ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Im Leben von Gottfried Benn, dem 1886 geborenen Dichter und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, war 1935 ein schwieriges Jahr. Obwohl er für die Preußische Akademie der Künste entschlossen Adolf Hitlers „Machtergreifung“ begrüßt hatte, identifizierten ihn die nationalsozialistischen Machthaber als Autor eines Typs von Literatur, die sie „entartet“ nannten, und schränkten seine Publikationsmöglichkeiten immer mehr ein.
Zugleich ging die Zahl der Patienten in Benns Berliner Praxis so deutlich zurück, dass er aus finanziellen Gründen nach Hannover auf einen Posten als Sanitätsoffizier wechselte, wie er ihn schon während des Ersten Weltkriegs bekleidet hatte. „Der Dienst ist anstrengend, die Umstellung als Ganzes, innerlich und äußerlich, natürlich sehr einschneidend. Sie machen sich nicht klar, wie völlig isoliert ich bin, ohne jede Beziehung geistiger Art zu meiner Umwelt“, schrieb Benn am 1. September 1935 seinem Bekannten, dem Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze. Auf den folgenden 3. September ist „Astern“ datiert, Gottfried Benns heute bekanntestes Gedicht. Von persönlichen Sorgen spricht es nicht.
Da Benn Blumen liebte, muss er das Wort „Astern“ mit jenen Tagen zwischen Spätsommer und frühem Herbst verbunden haben – und vor allem mit seiner Sehnsucht, das Vergehen der Spätsommerstimmung im Fluss der Jahreszeiten aufzuhalten. Freilich gehört der Glaube, dass ein solches Aufhalten möglich sei, zu alten Welten der Magie und der Götter, nicht zu der Gegenwart von politischen Ideologien und modernen Naturwissenschaften, in der Benn lebte. Diese Spannung spürt, wer die ersten Strophen von „Astern“ rezitiert:
Astern – schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.
Noch einmal die goldenen Herden,
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?
Die Sehnsucht nach dem Himmel, Licht, Flor des späten Sommers erfüllt sich also. Für „eine zögernde Stunde“ sind sie „noch einmal“ zurückgekommen. So lange „stand“ die Zeit des Sommers, und wo „längst Gewissheit wacht“, wurde „noch einmal ein Vermuten“ – bevor dann der Sommer mit dem Flug der Schwalben nach Süden wirklich zu Ende geht:
Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du -
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,
noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
Die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.
Auf ähnliche Weise schenkt der Text auch dem Leser das, was seine Strophen wünschen und was sie stiften. Denn das Gedicht macht einen Moment fremder Vergangenheit für uns gegenwärtig und hält damit die Zeit an. Wir können (aber müssen uns nicht) vorstellen, dass es um einen Moment im September 1935 geht. Solche Vergegenwärtigung jedenfalls bewirken alle Texte mit Versen, Reimen und Strophen, alle Texte in rhythmischen Formen, an denen unter den deutschen Dichtern seiner Generation Gottfried Benn wohl am meisten gelegen war.
Doch aus welchen Bedingungen heraus entsteht dieser Effekt, der sich in jedem Gedicht nachvollziehen lässt? Er hat damit zu tun, dass alles, was „Rhythmus“ heißt, eine praktische Lösung des Problems ist, wie die – stets verlaufende und die Dinge verändernde – Zeit eine stabile Form annehmen kann. Im zeitlichen Verlauf von Versen, Reimen, Strophen und Rhythmen kehren bestimmte Sequenzen wieder und geben so diesem Verlauf eine je spezifische klangliche und auch grafische Form, deren Eindruck sich mit jeder weiteren Wiederholung verstärkt.
Alle Elemente innerhalb der geformten Zeit wirken dann gleich gegenwärtig, jeder Verlauf scheint aufgehoben; nichts, was die Form der Zeit berührt, kann vergangen bleiben; und deshalb schaffen es Gedichte als Rhythmen, Vergangenes heraufzubeschwören. Solche Vergegenwärtigung stellt sich beim Lesen und Vorlesen lyrischer Texte ganz unabhängig von den Absichten ihrer Autoren ein. Für einen Autor wie Benn, der einsam und weltzugewandt in der dramatischen Epoche der beiden Weltkriege lebte, heißt dies, dass viele seiner Gedichte uns vergangene Momente mit einer Unmittelbarkeit präsent machen, die der Prosa von Historikern nicht gegeben ist.
Als Sohn eines lutheranischen Dorfpastors, den er weltfremd und engstirnig fand, wurde Benn während seines Medizinstudiums zum laut bekennenden Nihilisten, was nach 1900 bedeutete, dass man den Glauben an verbindlich übergeordnete Systeme, Werte und Normen ein für alle Mal verloren hatte. Auf eine so orientierungslos schwebende Existenz, die in Augenblicke der Ekstase umschlagen konnte, reagierte der ästhetische „Expressionismus“ jener Jahre mit einer Betonung aller drastischen Schichten des Lebens.
Den jungen Arzt Benn etwa faszinierte der direkte Kontakt mit Körpern, die unter dem Einfluss von Krankheiten zerfallen waren. Eines seiner frühesten Gedichte aus dem Jahr 1912 hat den Titel „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“:
Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.
Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.
Benn wurde zu einem jener Intellektuellen auf beiden Seiten der Weltkriegsgräben, denen die Intensität der militärischen Herausforderung Halt gab und denen deshalb nach 1918 die neue demokratische Politik in ihrer Alltäglichkeit banal vorkam. Dagegen bewunderte er die Selbstinszenierung des Faschismus in Italien und bald auch in Deutschland – vor allem wegen der monumentalen Formen. Diese Formen allein, weder philosophische noch politische Inhalte, schrieb Benn 1932 in einem Essay „Nach dem Nihilismus“, sollten den Individuen und auch der Menschheit in einer Welt ohne Konturen das Überleben ermöglichen. Dem entsprach eine wachsende Strenge der Formen in Benns Gedichten, die weit über die freien Verse der frühen expressionistischen Versuche hinausging.
Auf einen eigenartig paradoxalen Ton resignierter Bejahung stoßen wir in einem Benn-Gedicht von 1933, das mit der Feststellung beginnt, „der soziologische Nenner, der hinter Jahrtausenden schlief“, seien „ein paar große Männer“ gewesen, die „tief litten“. Sie könnten zwar eine Welt ohne Ordnung und Rahmen nicht vor dem Untergang bewahren, sagt der Text, aber sollten dennoch gegen ihre Vergänglichkeit „die Schwerter halten“:
Und heißt dann: schweigen und walten,
wissend, dass sie zerfällt,
dennoch die Schwerter halten
vor die Stunde der Welt.
enn erreichte das Ende des Dritten Reichs als verfemter Dichter und respektierter Sanitätsoffizier. Obwohl er über diese Existenz in dem Prosatext „Doppelleben“ nüchtern genaue Rechenschaft ablegte, dauerte es bis 1948, bevor seine Gedichte wieder gedruckt wurden. Er war als Praxisarzt nach Berlin zurückgekehrt, ging 1946 mit einer jungen Kollegin seine dritte Ehe ein und stieg in den Jahren vor dem Tod im Juli 1956 zum national und international angesehensten Dichter Deutschlands auf. Die kleinkarierte Enge der neuen Bundesrepublik in der Adenauer-Zeit, zu deren Protagonisten er gehörte, hat Benn manchmal mit den Namen ihrer Produkte vergegenwärtigt (der Gedichttitel „Hör zu“ spielt an auf die beliebteste Radioprogrammzeitschrift der Deutschen):
Hör zu, so wird der letzte Abend sein,
wo du noch ausgeh´n kannst: du rauchst die „Juno“,
„Würzburger Hofbräu“ drei, und liest die Uno,
wie sie der „Spiegel“ sieht, du sitzt allein
an kleinem Tisch, an abgeschlossenem Rund
dicht an der Heizung, denn du liebst das Warme.
Um dich das Menschentum und sein Gebarme,
das Ehepaar und der verhasste Hund.
Wenn „Stimmungen“ jene nicht nur individuellen Gefühle sind, die wir gleichsam mit den leichtesten Berührungen der physischen Umwelt auf unseren Körpern assoziieren, mit dem Wetter, den Stimmen eben oder mit der Musik, dann ist Gottfried Benn ein lyrischer Meister der gebrochenen Stimmungen. Im April 1945 notierte er, dass die Zeit von Stimmungen als Harmonien für immer verlorengegangen sei – und fügte gleich hinzu, gerade solche Stimmungsunmöglichkeit könne vielleicht zur Stimmung einer neuen Gegenwart werden.
Mit den genauen Klangformen ihrer Verse, Reime und Strophen beschwören Benns Gedichte aus den Welten der Vergangenheit Stimmungen herauf, die oft in sich gegenläufig sind – wie etwa Krebsgeschwüre als ehemaliger Rausch, wie resignierte Bejahung oder wie Heizungs-warme Einsamkeit. Und dank ihrer Form können Gedichte nicht nur Vergangenheiten vergegenwärtigen, sondern immer auch zu Gegenständen werden, die wir in unserem Gedächtnis besitzen und mit unserer Stimme dem Raum zurückgeben.
Dieser Artikel ist am 14. April unter dem Titel „Himmel, Licht und Flor“ in Die Weltwoche erschienen.
Titelbild:
| Gemeinfrei / de.wikipedia.org | Link
Bilder im Text:
| Bundesarchiv / Bild 183-1984-1116-500 (CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de) | Link
| Bundesarchiv / Bild 183-1984-0321-518 (CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm