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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Nach gut tausend Seiten Lektüre entlang von zwei der bekanntesten Balzac-Romane, den „Illusions perdues“ und den „Splendeurs et misères des courtisanes“, die das Schicksal von Lucien de Rubempré erzählen, einem ehrgeizigen jungen Mann aus Angoulême in Südwestfrankreich, erwartet den Leser eine schockierende Szene. An Naivität und Opportunismus bei dem Versuch gescheitert, in Paris zum berühmten Dichter aufzusteigen, war Lucien in die provinzielle Heimat geflüchtet und wollte Hand an sich legen, weil er seine Schwester und ihren Mann mit drei gefälschten Schuldscheinen finanziell ruiniert hatte.
Doch ein spanischer Abt, hinter dem sich der verurteilte Kriminelle Jacques Collin in seiner Rolle als Bankier Vautrin verbirgt, bringt Lucien ins Leben und in die Hauptstadt zurück mit dem Versprechen auf Erfüllung seiner Träume, das an eine Bedingung geknüpft ist: Lucien muss jegliche Anweisungen Collins blind befolgen. Und der neue Anlauf zur Eroberung von Paris verläuft reibungslos nach Plan, bis Lucien verhaftet wird und unter dem Druck von Verhören die Identität des vermeintlichen Abts preisgibt.
Als Collin vom Gefängnisarzt erfährt, dass sein Schutzbefohlener sich in einer Zelle erhängt hat, reagiert er mit der Intensität eines wilden Tiers: „Nie hat ein Tiger, dem die Jungen geraubt wurden, den indischen Dschungel mit einem so furchtbaren Schrei erschreckt wie Jacques Collin, der gleichsam auf Tigertatzen nach vorne sprang, einen Blick so feurig wie ein Gewitterblitz auf den Arzt warf und dann mit den Worten auf sein Feldbett sank: ,Oh, mein Sohn!...‘“
An keiner anderen Stelle in Balzacs gigantischem Werk kommen die spezifischen Dimensionen und Wirkungen seines Schreibens zu derart drastischer Intensität zusammen: das weithergeholte Bild von der Tigermutter, mit dem sich Collins Schmerz in unsere Vorstellung einbrennt; die ebenso unvermeidliche wie unbeantwortbare Frage, aus welcher Bewegung von Leidenschaft solch übermenschlicher Schmerz hervorbrechen konnte; und vor allem ein Heraufbeschwören fiktionaler Momente, das nicht bei plausiblen Details aus der Wirklichkeit stehenbleibt, sondern sich – wie bei Homer, Dante oder Shakespeare – mittels extremer Effekte der Sprache zu mythologischen Konturen verdichtet. Dies ist der wahre Schmerz, denken wir, wenn wir auf Collins Tigerschrei stoßen.
Immer wieder überschießt die Kraft von Balzacs Imagination so den vorbewussten Impuls aller realistischen Autoren aus dem 19. Jahrhundert, eine damals um sich greifende Skepsis gegenüber jeder objektiven Erfassung der Welt wahrzunehmen und durchzuarbeiten. Dieser maximalen Herausforderung stellte er das Projekt einer umfassenden Typologie der Menschheit entgegen, die einerseits den nach 1800 entstehenden Systemen der wissenschaftlichen Zoologie entsprechen sollte und der er andererseits den von Dantes Gedicht über die göttliche Schöpfung abgeleiteten Titel „La Comédie humaine“ gab.
Als „Sekretär der französischen Gesellschaft“, wie er sich gerne nannte, schrieb Honoré de Balzac über das letzte Drittel seines 1850 endenden Lebens in etwa hundert Romanen gegen die Wirklichkeitszweifel an, indem er alle zeitgenössischen sozialen Gruppen und Situationen, alle Berufe und alle Regionen innerhalb der komplizierten Architektur seiner Kategorien und Konzepte veranschaulichte. Weil er dabei meist an den Rhythmus regelmäßiger Textfortsetzungen in Zeitschriften gebunden war, muss Balzac zugleich eine hektische Gegendynamik zu seinem übergreifenden Entwurf gespürt haben, die dessen Einlösung undenkbar machte.
Über 3000 Protagonisten entstanden aus dieser Spannung, und bei den eindrucksvollsten unter ihnen schlägt der typologische Ansatz – wie etwa die Szene von Collins Schmerz – in individuelle Profile von Leidenschaft um. Der Vater Goriot etwa, aus dem nach ihm benannten Roman von 1835, verbringt seine späten Lebensjahre als ärmliche Gestalt in einer Pension der Hauptstadt, da er alle Ersparnisse auf die gesellschaftlichen Fantasien seiner Töchter gesetzt hat, die nicht einmal die Zeit finden, sich von ihm auf dem Sterbebett zu verabschieden. Cousine Bette, eine von Balzacs letzten Titelheldinnen, wird als enttäuschte Jungfer vom Neid auf ihre erfolgreichen Verwandten zu gnadenlosen Intrigen getrieben, die deren Existenz zerstören, ohne dass sie je den Grund für ihren Untergang ahnen.
Die literaturgeschichtliche Forschung hat nachgewiesen, dass die meisten dieser Motive und Episoden ihren Ursprung in Balzacs Leben hatten, und macht so ein Nachdenken über die Frage möglich, warum seine eindrucksvollsten Charaktere Opfer der Gesellschaft sind. Noch als hochbewunderter Autor war er selbst in nie endenden Konflikten mit den Bewegungen konfrontiert, aus denen die bürgerlich-kapitalistische Welt entstand – und die er vergeblich zu seinem Vorteil zu nutzen bemüht war.
Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, hatte Balzacs Vater im Umbruch der Französischen Revolution soliden Besitzstand erworben und für den Sohn eine Karriere als Jurist vorgesehen; der jedoch setzte auf seine – zunächst ohne Resonanz bleibende – poetische Begabung und wurde mit dem Entzug aller finanziellen Unterstützung bestraft. Als 1830 eine konstitutionelle Monarchie an die Stelle der absoluten Bourbonenherrschaft trat, entschloss sich Balzac, für die abgelebte „legitimistische“ Tradition zu kämpfen. Und selbst die erheblichen Einkünfte seiner Erfolgsjahre investierte er in Unternehmen, die ohne Ausnahme auf den Weg des Scheiterns gerieten.
So hielt der Zwang an, dass er, von starkem Kaffee aufgeputscht, über Nacht die je nächste Schreibverpflichtung einlöste. Dass diese Anstrengung ohne Aussicht auf ein Ende früh seine physische Kraft zu brechen begann, belegen die Gesichtszüge auf einer Fotografie des 42-jährigen Balzac. Noch kurz vor dem Lebensende spielte er mit dem Traum, in der heutigen Ukraine eine Waldregion aufzukaufen und in der Holzverarbeitungsindustrie ein reicher Mann zu werden.
Sein literarischer Durchbruch war Balzac 1833, ein Jahr nach der Intuition vom Gesamtkonzept der „Comédie humaine“, mit dem Provinzroman von „Eugénie Grandet“ gelungen, der zwei entgegengesetzte Pole der Leidenschaft illustriert. Félix Grandet, Eugénies Vater, hat jede Gelegenheit der Jahre seit 1789 genutzt, um die eigenen Einkünfte als Küfermeister und das beträchtliche Erbe seiner Frau zu einem ungeahnten Vermögen anwachsen zu lassen. Hinter dem Erfolg freilich steht eine monomane Fixierung auf Geld in der Form von Metallstücken, die an Molières „Geizigen“ erinnert und also zur Vergangenheit gehört.
Noch im letzten Augenblick seines Lebens führt diese zur Sucht gewordene Leidenschaft Grandet zu einer verstörenden Geste von Profanierung: „Als der Priester der Pfarrei kam, um ihm das Sterbesakrament zu verabreichen, hellten sich seine Augen, die schon seit einigen Stunden ihr Licht verloren zu haben schienen, zu einem letzten Leuchten auf im Angesicht des Kreuzes, der Kerzen und des silbernen Weihwasserkessels, die er in einer letzten Konzentration anstarrte. Als dann der Geistliche das Kruzifix seinen Lippen annäherte, damit er die Christus-Figur küssen konnte, schnellte er nach vorn, um sie zu ergreifen, und diese letzte Anstrengung kostete ihm das Leben.“
Eugénie, Grandets einzige Tochter, ist beim Tod ihres Vaters eine der damals sprichwörtlichen „Frauen von dreißig Jahren“, das hieß: eine Frau nach dem Ende der Jugend, und lebt in Erwartung ihres Vetters Charles, der ihr vor langer Zeit bei einem überstürzten Aufbruch nach Indien ewige Liebe geschworen hatte, um einige Goldstücke – Geburtstagsgeschenke des Vaters Grandet an seine Erbin – in die Hand zu bekommen. Tatsächlich erreicht Eugénie bald ein Brief von Charles, der seine bevorstehende Heirat mit einer Frau aus der höheren Gesellschaft von Paris ankündigt und im Postskriptum Anweisungen für die Erstattung des Werts der Goldstücke per Bankanweisung hinzufügt. So endet auch das Leben der Tochter Grandet mit ihrer Leidenschaft – und dem Entschluss, die ihr verbleibenden Jahrzehnte Werken der Wohlfahrt zu widmen, „ohne ihre Seele im Kontakt mit der Welt zu beschmutzen“ und in der wachsenden „Strenge eines alternden Fräuleins aus der Provinz“.
Georg Lukács, der bedeutendste Literaturkritiker aus der marxistischen Tradition, hat als „Triumph der realistischen Ästhetik“ die Erfahrung gefeiert, dass solche Szenen des Traditionalisten Balzac den Aufstieg des Kapitalismus als neuer sozialer Kraft genauer und anschaulicher vergegenwärtigen als die Werke der kompetentesten – und linientreuesten – Historiker. Wer sich heute genug Covid-Zeit nimmt, um in Balzacs Romane einzutauchen, der wird eine singulär lebhafte Vergegenwärtigung von Vergangenheit erleben, aber auch die Formel von der „realistischen Ästhetik“ anders – und besser – entfalten können als Lukács. Denn Balzacs Prosa strahlt Satz für Satz die Kraft, die Drastik und manchmal auch die Hast eines von der Geschichte Getriebenen ab, die Hektik eines Opfers der Geschichte. Mehr noch als ihre Themen und Helden versetzt uns diese Sprache in die Bewegung einer nicht mehr existierenden Welt.
Dieser Artikel ist am 4. März unter dem Titel „Tiger-Schrei“ in Die Weltwoche erschienen.
Titelbild:
| Laura Kapfer / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Filo gèn / Eigenes Werk (1983), Gruppo Éditoriale Fabbri S.p.a., Milan / Le livre de Paris-Hachette (1984), Biblio-Club de France (CC0 Public Domain) | Link
| Honoré de Balzac / Bibliothèque Municipale de Tours (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm