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Seit 2009 leitete Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften an der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er zu Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften. 2017 übernahm er den Lehrstuhl Banking and Finance an der Universität Witten/Herdecke und blieb der Zeppelin Universität als Gastprofessor für Economics of Financial Institutions erhalten.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sanktionen treffen Russland sehr massiv. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit des Landes stark heruntergestuft haben. Die großen Ratingagenturen sehen inzwischen Russlands Schulden als hoch ausfallgefährdet an. Es zeigt sich zudem, dass die russische Wirtschaft sehr rückständig ist. Exportiert werden in der Hauptsache nur Rohstoffe (Öl, Gas, Steinkohle, Kupfer, Holz etc.) und spezifische Güter wie Stahl, Getreide, Kernreaktortechnik, Turbinen, Land- und Erntemaschinen, Düngemittel und Waffen, also fast alles Produkte, die direkt mit der Rohstoffwertschöpfungskette verbunden sind. Innovationen seitens der russischen Wirtschaft gibt es kaum, Bildungsinvestitionen werden seit Jahren extrem vernachlässigt. Die Sanktionen treffen also auf eine russische Volkswirtschaft, die nicht gesund, sondern schwach und äußerst abhängig von den Rohstoffeinnahmen ist.
Gerade die spezifischen Sanktionen am Finanzmarkt spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Die weitgehende Abkoppelung vom internationalen Finanzsystem und das Einfrieren eines Großteils der Devisenreserven der russischen Zentralbank wurden in der Art und Weise wohl nicht von Russland erwartet und haben mittel- und langfristig verheerende Auswirkungen auf die russische Wirtschaft. Zudem führt der enorme Rückzug fast aller privaten, nicht-russischen Unternehmen aus Russland nicht nur dazu, dass liebgewonnene Konsum- und Luxusgüter nicht mehr erhältlich sind, sondern es wird insbesondere auch der Technologie- und Ideenaustausch im immer wichtiger werdenden Dienstleistungssektor unterbunden. Das hat weiterhin zur Folge, dass immer mehr gut ausgebildete russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das Land verlassen und damit ungeheuer viel Wissen und Fähigkeiten verloren gehen. Russland fällt schlagartig mehrere Jahrzehnte in seiner ökonomischen Entwicklung zurück.
Aus historischen Analysen der Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen wissen wir, dass deren Erfolg an drei Bedingungen geknüpft sind (Nicolas Mulder: The Economic Weapon – The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War, Yale University Press, 2022). Zum einen müssen sie hart und schmerzlich sein. Das scheint in diesem Fall gegeben zu sein, gerade weil es heutzutage äußerst wirksame Finanzsanktionen gibt, die in dieser Fülle früher in einer weniger globalisierten, arbeitsteiligen Weltwirtschaft nicht zur Verfügung standen.
Zum zweiten sollte gewährleistet werden, dass es keine Drittländer gibt, mit deren Hilfe das sanktionierte Land die Sanktionen in großem Ausmaß umgehen kann. Damit ist im vorliegenden Fall der versuchte Schulterschluss von Russland mit China angesprochen. Sicherlich kann China als Nachfrager von russischen Rohstoffen wie Gas und Öl in Zukunft eine größere Rolle spielen. Zu welchen Preisen aber China bereit sein dürfte, diese Rohstoffe abzunehmen, steht auf einem anderen Blatt, denn die Verhandlungsmacht liegt hier auf Seiten von China. Als Lieferant von bestimmten Ausrüstungs- und Konsumgütern an Russland mag China zudem in Frage kommen, jedoch ist meines Erachtens gerade der Technologie- und Ideenaustausch, der Innovationen generiert und eine Wirtschaft anpassungsfähig an neue Herausforderungen macht, mit China kaum zu bewerkstelligen. Schließlich wird China vorsichtig in seiner Unterstützung sein, um nicht durch zu starke wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland den eigenen Wachstumspfad, der immer noch auf mehr oder weniger intakten Handelsbeziehungen mit der westlichen Welt beruht, zu gefährden.
Die Möglichkeiten, die Sanktionen zu umgehen, sind somit nur begrenzt vorhanden und die Abhängigkeit Russlands von China ist schon heute sehr viel stärker als umgekehrt. So gingen im Jahr 2020 14,6 Prozent der russischen Exporte nach China, während nur ungefähr 2 Prozent der chinesischen Exporte nach Russland flossen. Auch bei den Importen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Nur 2,8 Prozent der chinesischen Importe kommen aus Russland, hingegen bezog Russland 23,7 Prozent seiner Importe aus China. Es scheint also auch die zweite Bedingung für erfolgversprechende Sanktionen erfüllt zu sein.
Laut Mulder ist die wichtigste Bedingung für erfolgreiche Sanktionsmaßnahmen jedoch, dass sie auf einen schwachen Staat treffen. In Bezug auf die wirtschaftliche Verfassung ist das auf jeden Fall gegeben, wie weiter oben schon erläutert wurde. Politisch versucht Putin mit seinem äußerst autokratischen Regierungsstil und vielfältigen Unterdrückungsmaßnahmen allerdings Stärke zu signalisieren. Letztlich kann er auf Dauer die schmerzlichen Folgen der Sanktionen jedoch nur auf Kosten der eigenen Bevölkerung abfedern. Ob dies gelingt, hängt davon ab, in welchem Ausmaß die breite russische Bevölkerung den zu erwartenden weiteren Rückgang an bescheidenem Wohlstand mitträgt.
Dadurch, dass die Sanktionen zudem zielgerichtet das beträchtliche Auslandsvermögen der wirtschaftlichen Elite, also der Oligarchen, in den Blick nehmen, kann sich im Zusammenspiel mit einer wachsenden Unruhe der Bevölkerung schnell eine explosive Mischung ergeben, die auch politisch abrupt zu einer Schwächung der Führung beitragen könnte. Somit kann meiner Ansicht nach auch diese dritte Bedingung für erfolgreiche Sanktionsmaßnahmen als erfüllt angesehen werden. Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass die Sanktionen wirtschaftlich wirksam sind.
Welche Auswirkungen haben die Sanktionen jedoch auf die europäische und insbesondere deutsche Wirtschaft? Insgesamt sind rein zahlenmäßig die Handelsverflechtungen mit Russland auf europäischer Ebene überschaubar. So gingen 2020 knapp 1,65 Prozent der EU-Importe nach Russland und auch nur 2,1 Prozent der EU-Importe stammten aus Russland. Am gesamten deutschen Außenhandel hatte Russland im Jahre 2021 einen Anteil von 2,1 Prozent. Zwei Drittel der Einfuhren aus Russland nach Deutschland bezogen sich auf Erdöl, Erdgas und Kohle, weitere 20 Prozent trugen Metalle sowie Mineralöl- und Kokerei-Erzeugnisse zum Importvolumen bei. Exportiert wurden aus Deutschland nach Russland in der Hauptsache Maschinen, Kraftwagen und Kraftwagenteile sowie chemische Erzeugnisse. Ein ähnliches Bild, wenn auch mit insgesamt 4 Prozent Außenhandelsanteil etwas stärker exponiert, zeichnet den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg aus.
Die direkten Wirkungen aus einem Import- und Exportstopp sind also in Deutschland überschaubar und ökonomisch zu verkraften, auch wenn als indirekte Auswirkung gewisse Lieferketten gerade im Verarbeitenden Gewerbe gefährdet sind und entsprechend neu justiert werden müssen, was mit kurzfristigen Produktionsengpässen einhergeht. Zudem sind die Auswirkungen der Finanzsanktionen auf das deutsche Bankensystem nicht besonders hoch. International tätige deutsche Banken haben wenig ausstehende Kredite mit starker Russland-Exposure in ihrer Bilanz, die direkt oder indirekt durch die Sanktionen in eine erhöhte Ausfallgefährdungsstufe gekommen sind. Diesbezüglich sind europäische Länder wie Italien und Österreich mit ihren stärker nach Osteuropa ausgerichteten Bankenstrukturen mehr in Mitleidenschaft gezogen.
Die höchsten Risiken für die deutsche und europäische Wirtschaft ergeben sich aus den auch wegen der Sanktionen gestiegenen Energiepreisen und gegebenenfalls aus den Folgen eines Lieferstopps von russischem Erdöl und Erdgas. Erdgas ist für die deutsche Energieversorgung dabei die zentral gefährdete Komponente. Es wird überwiegend in der verarbeitenden Industrie für industrielle Prozesse und von privaten Haushalten zur Wärmegewinnung genutzt und hat einen Anteil am Primärenergieverbrauch in Deutschland zum Ergebnis von über 25 Prozent. Da es im Vergleich zu Kohle und Erdöl geringere C02-Emissionen bezogen auf den jeweiligen Brennwert aufweist, ist Gas auch ein wichtiger Überbrückungsenergieträger hin zur Klimaneutralität. 50 Prozent des Erdgases wird jedoch momentan aus Russland importiert. Ein Wegfall dieser Erdgasimporte aus Russland – sei es, weil Russland aus bestimmten Gründen den Gasimport stoppt oder die EU in Folge der Kriegsdynamik in der Ukraine aus politischen oder humanitären Gründen keine russischen Erdgaslieferungen mehr zulassen (kann) – würde die deutsche Wirtschaft stark treffen.
Sowohl die Leopoldina als auch das Ökonomen-Netzwerk EconPol Europe des ifo Instituts haben sich mit den Auswirkungen eines Lieferstopps beschäftigt. Letztere kommen in ihrer Simulation zum Ergebnis, dass ein Stopp der Energieimporte aus Russland kurzfristig mindestens drei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung kosten würde. Es könnten aber auch noch größere negative wirtschaftliche Effekte nicht ausgeschlossen werden, denn die Stärke des potenziellen Schocks ist mit hohen Unsicherheiten gerade in Bezug auf einige Industriezweige behaftet, die sich noch nicht von den Auswirkungen der Pandemie erholt haben. In beiden Stellungnahmen werden eine Fülle von Sofortmaßnahmen diskutiert, die jetzt ergriffen werden sollten, um nicht unvorbereitet zu sein. Die kurzfristigen Anpassungsprozesse würden zweifelsohne schmerzhaft sein und müssten von gezielten Unterstützungsmaßnahmen für besonders betroffene Industrien und gesellschaftliche Gruppen flankiert werden. Die zusätzlichen finanziellen Lasten für den Staat wären somit beträchtlich.
Aber auch ohne einen Lieferstopp der Rohstoffimporte zur Energiegewinnung aus Russland bleibt die Situation sehr herausfordernd. Der massive Anstieg der Energiepreise führt zu flächendeckenden Preissteigerungen, die gerade in einem industriell geprägten Wirtschaftsstandort wie Deutschland der Inflation weiteren Vorschub gibt. In Verbindung mit den stark negativen Auswirkungen der gestiegenen Energiepreise auf die Wirtschaftsleistung, die in einer Rezession münden könnte, kann es zu einer Situation kommen, die Stagflation genannt wird – nämlich eine stagnierende Wirtschaft in einem inflationären Umfeld.
Eigentlich müsste die Europäische Zentralbank (EZB) auf die Inflationstendenzen mit einer raschen Umkehr ihrer Geldpolitik reagieren, um eine dauerhafte Lohn-Preis-Spirale zu vermeiden. Dies hätte jedoch jetzt zur Folge, dass rezessive Tendenzen in der Wirtschaft noch verstärkt würden und die Schulden- und Zinsbelastung vieler Staaten der Europäischen Währungsunion steigen würden. In dieser schwierigen Gemengelage befindet sich die EZB und sie hat sich dazu entschieden, zwar eine vorsichtige Umkehr in der Geldpolitik einzuleiten, aber vorerst die weiteren Entwicklungen im Ukraine-Krieg abzuwarten.
Es bleibt nur zu hoffen, dass eine weitere Eskalation des Krieges in der Ukraine inklusive der damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen vermieden werden kann. Deutschland sollte sich jedoch vor dem Hintergrund der Kriegsdynamik darauf einstellen, dass es schnell zu einem vollständigen Lieferstopp von Energierohstoffen aus Russland kommen kann. Die Kollateralschäden für Wirtschaft und Gesellschaft sind kurzfristig hoch. Je schneller wir jedoch kurzfristige, sehr wohl für Deutschland schmerzhafte Maßnahmen einleiten und uns damit unabhängiger vom russischen Erdgas und Erdöl machen, desto glaubwürdiger können wir gegenüber Russland agieren – einem europäischen Nachbarstaat, dessen Führung auf Dauer jegliches Vertrauen verspielt hat. Nur dann können wir die mittel- und langfristigen Kollateralschäden für Wirtschaft und Gesellschaft, die ungleich höher wären, in Grenzen halten.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Marcel Tyrell
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm