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Anja Blanke ist seit November 2020 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Moderne China-Studien. Sie studierte Regionalstudien Asien/Afrika an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Sinologie an der Freien Universität Berlin. Von 2016 bis 2020 war sie Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ sowie am Institut für Chinastudien an der Freien Universität Berlin. Während ihrer Promotion führten sie Forschungsaufenthalte nach Peking, Washington, D.C., und Stanford. Im Jahr 2018 war sie als Gastwissenschaftlerin am Institute of Asian Research an der University of British Columbia in Vancouver. In ihrer im April 2021 bei DeGruyter erschienenen Monographie beschäftigt sie sich mit konkurrierenden Narrativen zur Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas.
Man muss mehr als nur einen flüchtigen Blick in die Vergangenheit Chinas werfen, um die ideologische Entwicklung Chinas unter Xi Jinping verstehen zu können. Wenn man genauer hinschaut, kann man feststellen, dass sich das ideologische Gerüst Xi Jinpings nicht nur erheblich vom kulturrevolutionären Maoismus unterscheidet, sondern dass es sich aus sehr unterschiedlichen Vergangenheitsbezügen speist. Zwar lässt sich seit seinem Amtsantritt durchaus eine starke Revitalisierung der Mao-Zedong-Ideen beziehungsweise bestimmter Aspekte des Maoismus erkennen. Die politische Ideologie Xi Jinpings basiert jedoch nicht nur auf dem „Maoismus“. Vielmehr werden hier ganz bestimmte Bilder und Narrative der chinesischen Geschichte miteinander kombiniert, so auch die für die Partei positiven und legitimitätsfördernden Aspekte der historischen Erben der wichtigsten Figuren der modernen chinesischen Geschichte.
Allerdings ist es so, dass die Aspekte des Maoismus, die in die politischen Ideen und Konzepte der Präsidentschaft Xis Einzug finden, sich im Wesentlichen auf Teile des organisatorischen Maoismus der Yan’aner Jahre (1937-45) beziehen. Dieser wurde während des VII. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Jahr 1945 als Leitprinzip der Partei implementiert. Dazu gehören auch das von Xi Jinping immer wieder hervorgehobene Konzept der Massenlinie sowie das Prinzip der Kritik und Selbstkritik. Seit seinem Amtsantritt lässt sich eine deutliche rhetorische und politische Wiederbelebung dieser Ideen, die der Verbesserung der Parteiarbeit dienen soll, beobachten.
Diese Entwicklungen bedeuten also noch lange nicht, dass Xi ein Mao 2.0 ist, denn die Sache verhält sich um einiges komplizierter. Der Aufbau der Xi’schen Ideologie muss dabei als Prozess betrachtet werden, der auf einem Überdenken der modernen chinesischen Geschichte beruht. Diese Entwicklung erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt rund um den XIX. Parteitag im Herbst 2017. Xi Jinping beschrieb in seinem Bericht das neue historische Narrativ als Aufstieg des chinesischen Volkes, dem es demnach zunächst gelungen sei aufzustehen, dann reich und schließlich mächtig zu werden. Dies lässt sich als neue Einteilung der Geschichte der Volksrepublik China und der KPCh in drei Zeitabschnitte interpretieren, welche sich direkt auf Mao Zedong (aufstehen), Deng Xiaoping (reich werden) und Xi Jinping selbst (mächtig werden) beziehen.
Dies suggeriert, dass Xis Amtsübernahme – genauso wie der Ausbau seiner Macht – als logische Weiterentwicklung beziehungsweise als legitimiertes Erbe der bis dato mächtigsten Führer der Volksrepublik, Mao Zedong und Deng Xiaoping, angesehen werden soll. Somit hat Xi Jinping, seit 2013 nach außen hin sichtbar, seinen eigenen „-ismus“ kreiert, mit dem er eine neue Ära einläutete und der sich selektiv auf bestimmte Aspekte, Ideen, Bilder, Narrative und manchmal sogar Methoden der Ikone Mao Zedong bezieht. Das vorläufige Ergebnis dessen wurde während des XIX. Parteitags der KPCh in Form der Xi-Jinping-Ideen zum Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära in die Verfassung aufgenommen.
Die Xi’sche Wiederbelebung einer Parteiorthodoxie maoistischer Prägung schließt dabei jedoch die ikonoklastischen „späten“ Ideen Maos der Kulturrevolution klar aus – Xi lässt keinerlei Bestrebungen erkennen, die Klassenkämpfe oder Massenbewegungen der Jahre 1966 bis 1976 wiederzubeleben. Bereits im Dezember 2012 betonte er, dass es für die positiven Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre von entscheidender Bedeutung gewesen sei, aus den negativen Erfahrungen der Kulturrevolution zu lernen. Die kulturrevolutionären „Störungen“ würden seinem wirtschaftlichen Kurs klar im Wege stehen. Hingegen werden die von Xi wiederbelebten Aspekte des Maoismus durch einige Ideen Deng Xiaopings der Reformära sowie einer Prise Konfuzianismus komplementiert. Dementsprechend betont er seit seinem Amtsantritt immer wieder, dass sich die Weiterentwicklung Chinas an den Anleitungen der Deng-Xiaoping-Theorien und der fortwährenden Aufgabe der Reform und Öffnung orientieren müsse.
Eine Reihe von politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre hatten die Veränderungen der politischen Ideologie als Basis der politischen Legitimität der KPCh notwendig gemacht. Das Ziel ist letztlich die nachhaltige Stärkung der Herrschaftslegitimation der Partei, welche seit dem Sommer 1989 immer wieder ins Wanken zu geraten drohte. In den Jahren vor dem Amtsantritt Xi Jinpings waren es vor allem die zunehmende gesellschaftliche Spaltung oder Korruptionsfälle, in die hohe Beamte verwickelt waren, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Partei schwinden ließen. Deswegen ist es aus Sicht der Partei wichtig, dass sich das neue ideologische Gerüst nun als dominierendes Narrativ im kollektiven Gedächtnis der chinesischen Bevölkerung verfängt. Um dies zu erreichen, hat die Regierung unter Xi der ideologischen Bildung der Bevölkerung wieder einen deutlich höheren Stellenwert zugeordnet.
Die von Xi und seinen Anhängern revitalisierten Vergangenheitsbezüge stellen für die Partei allerdings auch ein zweischneidiges Schwert dar. Immerhin verbinden nicht alle Chinesen positive Erinnerungen mit Mao und Deng. Der große Sprung nach vorn, die Kulturrevolution oder die gewaltsame Niederschlagung der Studierendenproteste am Platz des Himmlischen Friedens haben in Teilen der Bevölkerung tiefe Narben hinterlassen. Und so setzt die Partei zum Schutz der legitimierenden Faktoren der Geschichte Chinas auch auf eine deutliche Intensivierung von Zensurmaßnahmen. Dieses Zusammenspiel von Zensur und ideologischer Bildung, das durchaus mit populistischen Elementen einhergeht, veranlasst die westlichen Medien immer wieder dazu, Xi Jinping zu einem Mao 2.0 zu verklären und die gegenwärtigen Entwicklungen mit der Zeit der Kulturrevolution zu vergleichen.
Zweifelsohne ist es wichtig, kritisch darüber zu berichten, dass diese Entwicklungen letztlich auch mit einer noch stärkeren Einschränkung von intellektuellen Freiheiten beziehungsweise Menschenrechten einhergehen, jedoch vermittelt die oftmals gewählte Art der Berichterstattung ein vereinfachtes Chinabild, das uns letztlich übersehen lässt, wie sich die politischen Vorgänge in China wirklich erklären lassen. Und wenn wir die Basis der ideologischen Entwicklungen nicht richtig verstehen, können wir China nicht auf Augenhöhe begegnen. Somit wird uns China nicht nur im Bereich der technischen Innovationen immer einen Schritt voraus sein.
Titelbild:
| Wu Yi / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Kremlin.ru (CC BY 4.0) | Link
| Dr. Anja Blanke / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Anja Blanke
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm