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Prof. Dr. Heribert Dieter ist seit 2021 Gastprofessor für internationale politische Ökonomie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee, nachdem er diese Gastprofessur bereits von 2013 bis 2019 bekleidet hatte. Seit 2017 ist er zudem außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam. Zuvor war er Gastprofessor an der University of Hong Kong. Dieter wurde 1961 geboren und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt hat sich auf mehreren Ebenen ein struktureller Konflikt entwickelt. Indien und China ringen seit Jahren um die Festlegung des Grenzverlaufs in den Bergen des Himalajas, ohne dass eine Lösung des Streits erkennbar wäre. Auch in den wirtschaftlichen Beziehungen hat sich der Ton zwischen Delhi und Peking deutlich verschärft. Indien versucht, die heutige Abhängigkeit von Lieferungen aus China zu reduzieren und neue Produktionsnetzwerke zu entwickeln. Das dritte Feld der Rivalität ist die Demografie. Mit seiner vergleichsweise jungen Bevölkerung hat Indien gegenüber China, das rasch altert und schwer zu lösende demografische Probleme aufweist, mittel- und langfristig vorteilhaftere Perspektiven.
Vor diesem Hintergrund hat der russische Angriff auf die Ukraine für neue Unwägbarkeiten gesorgt. Die Regierung Modi hat es bis anhin vermieden, die russische Aggression offen zu kritisieren. Delhi versucht den alten Verbündeten Russland nicht zu verärgern, ohne die in letzter Zeit ausgebauten Beziehungen zu den USA und anderen Ländern des Westens zu gefährden. Für die indische Regierung bleibt Russland eher Partner, während die Volksrepublik China weiterhin als Bedrohung wahrgenommen wird.
Für diese Einschätzung spricht, dass sich die Grenzkonflikte zwischen Indien und China im Himalaja in den vergangenen Jahren zugespitzt und mehrmals zu militärischen Scharmützeln geführt haben. Zumindest ist der Gesprächsfaden nicht abgerissen: Am 12. Januar 2022 verhandelten hochrangige Militärs beider Länder im Grenzort Chushul, ohne eine Verständigung über den umstrittenen Grenzverlauf und andere Dispute zu erzielen. Immerhin wurde in dieser 13. Verhandlungsrunde eine gemeinsame Abschlusserklärung verabschiedet.
Der Konflikt um Einfluss in der dünnbesiedelten Region hat nur sehr wenig mit der Erschliessung von Siedlungsräumen zu tun, sondern spiegelt das Ringen beider Staaten um Ressourcen wider. Es geht vor allem um Wasser. Im Hochland von Tibet entspringen zahlreiche für Indien und andere süd- und südostasiatische Länder bedeutende Flüsse: Indus, Brahmaputra, Salween, Mekong, Jangtsekiang und der Gelbe Fluss sowie einige Nebenflüsse des Ganges werden am Oberlauf von China kontrolliert. Etwa die Hälfte des in Tibet entspringenden Wassers fliesst direkt nach Indien. Peking hat dadurch enorme Einflussmöglichkeiten: Es kann ganze Flüsse umleiten und sie für eigene wirtschaftliche Zwecke nutzbar machen. Der Bau von fünf Staudämmen am Brahmaputra etwa ist ein gravierender Eingriff mit unklaren ökologischen und ökonomischen Folgen.
Es wird seit Jahren darüber spekuliert, ob China den gesamten Fluss umlenken wird. Da China die Schaffung eines Streitschlichtungsmechanismus der Flussanrainer ablehnt, müssen Indien und andere Staaten ohnmächtig die in Peking getroffenen Entscheidungen zur Kenntnis nehmen. Allerdings erfüllt sich die Erwartung Pekings, Indien durch diese Abhängigkeit zu wohlgefälligem Verhalten zwingen zu können, nicht mehr. Delhi setzt heute auf neue Formen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit im indopazifischen Raum und strebt den Abbau der wirtschaftlichen Verflechtungen an.
Im vergangenen Jahr wandelte sich die Sicherheitspolitik in der Region grundlegend. Zum einen wurde am 15. September die neue Sicherheitspartnerschaft Aukus (Australien, Vereinigtes Königreich, USA) der Öffentlichkeit vorgestellt. Zum anderen trafen sich die Regierungschefs des Quadrilateral Security Dialogue (Quad), an dem Australien, Indien, Japan und die USA teilnehmen, am 24. September zu einem ersten persönlichen Gipfeltreffen im Weissen Haus. Beide Institutionen signalisieren die Bereitschaft der teilnehmenden Staaten, Pekings Vormachtstreben entgegenzutreten. Australien, die USA, Japan, Grossbritannien und auch Indien haben die Volksrepublik China als Widersacher ausgemacht.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Indien und China sind bis jetzt von einer starken Asymmetrie geprägt. Der bilaterale Handel zwischen Indien und China belief sich von Januar bis November 2021 auf 114 Milliarden US-Dollar. Indiens Exporte nach China erreichten 26,4 Milliarden Dollar, die Importe aus China beliefen sich auf 87,9 Milliarden Dollar. Dieses Handelsbilanzdefizit von etwa 60 Milliarden Dollar, das Indien zur Kreditaufnahme im Ausland zwingt, und Chinas neue Wirtschaftspolitik, die verstärkt auf den Binnenmarkt setzt, haben zur Entwicklung neuer Konzepte in Indien beigetragen. Delhi setzt nun zum einen auf den Aufbau der inländischen verarbeitenden Industrie zur Versorgung der eigenen Bevölkerung. Zum anderen versucht das Land, sich als Alternative zum Produktionsstandort China zu etablieren.
Von Vorteil ist dabei, dass die indische Volkswirtschaft bei der Entwicklung von Software und anderen elektronischen Dienstleistungen schon heute beachtliche Erfolge aufzuweisen hat. Derzeit gibt es dort fast siebzig sogenannte Einhörner – Startups mit einer Unternehmensbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar. Damit liegt Indien auf Rang drei hinter China und den USA. Indien ist bis anhin schwach als Standort für die verarbeitende Industrie, aber sehr stark bei produktionsnahen Dienstleistungen. Beispielsweise lässt Daimler im südindischen Bangalore von 5800 Mitarbeitern digitale Komponenten für seine Fahrzeuge entwickeln.
Die indische Regierung betont beim Versuch der Anwerbung von ausländischen Direktinvestitionen auch die demografischen Vorteile des Landes. Das Arbeitskräfteangebot in Indien wird noch viele Jahrzehnte lang hoch sein. Indiens Bevölkerung ist vergleichsweise jung. Betrachtet man einzelne Alterskohorten, fällt die recht homogene Verteilung auf: Im Jahr 2020 wurden jeweils etwa 350 Millionen Menschen in den Altersgruppen 0 bis 14, 15 bis 29 und 30 bis 49 gezählt. China dagegen weist als Ergebnis der fatalen Ein-Kind-Politik eine rasch alternde Bevölkerung auf. Vor allem fehlen Arbeitskräfte: 2011 erreichte das Arbeitskräftepotenzial mit 940 Millionen Menschen den Höchststand und geht seitdem zurück. Das chinesische Ministerium für Humankapital und soziale Angelegenheiten prognostiziert einen Rückgang der Erwerbsbevölkerung auf 830 Millionen im Jahr 2030 und 700 Millionen im Jahr 2050.
Die Reaktion in China ist ein verstärkter Einsatz von Robotern in der Fertigung: Ihre Zahl ist von 50 000 im Jahr 2010 auf eine Million im Jahr 2021 angestiegen. Steigende Löhne und ein Rückgang der Arbeitskräfte haben zur Folge, dass die Produktion in China nicht mehr annähernd so attraktiv ist wie noch vor einigen Jahren. Es erscheint nicht mehr lukrativ, in China für den Weltmarkt zu produzieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Robotergestützte Produktion kann auch anderswo stattfinden. Diese Konstellation dürfte sowohl zu einer Renaissance der industriellen Produktion in Europa als auch zu einer Verlagerung der Produktion von China in andere asiatische Volkswirtschaften führen.
Die indische Regierung rechnet sich im Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften heute gute Chancen aus. Ein unabdingbarer Bestandteil dafür ist die Verbesserung der indischen Infrastruktur. In den letzten Jahren hat die indische Regierung viel in die Verbesserung der Strassen, Schienen und Häfen des Landes investiert. Anfang 2023 soll der Güterverkehrskorridor von Delhi nach Mumbai, der wichtige Industriegebiete im Landesinneren mit dem Jawaharlal-Nehru-Hafen an der indischen Westküste verbindet, fertiggestellt werden und zu einer erheblichen Verbesserung der Investitionsbedingungen beitragen.
Ein Faktor ist dabei die Nähe zu den europäischen Märkten: Während ein Containerschiff für die Reise vom chinesischen Hafen Ningbo nach Bremerhaven knapp 40 Tage benötigt, dauert diese Reise von Mumbai aus nur 22 Tage. Der Güterverkehrskorridor wird vor allem für kleine und mittlere Unternehmen von Bedeutung sein, die aufgrund der künftig niedrigeren Transportkosten ihre Handelskosten erheblich senken können. Während Indien bereits seit Jahrzehnten über Unterseekabel mit vielen Märkten für elektronische Dienstleistungen verbunden ist, wird die neue Infrastruktur künftig auch den Handel mit Industriegütern erleichtern.
Der Krieg im Osten Europas hat bisher nicht zu einer Abkehr Premierminister Modis von Wladimir Putin geführt. Viele Beobachter in westlichen Ländern sind davon überrascht und blenden zugleich aus, dass in Indien und in einigen anderen asiatischen Ländern die USA und westeuropäische Länder, einschliesslich Grossbritanniens, keineswegs als friedenstiftend, sondern als aggressiv wahrgenommen werden. Die UdSSR und später Russland hingegen unterstützten Indien nach der Unabhängigkeit von 1947 mit Waffen und Wirtschaftshilfe. Heute stammen 70 Prozent der Waffen der indischen Streitkräfte aus russischer Produktion. Darunter sind U-Boote, Kampfpanzer vom Typ T-90, Kampfflugzeuge (Suchoi Su-30) sowie Boden-Luft-Raketen des Typs S-400.
Für die indische Regierung, die seit Jahrzehnten kleinere und grössere militärische Konflikte mit den Nachbarstaaten Pakistan und China zu bewältigen hat, ist an einen Verzicht auf russische Waffen auch mittelfristig nicht zu denken. Zudem stossen sich indische Politiker an der Widersprüchlichkeit der Politik westlicher Länder: Einerseits wird Indien als gleichberechtigter Partner bezeichnet, andererseits verbietet etwa Deutschland seit Jahren die Lieferung von Rüstungsgütern nach Indien, weil es sich um Waffenlieferungen in Spannungsgebiete handeln würde.
Dieser Artikel ist am 4. April unter dem Titel „Indien sucht nach einer neuen Rolle im Konzert der Grossmächte, dabei steht es realpolitisch unter hohem Druck“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Heribert Dieter
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm