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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Wer sich mit den Stichwörtern „Stierkampf“ und „Covid-19“ auf eine Google-Suche macht, der stößt auf Texte in einer derzeit selten gewordenen Stimmung zwischen Euphorie und Selbstzufriedenheit. „Dem Virus gelingt, was Tierschutzaktivisten in Jahrzehnten nicht geschafft haben“ – dieser Titel aus einer indischen Tageszeitung markiert den gemeinsamen Nenner vielfältiger Reaktionen auf den Niedergang des spanischen Nationalspektakels. Während die populärsten Mannschaftssportarten dank medialer Präsenz und massiven Subventionen die Gegenwart ihrer leeren Stadien bisher überlebt haben, scheint das Ritual des Stierkampfs nach einer fast tausendjährigen Geschichte am sicheren Ende angelangt.
Schon vor Beginn der Pandemie hatte eine lange Reihe einschlägiger Symptome und Restriktionen im ökologisch moralisierten Klima unserer Gegenwart ihren Höhepunkt erreicht. Etwa mit dem Verbot von Stierkämpfen in Katalonien 2012, dem Ausschluss von Zuschauern unter 14 Jahren und von Übertragungen in den öffentlichen Medien, schließlich mit dem Ergebnis einer staatlichen Umfrage, nach der über 80 Prozent der jungen Spanier kein Interesse an dieser Tradition mehr haben.
Mittlerweile füllen die letzten Liebhaber im fortgeschrittenen Alter nicht einmal mehr die unter Bedingungen der sozialen Distanz verbleibenden Plätze in den Arenen. Eine Unterhaltungsbranche mit bis vor kurzem zwei Milliarden Euro Umsatz pro Jahr (und übrigens immer noch 13 Millionen Medienanhängern in China) steht vor dem Kollaps. Züchter von Kampfstieren verkaufen die herangewachsenen Tiere gegenwärtig für ein Zehntel des früher erzielten Preises an die Fleischindustrie.
Dieser unumkehrbare Trend verdeckt die Tatsache, dass die goldene Zeit des Rituals keine hundert Jahre zurückliegt und das Herzstück einer großartigen Epoche der spanischen Kultur bildete. In einer gnadenlosen Rivalität zwischen der sozialistischen und der konservativen Hälfte der Nation, die zum Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 führte, gab es außer dem Stierkampf keinen Gegenstand gemeinsamer Begeisterung.
Drei als größte Matadore aller Zeiten gefeierte Protagonisten hielten sie wach: der jung vollendete und von einem Stier zu Tode gebrachte Joselito, der alle klassischen Erwartungen überbietende Juan Belmonte und Ignacio Sánchez Mejías, der hinreißende Freund von Autoren, Musikern und Malern, auf dessen Sterben in der Arena Federico García Lorca ein bewegendes Klagegedicht schrieb. Mit der Veröffentlichung von Ernest Hemingways Buch „Tod am Nachmittag“ stiegen dann ab 1932 die existenzielle Deutung des Stierkampfs und seine Ästhetik zu auch international verpflichtenden Themen unter den Intellektuellen auf.
Wie kann man jene längst fremd gewordene Faszination historisch erklären? Wahrscheinlich war sie aus einer Konzentration auf den Tod als Teil der menschlichen Existenz entstanden, wie sie sich in der Philosophie seit Nietzsche angebahnt hatte und durch die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs auch Teil der breiten Kultur geworden war. Boxen, Bergsteigen oder das Durchschwimmen des Ärmelkanals mit den jeweiligen Risiken zogen nach 1918 die Aufmerksamkeit von Millionen auf sich, als der Fußball noch kein Trendsport war – und die Feuerbestattung zu einem Hauptthema der öffentlichen Debatten wurde.
Erstaunlicher aber als die Erinnerung an die Stierkampfbegeisterung von immer noch angesehenen Malern, Denkern und Literaten wirkt der im geschichtlichen Rückblick aufscheinende Umstand, dass kritischer Widerstand gegen die Corrida, wie sie in Spanien heißt, keinesfalls als Errungenschaft des vergangenen halben Jahrhunderts gelten kann. Er artikulierte sich so früh wie die ersten Spuren der Leidenschaft für gefährliche Spiele mit Stieren.
Ab dem Mittelalter war von ihnen immer wieder als Teil höfischer Feste die Rede, und schon bald nach 1200 verboten die „Siete Partidas“, ein Rechtskodex der kastilischen Monarchie, Klerikern jegliche Teilnahme. Philipp II. von Spanien, der als Herrscher seines Weltreichs die katholische Gegenreformation aufrechterhielt, musste langwierige Verhandlungen mit dem Vatikan führen, um von der Exkommunikation ausgenommen zu werden, welche die Kirche über Freunde des Stierkampfs – wie den König – verhängt hatte. Und noch um 1800 versuchten seine Nachfolger – nun im Namen der Aufklärung –, der Corrida ein Ende zu setzen.
Dies war aber auch die Zeit, als sich jenes hoch choreografierte Ritual entwickelte, das bis heute den Stierkampf ausmacht und dessen Vergangenheit Francisco de Goya 1816 in seiner Stichesammlung „Tauromaquia“ vorführte. Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit sind allein Kämpfe von adligen Reitern mit Stieren belegt. Erst nach 1600 war die lebensbedrohliche Konfrontation zwischen einem Menschen und einem Stier auf gleicher Ebene – zunächst als Passion des „niederen Volks“ – das Kernstück der Corrida. Aus dieser Grundkonstellation wurde sie dann in all ihren Dimensionen von mehreren Generationen der andalusischen Stierkämpferfamilie Romero auf die bis heute verbindliche Form gebracht.
Entgegen der politisch korrekten Meinung, dass Stierkämpfe niedrige Zuschauerfreude am Abschlachten von Tieren – und gelegentlich am tödlichen Unfall eines Matadors – bedienen, sind die drei Akte des Rituals so angelegt, dass sie einen Antagonismus zwischen Stier und Mensch mit Todesgefahr auf beiden Seiten inszenieren. Die Stiere müssen zwischen vier und sechs Jahre alt sein, das heißt auf dem Höhepunkt ihrer Kraftentfaltung, und mindestens 460 Kilo wiegen.
In der ersten Phase soll der Stierkämpfer die Möglichkeit nutzen, das besondere Raumverhalten des jeweiligen Tiers zu erfassen. Diese Fähigkeit sah der Philosoph Ortega y Gasset als das wesentliche Talent eines Matadors an. Danach reduzieren die Picadores als lanzenbewehrte Reiter die Energie des Tiers durch Blutverlust, während die Banderillas, die dem angreifenden Stier in den Rücken gerammt werden, seine Aggression verschärfen sollen.
„Chancengleichheit“ oder gar „Fairness“ wie beim Boxen oder beim Ringen kann im Kampf zwischen einem Tier und einem Menschen nicht aufkommen. Eben deshalb ist die Corrida kein Sport, sondern ein Ritual, das die Verschiedenheit der wechselseitigen Todesbedrohungen zwischen Tier und Mensch als elementare Situation vergegenwärtigt. Es handelt sich um eine unvermeidlich mit elementarer Männlichkeit aufgeladene Situation, weil nur ein männliches Tier die vorausgesetzte Bedrohung vergegenwärtigen kann – ungeachtet der Tatsache, dass in der späten Zeit des Stierkampfs Frauen mühelos die Männerrolle übernommen haben.
Zuschauer, die sich auf dieses Ritual einzustellen verstehen (und das sind Frauen ebenso wie Männer), bewundern die überwältigende Kraft des Stiers und die kompakte Eleganz seines potenziell tödlichen Angriffs nicht weniger als den Todesmut des Matadors und die beherrschte Genauigkeit seines Schwertstoßes, der das Leben des Stiers plötzlich beendet. Die meisten berühmten Stierkämpfer sind in der Arena gestorben, und eine – freilich nur selten abgerufene – Regel der Corrida sieht vor, dass besonders eindrucksvollen Stieren der von Menschen vollzogene Tod erspart werden soll.
In den Texten der Corrida-Bewunderung war es zu einer schönen Konvention geworden, die abschließende Phase des Kampfs zwischen Matador und Stier als einen Tanz zu feiern. Und es trifft zu, dass beide in charismatischen Augenblicken einen Rhythmus finden, dessen immer neue Formen sich wechselseitig hervorbringen. Doch in diesem Tanz wird – asymmetrisch – auch eine je verschiedene Nähe des Todes präsent, die auf der Seite des Menschen in eine Sehnsucht nach dem Tod – vielleicht als Rückkehr zum Status der Materie – umschlagen kann. Diese Ahnung beschwört eine Strophe von Lorcas Gedicht auf den Arena-Tod von Ignacio Sánchez Mejías herauf:
Niemand kennt dich mehr. Niemand. Aber ich besinge dich.
Ich besinge die Form deines Körpers und deine Anmut für spätere Zeiten.
Die berühmte Reife deines Wissens.
Deine Lust nach dem Tod und den Geschmack seines Mundes.
Die Traurigkeit in deiner mutigen Freude.
Was gewinnt unsere Kultur mit der Abschaffung des Stierkampfs? Sie wird den Selbstverdacht los, einer Unterhaltung angesichts der Qual von Tieren Vorschub zu leisten – und macht sich dabei das Kompliment, dies als freies Zugeständnis von Rechten zu tun, wie sie Tiere naturgemäß nie einfordern werden. Anders formuliert: Maßnahmen im Stil des Corrida-Verbots entstehen aus dem neuen Selbstbild einer Menschheit, die Gefühle ihrer kosmischen „Solidarität“ mit Tieren, Pflanzen und zunehmend auch Dingen entdeckt hat. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden.
Kosmische Solidarität geht allerdings mit dem Wunsch einher, das – evolutionär gewisse – Ende der Menschheitspräsenz auf unserem Planeten ins Unendliche aufzuschieben oder womöglich ganz aufzuheben. Und dieser Wunsch besetzt den Horizont einer Kultur, die das Erleben des menschlichen Todes als Ende je eigener Existenz in ihrem Alltag unsichtbar gemacht hat.
Rituale der Todesvergegenwärtigung generell hält sie für so unerträglich wie schon die Theologen des spanischen Mittelalters. Deshalb passt es, dass die Zeit der Pandemie die Dekadenzgeschichte des Stierkampfs zum Ende bringt. Denn sie vollzieht sich ja im allerbesten Willen, den Tod statistisch und kollektiv, aber nie individuell ins Auge zu fassen.
Dieser Artikel ist am 23. Januar unter dem Titel „Der spanische Stierkampf ist bald Geschichte: Erinnerung an ein faszinierendes Ritual“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm