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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Schon die Primzahl 2021 will ja nicht richtig zu den Olympiaden passen, wie sie seit 1896 die immer globaler werdende Zeit mit ihren Vierjahresrhythmen geprägt haben. An große Sportereignisse ohne Zuschauer haben wir Bildschirmfans uns inzwischen zwar leidlich gewöhnt. Doch die Spiele von Tokio waren der erste Testfall für die Frage, ob bedeutende Wettkämpfe, die bisher mit einem Publikum aus Kollegen und wenigen Spezialisten rechneten (Meisterschaften der Weltspitze im Gewichtheben etwa, im Schießen oder auch im Turmspringen), jetzt ganz ohne Livezuschauer auskommen können.
Befremdlich aber wirkten die vor kurzem beendeten Olympischen Spiele vor allem, weil sie gegen den Wunsch und den erstaunlich heftigen Protest einer Bevölkerungsmehrheit im Gastland stattfanden. Die rechtlich kompetente Antwort auf die demokratisch gesinnte Frage, warum die japanische Regierung das Ereignis unter diesen Umständen nicht abgesagt hatte, hieß einfach, dass sie nicht zu den für die Ausrichtung der Spiele verantwortlichen Vertragspartnern gehörte (ein regelmäßig benutzter Schachzug des Internationalen Olympischen Komitees) – ganz abgesehen von den Investitionen der 14 Hauptsponsoren und den Zahlungen für Übertragungsrechte, die trotz allem auch diesmal die vorigen Rekorde gebrochen hatten.
Da aber die Stimmung vor Ort immer schlechter wurde (Hauptsponsor Toyota kündigte gerade noch rechtzeitig symbolische Distanzmaßnahmen von den weiterhin mitfinanzierten Spielen an) und die Flut der Absagen von Weltklasseathleten nicht abebbte, versuchte sich der unterfränkische IOC-Präsident Thomas Bach in Variationen einer Rhetorik, welche an die ideologischen Verzierungen der Belle-Époque-Olympiaden vor 1914 erinnert.
Gerade die fleißigen Sportler ohne Medaillenchancen hätten nach all ihren Vorbereitungen das Fest und die Begegnungen von Tokio verdient, und die japanischen Sportfreunde würden wohl über Erfolge ihrer Landsleute patriotische Rückwege zu einer positiveren Einstellung finden. In ihrer linkischen Hilflosigkeit machten solche Sätze deutlich, wie sehr der heutige Stand der Olympischen Spiele – und mithin auch ihr Zukunftspotenzial – von Interferenzen zwischen der durchaus exzentrischen Sportgeschichte und der politischen Geschichte seit dem Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen abhängt.
Strukturell außergewöhnlich erscheint die Sportgeschichte vor allem, weil sie – entgegen allem abgestandenen Bildungswissen – nie eine Geschichte von Kontinuitäten gewesen ist. Zwischen der späten römischen Antike und der Zeit um 1800, als in England Berufsboxkämpfe viele Tausende von Zuschauern faszinierten und zugleich Bewegungsübungen in die Lehrpläne der anspruchsvollsten Bildungsinstitutionen aufgenommen wurden, gab es keine kulturellen Formen, die man ohne angestrengte Begriffsverschiebungen als „Sport“ identifizieren könnte.
Zweitens verlief die Geschichte des modernen Sports entlang einer scharfen Konkurrenz zwischen seiner Amateurversion und jenen professionellen Spektakeln, die von Beginn auf die Euphorie auslösende Zuschauerbegierde setzten, anonymer Teil einer großen Gruppe von Menschen zu sein. Schließlich hat der Sport als vermeintliche gesellschaftliche Nebensache eine ausschlaggebende Rolle für die zumal in Deutschland so hochgeschätzte Mediengeschichte gespielt und daneben entscheidend zur Verbreitung totalitärer Ideologien während des vorigen Jahrhunderts beigetragen.
Die am ehesten überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem der moderne Sport einsetzte, verbindet die Komponente eines in seinen Ergebnissen nicht festgelegten Wettkampfs mit jener offenen und von Menschen zu gestaltenden Zukunft, die erst mit dem kapitalistischen Bürgertum zum Welthorizont wurde. Während jedoch der Sieg der Sportler, auf die man gesetzt und gewettet hatte, immer wichtiger für den Berufssport wurde, in dessen Zentrum (aus nie wirklich erklärten Gründen) nun zunehmend Mannschaftsturniere traten, spielte der Sport als Teil von Oberschichtenerziehung gerade die Dimension des Gewinnens herunter.
Nicht zufällig stellte Baron Pierre de Coubertin, der damals noch junge Erfinder der neuzeitlichen Olympiaden, als Bewunderer der britischen Idee vom unausbleiblichen Beitrag des Sports zur individuellen Charakterpflege das jüngst von Thomas Bach wieder in Umlauf gebrachte Motiv von der Teilnahme, die wichtiger sei als der Sieg, ins Zentrum seiner Vision. Viele der kaum hundert ausländischen Teilnehmer an den Athener Spielen von 1896 unternahmen die weite Fahrt tatsächlich als Bildungsreise mit sportlichem Anhang.
Dies traf zumal auf die amerikanische Delegation von Studenten einiger prominenter Universitäten und mithin wohlhabender Familien zu, die sicher nicht mit ihren selbst die Gastnation überbietenden zehn Goldmedaillen gerechnet hatten. Als begleitende Aufseherin wachte die Mutter eines Olympioniken über die Einhaltung des Kulturprogramms. Dass die Eröffnungsveranstaltung und auch die Ankunft des zum Anlass der Olympiade erstmals ausgerichteten Marathonlaufs mit seinem griechischen Sieger dann 80.000 Zuschauer auf die Beine brachten, scheinen die Organisatoren im Sinn einer Zustimmung des Volks zu ihrem hochgesinnten Unternehmen hingenommen zu haben.
So waren die neuzeitlichen Olympiaden als Feier sozialer Distinktion auf ihren Weg gekommen – kritisch selbst gegenüber jenen reichen Engländern, die damals begannen, die Fußballspiele ihrer dafür immer besser bezahlten Arbeiter zu verfolgen. Eben die Durchsetzung dieser Grenze machte das nächste Kapitel der Olympischen Spiele aus. Mit opulenten Angeboten für Freundschaftsspiele gegen Clubs aus der spanischen Fußballliga hatte Uruguays Nationalmannschaft die Überfahrt zu den Spielen von 1924 in Paris finanziert und das Publikum nicht nur mit ihrer Balltechnik so in Beschlag genommen (besonders der afro-uruguayische Star José Andrade soll es den französischen Damen angetan haben), dass das weiterhin von Coubertin dirigierte IOC seinen Gründungsgeist gefährdet sah. Komplizierte, zum Teil noch heute als Chiffre der Vergangenheit im olympischen Fußball existierende Regeln zum Ausschluss von profiverdächtigen Sportlern wurden eingeführt – und triumphierten mit der Ausgliederung der 1930 in Montevideo zum ersten Mal veranstalteten Weltmeisterschaften.
Nachhaltiger als irgendein anderes Ereignis freilich haben die Berliner Spiele von 1936 die Geschichte des modernen Sports beeinflusst, weil die Nationalsozialisten ihn zuerst als Medium politischer Propaganda erkannten und systematisch nutzten. Sie entwickelten die später „Staatsamateur“ genannte Rolle des Berufssportlers, der aufgrund seiner offiziellen Anstellung nicht in Konflikt mit den IOC-Regeln geriet. Sie machten die Wettbewerbe im Olympiastadion zum Experiment der ersten Live-Fernsehübertragung (die allerdings um Sekunden zeitversetzt nur in Kinos projiziert wurde).
Vor allem profitierte Adolf Hitlers Regierung von der bis heute berüchtigten Bereitschaft des IOC zu politischen Kompromissen. Während nur wenige jüdische Sportler aus den mittlerweile immerhin 49 Teilnehmernationen antreten durften, feierten alle deutschen Medien die Leistungen der afroamerikanischen Athleten, die in Berlin auch angesichts des neuen, durchaus olympischen Mottos „Ich rufe die Jugend der Welt“ mehr Wertschätzung als in ihrer Heimat zu erfahren glaubten.
Mit seinen vier Leichtathletiksiegen stieg Jesse Owens von der Ohio State University zur strahlenden Gestalt der Spiele auf – und auch zum Scheinbeweis für die Offenheit des damaligen Deutschland, das nicht zu unterstreichen vergaß, dass es die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Gesamtzahl von Medaillen auf die zweite Stelle verwiesen hatte.
Genau die so entstandenen institutionellen Formen und ideologischen Funktionen übernahm die Sowjetunion seit ihrem Verzicht auf die nie recht in Schwung gekommenen proletarischen Sportweltspiele und ihrer ersten, gleich überragend erfolgreichen Teilnahme an der Sommerolympiade 1952 in Helsinki, um sie dann über die Jahrzehnte des Kalten Krieges zu einem Hauptmedium der Systemkonkurrenz mit dem kapitalistischen Amerika auszubauen. Zu den emblematischen Episoden jener Epoche der Sportgeschichte gehören nicht nur die wechselseitigen Boykottbeschlüsse der Spiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles, sondern auch der Extremwettbewerb zwischen den Mannschaften der DDR und der BRD bei der Münchner Olympiade von 1972.
Im Schatten solcher Weltinszenierungen während der großen Zeit des Livefernsehens bahnte sich die Entwicklung des Breitensports zu einer Dauerübung der Gesundheitspflege für eine globale Mittelschicht an und wurde entscheidend für den weiteren Verlauf der Sportgeschichte. Seit Laufschuhe, Langlaufskier oder auch die bis heute so hartnäckig beliebten Trainingsanzüge einen weltweiten Markt unter Gesundheitsfanatikern gefunden hatten, konnten sich auch außerhalb der sozialistischen Länder Athleten der weniger populären Disziplinen zum Profistatus aufschwingen.
Die damals neue Gleichheit erklärt mehr noch als das Ende des Kalten Krieges, warum 1992 in Barcelona erstmals eine Olympiade unter weitgehender Aufhebung der Amateurbedingungen und deshalb de facto als Weltmeisterschaft aller Sportarten stattfinden konnte. Nach 200 Jahren hatte der Sport als Unterschichtenvergnügen und Oberschichtenbildung, als Beruf und schöne Nische des gehobenen Lebens, als Medienereignis und Stadionerlebnis zu einer Synthese gefunden.
Doch ein bleibend glorreiches Endstadium, das den Sport seinen längst nicht mehr marginalen Status im vierjährigen Rhythmus der Olympiaden zelebrieren lässt, ist daraus nicht geworden. Gemäß der historischen Tradition, die jeweils jüngsten Gesten politischen Verhaltens zu aktivieren, ziehen heute schon Olympiabewerbungen den breiten Widerstand lokaler Protestbewegungen mit ökologischen Motiven auf sich. Für die Winterspiele 2022 zum Beispiel hielten als Kandidaten allein Peking und Almaty in Kasachstan durch. Sprüche im olympischen Geist ferner Vergangenheiten werden nicht weiterhelfen. Es ist an der Zeit, die durch Covid verschärfte Lage von Tokio nicht als Ausnahme, sondern als drastische Vorwegnahme einer anstehenden Zukunft aufzufassen.
Die meisten von uns Sportsüchtigen, sage ich voraus, werden sich auf die Wettbewerbe dieser eigentümlichen Olympiade einlassen – und die vollen Stadien nicht viel mehr vermissen als bei den sogenannten Geisterspielen der Bundesliga. Nur bedeutet dies keinesfalls, dass wir Initiativen zur Organisation von Spielen vor unserer Haustür zustimmen würden.
Als einer der seltenen realistischen Vorschläge des IOC in diesem Jahrhundert muss deshalb der Gedanke gelten, die Olympischen Spiele der nächsten Jahrzehnte an eine Rotation von Städten und Staaten mit einschlägigen Propagandainteressen und entsprechender politischer Durchsetzungsmacht zu binden. Moskau, Katar, Abu Dhabi, Peking zum Beispiel – und zurück, vor vollen Stadien. Die früher für ihr sportliches Engagement berühmte Volksrepublik Kuba hat derzeit andere Probleme.
Dieser Artikel ist am 22. Juli unter dem Titel „Die olympische Entfremdung“ in DIE WELT erschienen.
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Beitrag (redaktionell aktualisiert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm