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Wohl um zu demonstrieren, dass er dabei war, in eine höhere Etage des legendären deutschen Wirtschaftswunders aufzusteigen, zahlte mein Onkel 1962 den beim Bau seines Eigenheims beteiligten Arbeitern jeden Samstagmorgen ihren Lohn in blauen, braunen und grünen Scheinen. Seine Familie fand das Ritual überaus peinlich angesichts einer Welt, wo Begriffe wie „bargeldloser Zahlungsverkehr“ schon längst von hochfliegenden Zukunftsversprechen zur Beschreibung alltäglicher Verfahren geworden waren. Zwar blieb Bargeldlosigkeit noch für ein paar Jahre gebührenpflichtig und auf größere Geldsummen beschränkt, doch ohne praktische Notwendigkeit Banknoten zu zeigen oder von ihnen zu reden, war zu seinem Symptom von Stillosigkeit geworden.
Niemand verkörperte diesen Mangel an Takt so irritierend wie der Krupp-Erbe Arndt von Bohlen und Halbach, der in Interviews gerne betonte, dass die ihn bei Einkaufspromenaden begleitenden Mitarbeiter stets „50 000 Mark Klimpergeld in Scheinen“ für nicht geplante Ausgaben bereithalten mussten. Dagegen setzte ein im heutigen Rückblick erstaunlich kompliziert wirkender Prozess des Eingrenzens und Zurückdrängens von Bargeld ein, dessen hektische Schlussphase wir nun in der Corona-Gegenwart mit ihrer Phobie gegenüber jeder Modalität direkter und indirekter Körperberührung erleben. Selbst in der lange Zeit Bargeld-romantischen deutschen Gesellschaft nimmt die Zahl der Geschäfte, Restaurants und sogar Kioske täglich zu, die Zahlungen mit Münzen oder Scheinen ablehnen.
Den entscheidenden Part dieser Geschichte hat die Kreditkarte gespielt. Ihre unter Europäern eher zögerlich einsetzende Verwendung wurde vor allem durch den internationalen Tourismus und die von ihm auferlegten Wechselaktionen zwischen verschiedenen Währungen befördert. An eine mehrtägige Zugfahrt von Madras nach Delhi in einem „third-class-sleeper“ kann ich mich erinnern, bei der ein von der Bank zu Hause mitgenommenes Bündel von Rupien-Noten zum Kopfkissen werden musste.
Traveler-Checks von American Express als ein erster Problemlösungsansatz verursachten andere Komplikationen und Sorgen, vor allem die fremdsprachliche Kommunikation mit Bankangestellten, die sich an für Reisende unbekannten, weil je national spezifischen Vorschriften orientierten. Doch während solche Mühen die Funktion von Kreditkarten bei Auslandaufenthalten endlich plausibel machten, begleitete den mit quietschenden Kopiermaschinen und Kohlepapier vollzogenen Gebrauch noch lange der Verdacht, individuelle Zahlungsschwierigkeiten zu überbrücken.
Mit dem verspäteten Aufstieg der Kreditkarten ging eine Sozialdemokratisierung aller Choreografien des wirtschaftlichen Verhaltens einher. Kartenbenutzer hängen nicht mehr von verfügbaren Geldsummen ab, sondern von ihrem Kreditrahmen, der tägliche Zahlungen mit dem Effekt absorbiert, dass jedermann die innerhalb seiner Lebensform aufkommenden Bedürfnisse und Wünsche erst einmal schmerzlos abdecken kann.
Nach fortgesetzten Versuchen, Besitzhierarchien mit mehr oder weniger diskreten Andeutungen zu markieren (meist per Symbolbezug auf Edelmetalle: Silber, Gold, Platin), ist das Aussehen der Karten mittlerweile zumindest in den Vereinigten Staaten ganz unabhängig vom jeweiligen Kreditrahmen oder gar von den Ersparnissen geworden. Und mit der Gleichheit aller Karten hat sich ein striktes Tabu über jegliche Inszenierung von Reichtum gelegt. Silicon-Valley-Milliardäre fahren dieselben SUV wie High-School-Lehrer, Zahnärzte oder die Kellner beliebter Restaurants.
Die am hartnäckigsten überlebenden und besonders von Intellektuellen kultivierten Gesten des Widerstands gegen Bargeldlosigkeit spült die globale Virophobie unserer Tage hinweg. Ob etwa Kreditkarten und neuerdings Mobiltelefone nicht dem Kapitalismus zuspielen, weil sie uns lockerer in der Tasche sitzen als Geldscheine, welche den laufenden Besitzverlust sichtbar machten, oder ob wir uns mit den langen elektronischen Spuren von Zahlungsakten nicht der Manipulation durch Firmen und durch den Staat überlassen: Das sind Probleme, die uns viel weniger bewegen als noch vor zwei Jahren.
So hat Bargeldlosigkeit tatsächlich zum Repertoire politisch korrekten Verhaltens aufgeschlossen. Doch trotz all ihren Vorteilen lösen die Bilder von der letzten Münze oder der letzten Banknote, die demnächst ihren Besitzer wechseln und dann eingezogen werden, ein mulmiges Gefühl aus. Dessen Gründe entziehen sich zunächst unserer Einsicht, weil sich hinter ihm nur sehr vage Konturen von der bargeldlosen Zukunft abzeichnen.
Das Verständnis gerät konkreter und kohärenter, wenn wir die Perspektive von den Formen und Akten wirtschaftlichen Verhaltens auf die Zahlungsinstrumente als Gegenstände lenken: auf Banknoten, Kreditkarten, Mobiltelefone vor allem. Ein erster Unterschied liegt in der Tatsache, dass allein Münzen und Geldscheine mit ihrer Anzahl und mit den eingeprägten oder aufgedruckten Ziffern ein Verhältnis zur Höhe der je relevanten Geldsummen anzeigen. Münzen deuten sogar auf den Edelmetallwert, den Geld ursprünglich repräsentierte.
Einige der populärsten Gestalten westlicher Fiktion haben pathologische Exzesse in dieser Hinsicht veranschaulicht: von Molières „Geizigem“ über Balzacs Père Grandet bis hin zu der in meiner Kindheit populären Cartoonfigur Dagobert Duck mit ihren Bädern im übervollen Geldspeicher. Dass die neueste, in den Vereinigten Staaten plötzlich sehr beliebte Version der American Express Gold Card ihren Benutzern einen deutlich schwereren Gegenstand als früher in die Hand gibt, belegt die reale Sehnsucht nach jener heute weitgehend schwindenden haptischen Dimension, die Zahlungsakte mit ihrer materiellen Umwelt verknüpft.
Der spezifische Status des Mobiltelefons im Vergleich zu Kreditkarten und Geldscheinen schließlich ergibt sich aus ihrem vielfältigen Gebrauch. Während Karten allein für Zahlungen benutzt werden, uns also nur über das Wirtschaftssystem an die materielle Welt binden, steckt im Smartphone, mit dem wir zahlen, kommunizieren, Wissen abrufen und immer mehr unser ganzes Leben bewältigen, ein Potenzial, zum denkbar allgemeinsten, abstraktesten und am Ende einzigen Ding des materiellen Weltverhältnisses zu werden. Zu einer letzten – und deshalb prekären – Stufe, die alle denkbaren Weltverhältnisse in einem einzigen Gegenstand kondensiert. Schon der Gedanke an seinen möglichen Verlust muss Angst auslösen, weil damit das Erleben unserer physischen Beziehung zur Welt verschwände.
Diese noch nicht zu Begriffen oder Bildern geronnene Zukunftsahnung mag erklären, warum die Ankunft der bargeldlosen Welt bei vielen von uns eine ebenso diffuse wie nachhaltige Verstimmung hervorruft. Aber werden nicht die schon erwähnten elektronischen Spuren, welche sich aus wirtschaftlichen Operationen auf technologischer Höhe der Gegenwart ergeben, jenen potenziellen Weltverlust ausgleichen, indem sie eine von den jeweiligen Zahlungsinstrumenten als Gegenständen unabhängige Beziehung zur materiellen Welt herstellen? Eine Sequenz von Zahlungen per Kreditkarte oder Mobiltelefon macht ja individuelle Körperbewegungen im Raum nachvollziehbar, die sich ohne weiteres auch visualisieren lassen.
Freilich haben elektronische Spuren keine eigene materielle Substanz, mithin keine Präsenz im Raum. Auf die Laienfrage, wo genau in einem Computer sich die Strukturen von Information befinden, gibt es keine Antwort. Sie werden also die Auflösung unserer konkreten Beziehung zur Welt doch nicht kompensieren können. So wirkt die bargeldlose Welt wie das Emblem eines breiten Horizonts von Dimensionen, in denen die menschliche Existenz ihren physischen Halt in der Welt zu verlieren droht.
Inzwischen macht sich die elektronische Technik daran, genau das, was sie verschwinden lässt, durch das Metaversum – durch die elektronisch erzeugte Suggestion von Raum und Materie – zu ersetzen. Dieses Paradox der digitalen Wiederherstellung dessen, was Elektronik beseitigt, könnte die Zukunft der Menschheit beherrschen. Banknoten werden dann bloß noch eine anekdotische Erinnerung an die Zeit sein, wo das Erleben von Raum und Materie an unsere Körper gebunden war.
Dieser Artikel ist am 28. Dezember unter dem Titel „Endlich bargeldlos: Was Banken nicht gelang, vollbringt ein Virus im Handumdrehen“ in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm