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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Sich Unmögliches vorstellen zu können, also auch Fähigkeiten oder Leistungen, die man Menschen grundsätzlich nicht zutraut, hat seit unvordenklicher Zeit zu unserem Selbstbild gehört. Doch nun verschiebt sich im Bewusstsein der Gegenwart die Grenze zwischen dem Menschen-Möglichen und dem früher Unmöglichen. Damit schrumpft freilich auch die Sphäre der Unerreichbarkeit, welche die Begriffe von der Allgegenwart, der Allwissenheit oder der Allmacht markiert hatte und aus denen die meisten Religionen ihre Gottesbilder schöpften.
Unter dem Impuls heutiger elektronischer Rechenkapazitäten haben sich die Gottesbegriffe als traditioneller Horizont des Unmöglichen in konkrete Möglichkeiten des Alltags verwandelt. Abgesehen von der berechtigten Frage, ob uns so eine Entwicklung eher inspiriert oder überlastet, werden in den gegenwärtigen Modalitäten globaler Kommunikation klassische Vorstellungen von göttlicher Allgegenwart und Allwissenheit wirklich.
Dies eröffnet einen neuen, kontrastiven Blick auf das früher Menschen-Unmögliche. Die Allwissenheit zumal der monotheistischen Götter sollte Besitz definitiven Wissens sein und war mit der Allweisheit dessen Gebrauchs verbunden. Dagegen befindet sich die Allwissenheit des World Wide Web in beständiger Erneuerung und hat nichts mit der Frage zu tun, wie wir sie verwenden.
Schon die selbstverständliche Rede vom „Gebrauch des Wissens“ und die Unterstellung seines Anwachsens setzen eine Folge dramatischer Veränderungen in der menschheitsgeschichtlich eher kurzen Spanne seit dem Mittelalter voraus. Unter orthodox christlichen Voraussetzungen sollte alles Wissen aus der Gnade der Offenbarung hervorgehen, genauer aus Gottes „unergründlichem Ratschluss“, den Menschen einen Teil seines Allwissens mitzuteilen, um ihrem Leben in der Schöpfung Leitlinien zu geben.
Dieses geoffenbarte Wissen jedoch schien den Menschen permanent vom Vergessen bedroht, dem sich etwa die Arbeit der klösterlichen Schreibstuben entgegenstemmte. Erst mit den Säkularisierungsschüben der frühen Neuzeit und der aus ihr entstehenden Erwartung einer offenen Zukunft wurde Wissen zu einer von den Menschen selbst produzierten konzeptuellen Erfassung der Welt, die auf permanente Erweiterung gestellt war und zunehmend auch auf Verbesserung der Welt.
Aus dem Anwachsen des Wissens und der Anwendung auf menschliche Ziele entstand ein Bedürfnis nach seiner Ordnung, das schon im antiken Alexandria und umso mehr seit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an die Ordnungen von Bibliotheken gebunden war. Mit dem General Stumm von Bordwehr aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ hat Robert Musil dieser Sehnsucht eine bemerkenswerte Parodie gegeben.
Als „stattliche Gestalt mit einem kleinen Bauch“ in der hellblauen Uniform des österreichischen Militärs sieht es Stumm als seine Pflicht an, alle in den hochfliegenden Diskussionen zur Sicherung des Weltfriedens entstehenden Ideen wie auf „einem Meldezettel durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt“ übersichtlich zusammenzufassen. Nach dem Scheitern des Projekts muss er dann in der Staatsbibliothek erfahren, dass deren Direktor nur deshalb in Anspruch nehmen kann, den Ort eines jeden von drei Millionen Büchern in den Regalen zu kennen, „weil er keines von ihnen liest“.
General Stumm ist natürlich eine ironische Gegenfigur zu der im frühen 20. Jahrhundert um sich greifenden Intellektuellenmeinung, dass es eine absolut gültige Struktur des Wissens nicht geben könne. Am Ende jener Bewegung stand die konsequente Historisierung aller Wissensformen im Werk des großen Michel Foucault. Da zum Denken Foucaults aber auch die Historisierung seiner eigenen Positionen gehörte, wäre er wahrscheinlich nicht überrascht gewesen, zu sehen, dass wir heute wieder bei der praktischen Prämisse einer Objektivität des Wissens angekommen sind, wie sie General Stumm gewiss erfreut hätte. Den Weg dahin allerdings hätte sich wohl selbst ein Foucault kaum vorstellen können.
Er begann mit dem fortschreitenden Auslagern breiter Wissensbestände auf das entstehende Internet. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine ungeduldige Bemerkung von Terry Winograd, einem Vordenker der Kommunikationsformen zwischen Computern und Menschen in Stanford, „niemand (könne) die Struktur jenes neuen Horizonts für unser Leben verstehen“.
1995 ermutigte derselbe Winograd seinen Doktoranden Larry Page, das Projekt einer mathematischen Erfassung des Internets unter allen Bedingungen zu verfolgen. Und noch einmal fünf Jahre später feierten die Medien die von Page mit seinem Freund Sergey Brin unter dem Namen Google auf den Markt gebrachte Suchmaschine als einschneidendste medientechnische Innovation seit Gutenberg.
Dabei hatten die beiden Studenten als Fußsoldaten in einem internationalen Heer von Programmierern angefangen, die damals nach einer Ordnungsformel für die elektronischen Wissensbestände suchten. Den Erfolg, der sie plötzlich zu Multimilliardären und emblematischen Figuren unserer Zeit machte, verdankten sie einer doppelten Intuition im elementaren Stil genialer Ideen.
Erstens visierten sie nicht ein als absolut konzipiertes Wissen an, sondern Wissen aus der Perspektive jeweils spezifischer Fragen. Und zweitens machten sie die Suche nach Antworten nicht von der Einschätzung ihrer Qualität abhängig, sondern von der arithmetisch erfassbaren Zahl der jeweiligen Benutzer.
Aus einem in Büchern und im Gedächtnis gespeicherten Potenzial von Antworten war Wissen mit einem Mal zur elektronisch produzierten Lieferung einer Auswahl von Antworten auf jede einzelne Frage geworden. Eine überwältigende Welle der Wissensdemokratisierung war eingeleitet – und stillschweigend auch eine informelle Objektivierung der sich ohne Ausnahme einstellenden Auskünfte, die von Fall zu Fall niemand mehr hinterfragte.
Diese vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbare Form von säkularer Allwissenheit macht eine wesentliche Dimension des Bewusstseins unserer Gegenwart aus, weil wir sie einerseits mühelos in die Praxis unseres Lebens eingebaut haben, während wir andererseits zögern, ihre langfristigen existenziellen Konsequenzen durchzudenken.
Niemand kann zum Beispiel übersehen, dass die Effizienz der Suchmaschinen den funktionalen und auch den sozialen Wert aller Formen von „Gelehrsamkeit“ drastisch herabgesetzt hat, aber trotzdem verlaufen die meisten Prüfungen oder Einstellungsgespräche noch immer als Rituale der Wissensabfrage. Welche veränderten Strategien zur Entwicklung von Thesen und Projekten sich aus dem veränderten Wissenszugang ergeben könnten, kommt unter diesen Voraussetzungen gar nicht erst in den Blick.
Komplexer ist das Problem eines neuen Ansatzpunkts für die seit der Aufklärung so hochgeschätzte „kritische“ Einstellung. Einerseits gehört es zum Habitus von Zeitgenossen mit traditionellem Bildungsanspruch, sich prinzipiell kritisch bis abfällig über die etwa von Wikipedia bereitgestellten Informationen zu äußern, obwohl sie in Umfang und Differenzierung dem unterstellten positiven Kontrasthintergrund des in individueller Erinnerung gespeicherten Wissens haushoch überlegen sind. Andererseits stößt man kaum je auf Skepsis gegenüber den Internetauskünften. Dabei müsste sie doch umso dringender sein, als das Antwort-Angebot doch von Benutzerfrequenzen statt von sachlicher Zuverlässigkeit abhängig ist.
Ganz unabsehbar wird die existenzielle Zukunft des Wissens schließlich, wenn wir uns klarmachen, dass unter elektronischen Bedingungen an die Stelle der Hoffnung auf definitive Wahrheiten ein Vertrauen auf statistisch erarbeitete Prognosen getreten ist, wie sich heute in der Qualität der unvergleichlich zuverlässiger gewordenen Wetterberichte zeigt. Und legt das – erstaunlich glatte – Überleben der Menschheit in der Weltisolation der Covid-Zeit nicht nahe, dass wir ganz ohne physischen Kontakt mit den Gegenständen, die uns umgeben, auskommen können?
Solche Fragen scheinen auf klassisch „kulturkritische“ Antworten hinauszulaufen. Doch das wäre eine allzu kurzatmige Reaktion. Eher sollten wir uns daran gewöhnen, dass der Suchmaschinenstatus des Wissens genau deshalb unsere Gegenwart ausmacht, weil er irreversibel ist, ohne dass wir seine Zukunft kennen. Nur einen Rückweg zu Wissen als Gelehrsamkeit oder zu göttlicher Allwissenheit können wir vorab ausschließen.
Dieser Artikel ist am 10. August unter dem Titel „Google weiß viele Antworten auf unsere Fragen. Wir lernen auch gerade, dass Wissen im herkömmlichen Sinn sich verändert. Aber wie es sich verändert, weiß nicht einmal Google.“ in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm