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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Dass einer der beiden Großväter einundzwanzig Jahre vor meiner Geburt gestorben war und neben ein paar Fotografien nur dünne Erinnerungen hinterlassen hatte, machte mir zu schaffen. Denn ich sehnte mich nach einer Familiengeschichte, die tiefer gehen sollte als über Generationen weitergegebene Namen, Berufe und ungewisse Ähnlichkeiten in den Gesichtszügen.
Doch Leidenschaft unter den Vorfahren hatte sich eigentlich nur einem einzigen Schwarz-Weiß-Bild aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eingeprägt: die Großmutter im Rüschenkleid auf hohen weißen Schuhen und mein Großvater mit der Hand lässig in die Hüfte gestützt, noch keine zwanzig Jahre alt und einander strahlend zugewandt. Das war der Tag, redete ich mir ein, an dem Vinzenz um Maries Hand angehalten haben musste.
Enkeln von heute liegt wenig an solchen Affekt-Traditionen. Wie ganz anders es früher gewesen war, wollen sie von mir wissen: als die Leute, mit denen man telefonierte, noch nicht zu sehen waren; als die Eltern sonntags zum Hochamt gingen, wo nur ihr Sohn im Ministrantengewand dem Priester assistieren durfte, während die Tochter in der Bank knien blieb; und als kein Zukunftshorizont aufregender war als der mit sechzehn zu absolvierende Tanzkurs. Wie sehr wir es damals auf Küsse abgesehen hatten, finden meine Enkel bizarr, während ich ungeduldig werde, weil sie mir immer noch nicht vom ersten Freund oder von der ersten Freundin erzählen.
In unserem Jungen-Leben nach dem Stimmbruch nämlich drehte sich alles um die «feste Freundin». Kein Handballsieg und schon gar keine Prüfungsnote konnte mit ihrer Wirkung auf Selbstgefühl wie Prestige konkurrieren. Und jeder kleine Schritt zu mehr Körpernähe musste gleich zum nächsten Schritt führen. „Zusammen schlafen“, wie wir uns kaum zu sagen trauten („umarmen“ klang auch nicht richtig), war das eine Ziel, mit dem wir beständig beschäftigt waren und auf das überall sogenannt freizügige Bilder im Marilyn-Monroe- und Brigitte-Bardot-Stil verwiesen.
Genauso klar hatten wir das bedingungslose Verbot im Kopf, das die feste Freundin verpflichtete, aus Angst vor Schwangerschaft als der schlimmstmöglichen Wendung die Erfüllung des einen Wunschs bis zur Heirat – oder mindestens bis zur Verlobung – aufzuschieben. Nichts war unmöglicher als das, was wir am meisten begehrten. Um die Maturazeit kamen dann erste Gerüchte von der Antibabypille auf. Doch da sie erst einmal verschreibungspflichtig und deshalb verheirateten Frauen vorbehalten blieb, dauerte es noch lange, bis entsprechende Utopien Wirklichkeit wurden.
Diese Verschachtelung von erotischer Leidenschaft mit der Ehe, die wir ebenso frustrierend wie natürlich fanden, war erst nach 1800 im Zug der Romantik zu einer Institution der bürgerlichen Welt geworden. Zuvor hatten je besondere Kriterien von besitz- und ansehensorientierten Interessen für alle Stände der Gesellschaft die Auswahl wie das Verhalten von Eheleuten bestimmt. Erotische Intensität sahen sie als einen Gegensatz an, der außerhalb ihres auf Dauer angelegten Bundes lag – nie entschiedener als im Mittelalter.
Das Verständnis dieser im doppelten Sinn romantischen Ehekonstruktion verdanken wir dem Westschweizer Historiker Denis de Rougemont. Sein Buch „L’Amour et l’Occident“ aus dem Jahr 1939 zeigte zum ersten Mal, wie im mittelalterlichen Tristanroman das wegen Isoldes Ehe bestehende Erotikverbot ein Leiden begründete, welches die beiden Liebenden zum Ideal wahrer Leidenschaft erhob – und auch zum Ursprungsmodell persönlicher Tragödien machte.
Ausgerechnet die ursprünglich eheferne Extremversion einer ekstatischen Zweierbeziehung war dann seit dem 19. Jahrhundert zum Selbstverständnis verheirateter Paare geworden. Allein die leidenschaftliche „Liebe des Lebens“ sollte zum Traualtar führen, „Vernunftehen“ galten als Notlösung. Und obwohl dieses Modell Ehegatten und Nachkommen regelmäßig überforderte, behielten Scheidungen den Status einer nach Kräften zu vermeidenden Ausnahme.
In der Auffassung der Gegenwart nun gehen Leidenschaft, Liebe und Ehe, die fast zwei Jahrhunderte lang neben dem Alltag auch unsere Imagination beherrscht hatten, zunehmend in Beziehungen von Partnerschaft über. Wie Freunde bindet Partner keine Pflicht aneinander, doch anders als bei Freunden gibt es unter Partnern stets praktische Gründe, die ihre Gemeinsamkeit nahelegen.
Könnte man also sagen, dass wir erleben, wie eine erfolgsorientierte Version von Freundschaft die Liebe als Grundform gesellschaftlicher Existenz ersetzt? Im europäischen Spanisch ist immerhin an die Stelle der traditionellen Wörter für Freund, Geliebte und Frau oder Mann der pauschal affekt-, geschlechts- und sogar ironieneutrale Begriff «pareja» getreten, der einfach „Partner“ bedeutet und allen denkbaren Alltagsmotivationen offensteht.
Kinder zu haben und zu erziehen oder die Intensität von Leidenschaft zu spüren, sind keinesfalls mehr die mit Gewissheit zu erwartenden oder gar verpflichtenden Hauptgründe von Ehen. Wenn die Feier der Hochzeit früher das Glück der großen Liebe und die Ernsthaftigkeit einer beginnenden Dauer hervorhob, so wird nun umgekehrt meist der Rückblick auf eine anhaltend positive Erfahrung des Zusammenlebens und auf den aus ihr entstandenen Freundeskreis zum Anlass eines Fests.
Irgendwelche Grenzen für die Funktionen, Formen und die Zeitlichkeit von Partnerschaften, die aufgrund bestimmter gesetzlicher Vorteile oder einfach aufgrund der Freude am öffentlichen Status zur Ehe werden, gibt es jedenfalls nicht mehr. So muss wohl auch das Konzept der „Lebensabschnittsbegleiter“ entstanden sein, mit dem der Traum von einer „Liebe des Lebens“ endgültig verabschiedet ist. Jeder neue Abschnitt der Existenz rückt andere Inhalte für die privaten Stunden in den Vordergrund und lässt so die Wahl auf immer neue Partner fallen. Den Aufwand einer Heirat mit folgender Scheidung erspart man sich dann.
Unter solchen Vorzeichen von Partnerschaft gewinnen Zweier- wie Familienbeziehungen an Vernünftigkeit und entschärfen zugleich die Spannung des latenten Paradoxes in der traditionell romantischen Ehe als auf Dauer gestellter Leidenschaft. Doch wenn ich mich an die Welt meiner Jugend erinnere, überfällt mich manchmal die Frage, wo die alte Leidenschaft, die Erotik und die Intensität von Sex in unserer Gegenwart der stressfreien Beziehungen ihren Ort gefunden haben könnten. Geben sie den Paaren von heute noch das singulär-unersetzliche Fundament ihres Zusammenlebens? Oder haben gemeinsames Kochen nach Michelin-Rezepten, Wanderungen über Risikopfade, Kulturreisen, Konzerte, Tennis und Skifahren aufgeschlossen?
Und nicht nur die Dimension von Intimität in den langfristigen Beziehungen könnte sich verschoben haben. Auch die Präsenz von Pornografie oder (längst zu „Sexarbeit“ gereinigter) Prostitution, die früher ostentativ aus der Gesellschaft ausgeschlossen und doch immer zugänglich waren, ist nicht mehr dieselbe. Hat das Web all die Bilder und Wörter absorbiert, um sie für entspannten Privatkonsum verfügbar zu machen? Es gab eine Zeit, wo sich aufgeklärte Geister verpflichtet fühlten, direkt und ohne Tabus über Sexuelles zu sprechen. Heute reagieren wir auf solche Sätze eher wie auf ein Parfum, das sich mit allzu schwerem Geruch aufdrängt – und ringen uns doch noch zu unaufgeregter Offenheit durch.
Hat Partnerschaft also die Leidenschaft aufgehoben? Eine solche Interpretation ließe sich als Verlängerung jener These auffassen, gegen die Michel Foucault seine Bücher zur Geschichte der Sexualität schrieb. Angeblich hätten wir uns schrittweise von einer seit dem christlichen Mittelalter bestehenden Unterdrückung emanzipiert – und nun verschwinde, könnte man fortsetzen, als überschießender Effekt der vermeintlich erreichten Befreiung selbst der Wunsch nach Sex ganz aus der Gesellschaft. So gesehen scheint der Partnerschaft eine Aufhebung im hegelianischen Sinn gelungen zu sein.
Sind erotische Leidenschaft und die Stabilität von Beziehungen, die sich früher im Weg standen, synthesefähig geworden, seit die Pflichten der Dauer und die Intensität der Leidenschaft ihre Absolutheit verloren haben? Foucault war ein Gegner von solch geradlinigen Entwicklungsthesen. Er versuchte die je spezifischen, oft im Kontrast stehenden Regelungen zu rekonstruieren, unter denen sich zum Beispiel Sexualität in verschiedenen historischen Momenten vollzog.
Auf die Herrschaft des Paradoxes von Leidenschaft und Pflicht in der romantischen Ehe war seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine Emphase von Freiheit, Promiskuität und Experimentierlust gefolgt. Mittlerweile haben wir unter dem Vorzeichen von Partnerschaft die Schwelle zu einer Zeit überschritten, die für sich selbst mit gutem Anlass den Begriff postsexuell erfunden hat. Wie müssen wir uns dann, sollte Leidenschaft noch nicht ganz aufgehoben sein, ihre Zukunft vorstellen? Wird es zu jener Renaissance von Keuschheit und Jungfrauenschaft kommen, die als Prognose oder Drohung schon seit der Jahrtausendwende bevorsteht? Oder wartet ein Projekt der Befreiung vom Leiden an der Liebe auf uns?
Die Familienkontinuität von Leidenschaft jedenfalls, nach der ich mich gesehnt hatte, werde ich meinen Enkeln nicht weitergeben können.
Dieser Artikel ist am 10. August unter dem Titel „Das postsexuelle Zeitalter hat begonnen. Seit Liebende sich als Partner einer temporären Zweckgemeinschaft verstehen, erlischt das Feuer der Leidenschaft“ in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm