass man bei zwei Erklärungen für ein Phänomen immer die einfachere zu wählen habe. Und das wurde bald gedeutet als: diejenige ohne Gott und Engel.
Heute brechen keine Wissenschaften zusammen. Im Gegenteil. Doch es tritt zutage, dass die durch sie errichtete Normalität eine solche ist, die allem Unangenehmen und Schmerzlichen auszuweichen imstande ist. Das ist gut, insofern ihre Maßnahmen Chaos, Schmerz und Tod verhindern. Aber die Kehrseite dieses immensen Gewinns ist, dass wir so keineswegs dazu angeleitet werden, unsere Epoche zu erleben, sondern im Gegenteil dazu angehalten sind, all die technischen, medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Unterstützungen in Anspruch zu nehmen bei dem Versuch, sie nicht erleben zu müssen und stattdessen in einer Normalität zu verharren, die nicht mehr trägt.
Leitet dieser Sommer nun den Abschied einer Epoche ein, dann scheint dieser Abschied denkbar unwürdig: eine kollektive Normalitäts-Palliativmaßnahme gigantischen Ausmaßes. Das ist eine Haltung, die unsere Welt vielleicht am allerwenigsten brauchen kann. Dass sich unsere Gesellschaft irgendwann der Zäsur stellen könnte, scheint mir im Angesicht all dieser Maßnahmen eine falsche Hoffnung zu sein.
Zumindest bis sie sich bewahrheitet.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm