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Alexander Eisenkopf studierte Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Nach seiner Promotion über Just in Time-orientierte Fertigungs- und Logistikstrategien arbeitete und lehrte Eisenkopf in Gießen und Frankfurt. Seit 2003 ist Eisenkopf Professor an der Zeppelin Universität und Gastdozent an der Wiener Wirtschaftsuniversität. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf Mobilität und Transportunternehmen.
Wir stehen blank da. Was der Generalinspekteur des Heeres anlässlich des russischen Einmarsches in die Ukraine öffentlich über die Bundeswehr sagte, ohne sofort entlassen zu werden, gilt für viele Politikfelder. Beim Ausbau der digitalen Infrastruktur hinkt Deutschland meilenweit zurück. Unsere physische Infrastruktur wurde trotz sprudelnder Staatseinnahmen systematisch auf Verschleiß gefahren. Drohende Finanzierungsengpässe der Rentenversicherung werden einfach ausgeblendet. Und der mittlerweile nicht mehr als vorübergehend zu verniedlichenden Teuerung haben weder die Berliner Wirtschaftspolitik noch die Zentralbanker in Frankfurt etwas Brauchbares entgegenzusetzen.
Besonders blank sind wir aber auf dem Feld der Energiepolitik, wo wir uns der Illusion hingegeben haben, als „reiches Land“ einen Sonderweg einschlagen und der Welt ein Vorbild für den Klimaschutz sein zu können. Mit der militärischen Aggression Putins ist jetzt der Ernstfall eingetreten, und die Frage lautet: Wie weit tragen Sonne und Wind, die politisch favorisierten Energiequellen, wenn Putin uns ad hoc das Gas abstellt oder wir uns zu einem Embargo von Gas, Öl und Kohle aus Russland zusammenraufen?
Nach einer Schrecksekunde, in der sogar ein Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke politisch möglich schien, weil es „keine Denktabus“ mehr geben sollte, propagieren die deutsche Politik und der ihr sekundierende Apparat von Lobbyisten, Beratern und Wissenschaftlern jetzt aber doch wieder die Beschleunigung und Intensivierung der bisherigen Rezepte als Ausweg aus der Misere. Der Bundesfinanzminister sprach in Orwell’schem Duktus von den erneuerbaren Energien als „Freiheitsenergien“. Mit dem „Osterpaket“ aus dem Wirtschaftsministerium werden sie sogar zum vorrangigen Staatsziel erhoben, denn sie liegen jetzt „im öffentlichen Interesse“ und dienen der „öffentlichen Sicherheit“.
Dieses „Osterpaket“ ebnet auf 600 Seiten den Weg für den grünen Traum einer Welt der Erneuerbaren. Wirtschaftspolitik sollte sich aber nicht (allein) an Wunschvorstellungen, sondern vor allem an der Realität orientieren. Es wird also langsam Zeit, sich ehrlich zu machen – mit Blick auf den Status quo, vor allem aber mit Blick auf die Erreichbarkeit von Zielen, die dazu erforderlichen Ressourcen und die Effizienz der eingesetzten Maßnahmen.
Das erste Problem unserer Energiepolitik liegt in der Differenz zwischen wahrgenommener und tatsächlicher Relevanz der Energiequellen Wind und Sonne. Aufschlussreich sind dazu die Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen zum Primärenergieverbrauch im Jahre 2021. Demnach entfallen 31,8 Prozent des Verbrauchs auf Mineralöl, 26,7 Prozent auf Erdgas und 17,9 Prozent auf Kohle. Erneuerbare Energiequellen tragen insgesamt 16,1 Prozent zum Primärenergieverbrauch bei, darunter sind Fotovoltaik und Windkraft mit 1,6 beziehungsweise 3,5 Prozent relativ unbedeutend.
Die ernüchternden Zahlen kontrastieren mit der landläufigen Einschätzung der Rolle erneuerbarer Energien auf dem Strommarkt. Hier sind die Zahlen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE einschlägig, die bei der Nettostromerzeugung ansetzen. Für das Jahr 2021 ergibt sich ein Anteil regenerativer Energien von 45,8 Prozent. Auf den Wind entfielen 23,1 Prozent, auf Fotovoltaik 9,9 Prozent – in der Summe etwa ein Drittel der Nettostromerzeugung.
Das Nahziel der Energiepolitik ist eine vollständige Umstellung der Stromproduktion auf erneuerbare Quellen, vor allem Sonne und Wind. Was bedeutet das für das Energiesystem? Im Jahr 2020 machte elektrische Energie 20,9 Prozent des Endenergieverbrauchs in Deutschland aus. Wenn hiervon nach Angaben des Umweltbundesamtes 45,3 Prozent erneuerbare Energien sind, beträgt der Anteil erneuerbaren Stroms 9,5 Prozent; Wind und Sonne dürften für überschlägig sieben Prozent des Endenergieverbrauchs stehen.
Auf eine umfassende Elektrifizierung auf der Basis erneuerbarer Energien zu setzen, um die gesamte Energieversorgung eines Industrielandes wie Deutschland (Elektrizität, Wärme, Verkehr, Produktion) klimaneutral zu gestalten, stellt also mehr als eine nationale Kraftanstrengung dar: Es ist die Quadratur des Kreises – auch wenn mit Effizienzsteigerungen im Zuge der Elektrifizierung zu rechnen und daher nicht der gesamte derzeitige Endenergiebedarf von 2300 Terawattstunden (TWh) zu substituieren ist.
Schauen wir etwa auf die Solarenergie. Hier wird im „Osterpaket“ des Bundeswirtschaftsministeriums bis zum Jahre 2030 ein nochmals erhöhtes Ausbauziel von 215 Gigawatt (GW) installierter Leistung festgestellt. Aktuell liegt die Kapazität bei knapp 60 GW. Ein erforderlicher Zubau von mehr als 20 GW pro Jahr bedeutet daher, dass in der Spitze ein Drittel des heutigen Bestandes jährlich neu in Betrieb zu nehmen ist. Dies dürfte bereits an der Verfügbarkeit entsprechender Fachkräfte und Fachfirmen für die Installation scheitern.
Für Wind an Land wird ein Ausbau auf 115 GW postuliert; jenseits der Frage der praktischen Realisierbarkeit würde dies ungefähr auf eine Verdopplung der aktuellen Windkraftkapazität hinauslaufen. Um 50 Prozent auf 30 GW wachsen soll auch die installierte Leistung von Wind auf See. Eine vergleichbare Ausbeute wie heute unterstellt, wäre mit der potenziellen Stromproduktion aus Wind und Sonne der aktuelle Nettostrombedarf weitgehend zu decken.
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Der Zeithorizont für die Umsetzung ist extrem knapp bemessen; mit Widerständen ist zu rechnen. Auch der notwendige und sehr kostenträchtige Netzausbau hinkt weit hinterher.
Wind und Sonne haben zudem die unangenehme Eigenschaft, dass sie nicht regelmäßig zur Verfügung stehen. Die Sonne scheint nicht nachts, die Erträge der Fotovoltaik sind im Winter sehr schwach, auch Wind kann nicht immer und überall geerntet werden. Die gesicherte Leistung von Wind an Land liegt heute unter ein GW. Und das Problem der Inkongruenz von Bedarf und Erzeugung wird sich mit dem Ausbau der Kapazitäten verschärfen, weil in Spitzenlastzeiten überschüssiger Strom nicht sinnvoll genutzt werden kann.
Bisher wurde der Ausbau der Erneuerbaren durch konventionelle Kraftwerke abgesichert. Spitzenbedarfe wurden im europäischen Stromverbund gedeckt. Im Zuge der Abschaltung der letzten Kernkraftwerke und des (vorgezogenen) Kohleausstiegs fällt diese Absicherung weg. Und der Ausbau fluktuierender Stromerzeuger vergrößert die Stromlücken. Ausreichende Speicher- und Batteriekapazitäten stehen derzeit weder technisch zur Verfügung, noch sind sie realistischerweise bezahlbar. Und die teure Idee, 30 neu zu bauende Gaskraftwerke als Brückentechnologie einzusetzen, um ausreichend Regelenergie zur Verfügung zu haben, hat sich mit dem Einmarsch von Putin in der Ukraine erledigt.
Außerdem wird der Strombedarf im Zuge der Elektrifizierungsstrategie sowohl im Gebäudebereich wie auch im Verkehr deutlich wachsen. Mit einem angenommenen Bruttostrombedarf von 715 TWh für 2030 (heute 560 TWh) dürfte die Bundesregierung den zusätzlichen Bedarf von 15 Millionen Pkws und sechs Millionen Wärmpumpen unterschätzen. Ganz zu schweigen von den gewaltigen Strom- bzw. Wasserstoffmengen, die für eine Dekarbonisierung der Chemie- oder Stahlindustrie ausgerufen werden. Allein die chemische Industrie hat einen Bedarf von 628 TWh Strom errechnet, um ihre Prozesse komplett klimaneutral zu gestalten.
Und – was folgt aus alledem? In der Tat sollten jetzt alle Denkverbote fallen gelassen werden. Nur eine schonungslose Analyse kann einer Energiepolitik den Weg bereiten, die nicht von Knappheit, Rationierung und massiven Preissteigerungen geprägt ist. Es sollte klar sein, dass das Kartenhaus der bisherigen Energiewendepläne gerade kollabiert. „Energiesouveränität“ über Autarkielösungen auf der Basis von Wind und Sonne ist kein gangbarer Weg – es geht vielmehr um eine technologische und beschaffungsseitige Diversifizierung, die neben der Klimaverträglichkeit auch wieder die Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit im Blick hat. Dazu gehört auch die Diskussion um Optionen der Kernenergie, CO2-Abscheidung und den Import grüner Energie aus Standorten, die bessere Bedingungen für Wind und Sonne aufweisen als Deutschland.
Dieser Artikel ist unter dem Titel „Deutschland klimaneutral? Das ist die Quadratur des Kreises“ in der WirtschaftsWoche Nr. 16 vom 14.04.2022 erschienen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Alexander Eisenkopf
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm