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Alexander Eisenkopf studierte Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Nach seiner Promotion über Just in Time-orientierte Fertigungs- und Logistikstrategien arbeitete und lehrte Eisenkopf in Gießen und Frankfurt. Seit 2003 ist Eisenkopf Professor an der Zeppelin Universität und Gastdozent an der Wiener Wirtschaftsuniversität. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf Mobilität und Transportunternehmen.
„Die Eisenbahn zum Rückgrat der Verkehrswende machen“, lautete ein Beschlussantrag der Grünen an den Deutschen Bundestag vom 30. Januar 2019: „Rückgrat der Verkehrswende ist eine moderne, leistungsfähige Bahn, die mit attraktiven Angeboten im Personen- wie Güterverkehr neue Fahrgäste und Kunden gewinnt. Die Schiene ist prädestiniert dafür, Leistungsträger einer ökologischen Verkehrswende zu sein: Im Vergleich zum Straßenverkehr werden Personen und Güter mit einem Bruchteil der Energie, bei minimaler Flächeninanspruchnahme und einem Maximum an Sicherheit bewegt.“
Damit wäre also der Weg zur Verkehrswende klar und die „Bahn“ in der Pole-Position bei diesem Vorhaben. Bedauerlicherweise ist jedoch das, was in der Öffentlichkeit gemeinhin mit der „Bahn“ identifiziert wird – nämlich die Deutsche Bahn AG – von der Rolle des Leistungsträgers einer ökologischen Verkehrswende weit entfernt. Und das liegt nicht nur an Corona beziehungsweise der bundesdeutschen Pandemiepolitik. Dass die Deutsche Bahn heute wirtschaftlich angeschlagen ist und immer mehr am Tropf staatlicher Subventionen hängt, ist vor allem ein Resultat langjährigen Missmanagements und Politikversagens. Bereits vor der Corona-Krise war das Unternehmen weitgehend heruntergewirtschaftet – und dies nur ein Vierteljahrhundert nach der in der Rückschau immer wieder glorifizierten Bahnreform. Glücklicherweise ist die Deutsche Bahn AG aber eben nicht alles, was Bahn ist. Mit ihrer Monopolistenrolle beim Schienenfernverkehr und insbesondere bei der Schieneninfrastruktur stellt sie jedoch auch die Weichen für die anderen, durchaus erfolgreichen Eisenbahnunternehmen und das häufig so, dass auch deren Züge aufs Abstellgleis rollen müssen.
Bereits im September 2019 erstellte der Bundesrechnungshof einen Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages „zur aktuellen finanziellen Situation der Deutschen Bahn AG“, der außerhalb der engeren Fachöffentlichkeit weitgehend unbeachtet blieb. Dieser Prüfbericht sprach von einer „besorgniserregenden wirtschaftlichen Entwicklung“ des Staatskonzerns und einem Finanzloch in Milliardenhöhe: „Bereits bis Ende des Jahres 2019 wird eine signifikante Finanzierungslücke von fast 3 Milliarden Euro bestehen.“ Die DB AG könne ihre Investitionen nicht aus eigener Kraft finanzieren, sollte der Verkauf der Tochtergesellschaft Arriva fehlschlagen. Mittelfristig stehe der Staatskonzern wegen der notwendigen Beschaffung neuer Züge, der erforderlichen Digitalisierungsoffensive und des Projektes Stuttgart 21 vor finanziellen Herausforderungen, die er nicht durch operativ erwirtschaftete Cashflows auffangen könne.
Übersetzt man diese Botschaft in Klartext, dann heißt das doch wohl, dass die Strategie des Managements der Deutschen Bahn AG schon länger auf Sand gebaut war und das Unternehmen einzig und allein deshalb noch nicht gegen den Prellbock gefahren ist, weil der Bund als Alleineigentümer theoretisch beliebig viel Eigenkapital nachschießen kann beziehungsweise der Bundeshaushalt bei entsprechender Beschlusslage die unbegrenzte Schuldentragfähigkeit garantiert: Aus politischen Gründen ist die Insolvenz des bundeseigenen Schienenverkehrsunternehmens ein unmögliches Ereignis, ein Non-Event. Das hat allerdings nichts mehr mit dem Verständnis der Bahn als Wirtschaftsunternehmen zu tun, wie es sich die Väter der Bahnreform Anfang der 90er-Jahre für die Deutsche Bahn vorgestellt hatten, um der eklatanten Misswirtschaft und ausufernden Verschuldung der damaligen Deutschen Bundesbahn zu begegnen. Bereits der verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt soll gesagt haben, dass man sich in Deutschland entweder eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn leisten könne.
Ohne zusätzliche Kredite und Subventionen aus öffentlichen Mitteln wäre bereits vor Corona ein Schrumpfkurs sowie ein Radikalumbau des Konzerns notwendig gewesen, um sein Überleben zu sichern. Alternativ hätte man sich in der Politik ehrlich machen müssen, um die erforderlichen zusätzlichen öffentlichen Finanzmittel im Sinne eines klaren Leistungsauftrages und einer dauerhaft tragfähigen Struktur des Bahnkonzerns zu rechtfertigen. Leider hat der verantwortliche Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer vor allem Stuhlkreise initialisiert, schöne Geschichten vom Deutschlandtakt und der Wiederbelebung des Trans-Europ-Express erzählt und zwischendurch mehrfach die Führung der Deutschen Bahn AG wie Schuljungen ins Ministerium einbestellt.
Man erinnere sich an die Chaostage bei der Deutschen Bahn im Frühjahr 2019. Vorausgegangen war ein Brandbrief des Konzernvorstandes an seine Führungskräfte, in dem dieser die besorgniserregende Lage des Unternehmens schonungslos benannte, ein Ausgabenmoratorium anordnete und zum Zusammenrücken im „Systemverbund“ aufforderte. Aufgeheizt wurde die Stimmung anschließend durch den vom Bundesverkehrsminister installierten „Bahn-Beauftragten“ Enak Ferlemann, der in Interviews der Bahn vorwarf, sie produziere zu ineffizient und zu teuer; außerdem gäbe es ein massives Managementversagen. Die Rede war von einer Lehmschicht des mittleren Managements, die sich zwischen dem Vorstand und der operativen Ebene ausgebreitet habe. Was ist eigentlich seither an strukturellen Reformen in diesem Unternehmen in Gang gesetzt worden?
Bereits drei Jahr zuvor, Im Jahr 2016, waren die wirtschaftlichen Probleme des angeschlagenen Staatskonzerns so drängend, dass der Bund eine Kapitalerhöhung in Höhe von 1 Milliarde Euro gewährte und seine Dividendenforderungen von 2017 bis 2020 um kumuliert 1,4 Milliarden Euro reduzieren wollte, auch um die Diskussion um eine ansonsten notwendige Teilprivatisierung der Tochtergesellschaften Arriva und Schenker zu vermeiden. Im damaligen Wahlkampf waren die Bahn und das wirtschaftliche Versagen des Bahn-Managements so zunächst einmal aus der Schusslinie, also das politische Ziel erreicht. Mit einem Masterplan Schienengüterverkehr und dem Versprechen, die Trassenpreise zu halbieren, versuchte der damalige Verkehrsminister Alexander Dobrindt zum Ende der Legislaturperiode dann sogar noch, bei den Bahnfreunden in der Republik zu punkten.
Mit Masterplänen und Arbeitskreisen ging es wie gesagt auch unter Scheuer weiter. So wurde ein Zukunftsbündnis Schiene gegründet und Ende 2020 Juni ein Masterplan Schienenverkehr verabschiedet, den der Lenkungskreis des Zukunftsbündnisses Schiene beschlossen hatte. In wohlgesetzten Worten werden in diesem Dokument die Herausforderungen der Zukunft und Ansätze zu deren Bewältigung beschrieben. Es geht darum, die Bahn pünktlicher, zuverlässiger, wettbewerbsfähiger, (noch) klimafreundlicher, innovativer und als Arbeitgeber attraktiver zu machen. Das hört sich sehr gut an, aber nicht nur das Preisschild an diesem Plan ist gewaltig, auch die zu überwindenden Hindernisse sind es. Insbesondere die dritte Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung im Gesamtvolumen von 86 Milliarden über zehn Jahre, aber auch die Maßnahmen im Rahmen des Klimaschutzplans 2030 und die großzügige Erhöhung der Regionalisierungsmittel weiten das finanzielle Engagement der öffentlichen Hand massiv aus, ohne dass eine ausreichende Kontrolle der Effizienz der Mittelverwendung sichergestellt ist. Diese wird auch immer wieder vom Rechnungshof angemahnt, der wenig erfolgreich eine bessere und intensivere Regulierung und Überwachung fordert.
Nach wie vor ist und bleibt die Deutsche Bahn der systemrelevante Player im deutschen Schienenverkehrsmarkt. Sie ist Quasi-Monopolist im Schienenpersonenfernverkehr und hat im Nahverkehr immer noch einen Marktanteil von 64 Prozent (2019); beim Schienengüterverkehr bedienen die Wettbewerber mittlerweile mehr als die Hälfte der Kunden (gemessen in Tonnenkilometern). Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Branche ist aber ihre Rolle als Infrastrukturmonopolist. Hier entscheidet sich, ob ausreichend Kapazität für die großen Ziele der Verkehrswende bereitgestellt werden kann und wie der Wettbewerb im Schienenverkehr in Zukunft aussehen wird. Und wenn in der regulierten Infrastruktur die wesentliche Quelle der Bahngewinne in der Vergangenheit liegt, wie der Bundesrechnungshof feststellt (im Jahr 2018 1,2 von 1,8 Milliarden des unbereinigten EBIT) scheint im System etwas nicht stimmig zu sein.
Auch bei grenzenlosem Optimismus stand der Traum von einer Verkehrswende mit einem maroden Systempartner Deutsche Bahn seit langem in den Sternen. Und jetzt wurden auch noch die ökonomischen Zeitbomben (massive Kundenverluste im Güterverkehr, zerbröselnde Infrastruktur, Stuttgart 21, Arriva und andere chronisch defizitäre Beteiligungen) durch Corona scharfgeschaltet. Wir reden von einem aktuellen Schuldenstand von rund 30 Milliarden Euro – man beachte, dass die Deutsche Bahn AG beim Start 1994 um 67 Milliarden DM entschuldet wurde und damit praktisch schuldenfrei war.
Von den Bruttoinvestitionen des Jahres 2020 in Höhe von 14,4 Milliarden Euro stammten 8,5 Milliarden (60 Prozent) aus öffentlichen Mitteln; dies geht auch in den nächsten Jahren so weiter, da nicht nur Neu- und Ausbau, sondern auch Erhaltungsinvestitionen ins Netz über die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung im Wesentlichen aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Trassenpreise decken mittlerweile nur noch einen Bruchteil der relevanten Infrastrukturkosten. Nach einem Verlust von 5,7 Milliarden Euro im Jahr 2020 ist die Deutsche Bahn AG finanziell ausgeblutet. Die Eigenkapitalquote beträgt gerade noch 11 Prozent. Während der Einbruch der Fahrgastzahlen im Nah- und Fernverkehr (minus 42 beziehungsweise 46 Prozent) angesichts der Pandemiepolitik schmerzlich, aber nachvollziehbar ist, überrascht der neue Rekordverlust der Güterverkehrssparte (728 Millionen Euro) bei einem Mengenrückgang von 8 Prozent, der sechste Verlustausweis in Serie. Nicht nur mit Corona zu tun hat auch der Verlust von 1,4 Milliarden Euro aufgrund einer Sonderabschreibung auf Arriva – der Tochtergesellschaft wurde wegen schlechter Betriebsqualität fünf Jahre vor Ablauf das Northern-Rail-Franchise in Großbritannien entzogen.
Mit dem auf 17,5 Prozent abgesackten Marktanteil der Schiene im deutschen Güterverkehrsmarkt erscheint das Ziel der Bundesregierung von 25 Prozent im Jahr 2030 – die Grünen hoffen sogar auf 30 Prozent – bei realistischer Betrachtung nahezu unerreichbar. In der vergangenen Dekade bis 2019 war es gerade einmal gelungen, den Modal Split der Schiene um 2 Prozentpunkte zu steigern. Diese Marktanteilssteigerung ging allerdings nicht zu Lasten des Straßengüterverkehrs, der stabil bei knapp über 70 Prozent lag, sondern marginalisierte vor allem die Binnenschifffahrt.
Um die Zielmarke der Bundesregierung zu erreichen, müsste die Verkehrsleistung des Schienengüterverkehrs insgesamt innerhalb von wenigen Jahren vom Vor-Corona-Niveau aus schätzungsweise um die Hälfte steigen! Und das bei voraussichtlich rückläufigen Transportmengen in den Grundstoffindustrien (Erze, Kohle, Stahl), dem traditionellen Kerngeschäft der Eisenbahn, während der Straßengüterverkehr munter weiter wächst. Auch die Verdopplung der Passagierzahlen im Fernverkehr wäre bereits ohne den Corona-Einbruch trotz anhaltend hoher Investitionen in Infrastruktur und Rollmaterial extrem sportlich gewesen – und hätte die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs (Marktanteil rund vier Fünftel) trotzdem nur leicht angekratzt. Bleiben die Fahrgäste wegen Corona der Bahn länger fern, erweist sich der Ausbau der Fernverkehrsflotte um 25 Prozent auf bis zu 600 Einheiten als teurer Flop. Vor 2023 ist aber mit Sicherheit nicht mit einer Rückkehr der Fahrgastzahlen auf das Niveau vor Corona zu rechnen.
Wie ein Märchen muss es daher anmuten, dass für das Misserfolgsmanagement der Konzernführung auch noch Prämien gewährt werden. So wird berichtet, dass sowohl der Vorstandsvorsitzende Richard Lutz als auch die Vorstände Ronald Pofalla und Berthold Huber vom politisch dominierten Aufsichtsrat vorzeitige Vertragsverlängerungen und absehbare Erhöhungen ihrer Bezüge erhalten haben. Ein Schelm, wer vor der Bundestagswahl im September Böses dabei denkt. In jedem anderen Wirtschaftsunternehmen wäre das consilium abeundi für die Führungsriege die zwangsläufige und dringend notwendige Lösung gewesen. Seit an Seit mit Politik und Gewerkschaften lässt sich dagegen im Bahntower mit Steuergeldern angenehm weiter wirtschaften und von der Verkehrswende und der großen Zukunft der Bahn fabulieren.
Alle, die von dieser Deutschen Bahn AG einen wirklich relevanten Beitrag zur sogenannten Verkehrswende und zum Klimaschutz erwarten, sollten endlich wach werden und den Realitäten ins Auge sehen. Es geht der Führung der Deutschen Bahn anscheinend nur noch um Besitzstandswahrung, Zugang zu Subventionen und den Erhalt von Marktmacht – und der Politik darum, das Thema aus dem anstehenden Bundestagswahlkampf herauszuhalten. An strukturellen Reformen für eine bessere Bahn der Zukunft (Bahnreform 2.0) hat derzeit wohl niemand ein Interesse.
Obwohl Geld in Zeiten von Corona keine Rolle zu spielen scheint, wird die anstehende Eigenkapitalaufstockung im Rahmen der milliardenschweren staatlichen Corona- und Klima-Subventionen für die Deutsche Bahn somit der Lackmustest der Verkehrspolitik. Sie wird unter dem Vorzeichen von Corona und des Klimas gefordert, ist aber letztlich ganz klar den unternehmerischen und politischen Fehlleistungen der vergangenen Dekade geschuldet. Bei den Wettbewerbern wächst zudem die Sorge, dass exklusive Eigenkapitalhilfen für das bundeseigene Unternehmen die Rahmenbedingungen des Wettbewerbes weiter verzerren und sie am Ende die Leidtragenden der Wiederbelebung und Stärkung des Platzhirsches sind. Glücklicherweise schaut die EU-Kommission mit Argusaugen auf die Zulässigkeit derartiger staatlicher Beihilfen, sodass der Ausgang weiter offen ist.
„25 Jahre nach der Bahnreform ist der Schienenverkehr in Deutschland weit von überzeugenden Leistungen entfernt“, stellten auch die Grünen in ihrem eingangs erwähnten Beschlussantrag fest. Unter ihren zahlreichen Forderungen in diesem Antrag war auch die nach einer grundlegenden Strukturreform der Deutschen Bahn inklusive der Herauslösung der Netzsparte aus dem Staatskonzern. Leider findet sich diese Forderung in ihrem aktuellen Wahlprogrammentwurf nicht mehr wieder. Der Staatskonzern soll zwar transparenter und effizienter werden, aber am Ende ist für die Partei die Bahn ein „öffentliches, soziales Gut und das Rückgrat einer nachhaltigen Mobilitätswende“. Öffentlich und sozial ist die Deutsche Bahn heute schon – so kann das leider nichts mit der Verkehrswende werden.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Alexander Eisenkopf
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm