ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Dr. Angelica V. Marte ist ausgebildete systemische Beraterin, Wissenschaftlerin und Führungskräfteentwicklerin. Sie arbeitet seit 1996 mit internationalen Unternehmen und Universitäten als Expertin für die Themen „Global Leadership“, „Networks“ und „Diversity“ und als Executive Coach. Sie publizierte und forschte dazu unter anderem an der Universität Witten/Herdecke, der MIT Sloan School of Management und der Universität Zürich. Aktuell ist sie Unternehmerin sowie Gastwissenschaftlerin und Senior Lecturer am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an der Zeppelin Universität und an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Sie engagiert sich als Beirätin an der Donau-Universität Krems (Department für Interaktive Medien), im Supervisory Board des Schweizer Beratungsunternehmens DOIT- Smart und seit 2013 als zertifzierte Lehrtrainerin für systemisches Coaching am Zentrum für systemische Forschung und Beratung (zfsb) in Heidelberg.
Kurz nach Mitternacht machen die Tempelmusiker aus Kerala den Anfang. Mit ihren Trommeln, Rasseln und Flöten führen sie den Zug der Gläubigen aus dem Navasakthi Vinayagar Tempel mitten in der Hauptstadt Victoria. Er ist dem Hindugott Ganesha geweiht. Heute aber steht sein Bruder Murugan im Mittelpunkt. Es ist sein Hochzeitstag. Dieser wird auf den Seychellen ebenso gefeiert wie im indischen Kerala und Tamil Nadu oder auf Sri Lanka. Das Skantha Sasti Fest ist die wichtigste religiöse Feier des Jahres für die kleine Hindugemeinschaft auf Mahé. Wie alle Hinduzeremonien ist es ein höchst symbolträchtiges Ereignis, das tiefe Glaubensweisheiten vermittelt. Darauf deutet der Heiligenwagen mit seinem Pfauenthron hin, der vor dem Tempel bereitsteht.
Der Pfau ist das Reittier Murugans. Sein in Indien gebräuchlicherer zweiter Name Skanda leitet sich vom Sanskrit Wort „skand“ ab, das unter anderem „verschütten“ bedeutet – insbesondere das Verschütten von Samen. Dementsprechend wird er doppelt vermählt: mit Devasana, die zumeist als seine legitime Ehefrau betrachtet wird, und mit seiner Geliebten Valli. Was auf den oberflächlichen Blick wie religiöser Sexismus wirkt, erschließt sich im tieferen Verständnis des Shakti-Glaubens als Bekräftigung des weiblichen Prinzips der Schöpfung. Devasana und Valli stehen für die beiden größten Qualitäten weiblicher Führung: Willenskraft und Handlungsmacht. Vereint in der Muttergottheit Devi Amman. Der eng mit dem Shakti-Glauben verbundene Tantrismus ist eine Erkenntnislehre, welche auf die Erklärung der großen Zusammenhänge ausgerichtet ist. Die Frau ist die Schöpferin des Universums – das Universum ist ihre Form, heißt es in einer Tantraformel. Ihre Kernaussage liegt in der Verehrung des weiblichen Prinzips.
Daran mögen im Moment der ausgelassenen Feier nur wenige denken. Aber die Blumenopfer, die sich über der Statue Murugans mit seinen beiden göttlichen Gemahlinnen ergießen, sind eigentlich Huldigungen an die Kraft und spirituelle Reinheit und Schönheit der Muttergottheit. Selbiges gilt für den reich mit Edelsteinen verzierten Umhang, in dem Murugan auf dem Pfau platziert wird. Darauf werden die Frischvermählten durch das Zentrum Victorias getragen. Über und über mit Blumengirlanden behängt, begleitet sie nicht nur die indische Community, sondern viele Seychellois, die gerne die Feste feiern, wie sie fallen. Nicht nur die eigenen, sondern auch die aller anderen Glaubensgemeinschaften.
Begleitet von den Klängen der Tempelmusiker preisen die Gläubigen die Götter mit „haro-hara“-Rufen. Genauso wie in Südindien oder Sri Lanka. Mit dem „haro-hara“ segnen sie sich aber auch gegenseitig und vermitteln Wohlgefühl und Seelenfrieden. Auf der Prozession rund um den Tempel verbreiten die Gottheiten ihren Segen in alle Himmelsrichtungen und damit symbolisch rund um die Welt. In diesem Sinne werden die Seychellen mit ihrem Bekenntnis zu religiöser Toleranz und Diversität gewissermaßen gleich mitgesegnet. Die tiefere Bedeutung des Hochzeitsfestes lautet: Jeder Mensch sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um seine Gedanken und Handlungen vor bösen Kräften zu schützen. Mit dem Ziel, sich schließlich in eine rituell gereinigte Persönlichkeit zu verwandeln.
So schön die einzigartige Natur des Inselstaates auch sein möge, für die meisten Seychellois gründen die eigentlichen paradiesischen Zustände in den sozialen Beziehungen. Zumindest im Vergleich mit dem Rest der Welt. Der Lodge-Manager der unvergleichlichen Bird Island, Raoul Alexandre Savy, bringt es so auf den Punkt: „Viele Einwanderer kamen mit einem starken, aber keineswegs fanatischen Glauben. Deshalb existiert hier dieser spezifische Einklang. Die Seychellen sind deshalb großartig, weil sie sich nicht die Bürde einer Leitkultur auferlegen.“
Tourismus auf den Seychellen war lange Zeit ein Privileg für Wohlhabende. Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1976 sah die politische und wirtschaftliche Elite des Inselarchipels im natürlichen Reichtum ihr größtes Kapital. Sie erkannte aber auch, wie verletzlich ihre Ansammlung von 115 Granit- und Koralleninseln für Überbeanspruchung ist. Nachhaltigkeit war hier daher schon ein Verständnis, bevor es im Rest der Welt zum Begriff – und leider viel zu lange zum „leeren Wort“ – wurde. Niedrige Besucherzahlen bei gleichzeitig hohen Preisen sollten die über eine gigantische Meeresfläche von 390.000 Quadratkilometern verstreuten Naturjuwelen vor Overtourism schützen. In den vergangenen Jahren drohten zumindest manche Inseln zum Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Im Jahr vor der Corona-Pandemie kratzten die Seychellen an der 400.000er Marke an jährlichen Gästen. Bei knapp 100.000 Einwohnern eine beträchtliche Belastung für die sensiblen Ökosysteme.
Mit Corona fielen die Zahlen ebenso exponentiell wie die weltweiten Erkrankungen stiegen – von mehr als 38.000 Ankünften im Februar 2020 auf 22 im April. Der scharfe Lockdown ersparte den Seychellen bis jetzt jegliche Todesopfer und beließ die Erkrankungszahlen auf internationalem Rekordtief. Doch die vom Tourismus völlig abhängige Wirtschaft leidet hier noch viel stärker als anderswo. Und mit ihr der Natur- und Artenschutz. Denn die Schutzmaßnahmen werden zum großen Teil aus den Einnahmen des hochpreisigen Ökotourismus im Luxussegment bestritten.
North Island beispielsweise betreibt ein eigenes Naturschutzzentrum, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die ökologische Vielfalt wiederherzustellen. Seine Chefin Tarryn Retief nennt die drei Hauptanliegen: „den Schutz des Meereslebens, die Erforschung der bedrohten Arten und die Restauration des Habitats“. Wie viele andere Inseln auch haben frühere Bewirtschaftungsformen schwere Schäden an der ursprünglichen Fauna und Flora verursacht. Dazu kommt die globale Bedrohung durch die Meeresverschmutzung und den Klimawandel. Auf Fregate Island werden aufwendig Korallengärten wieder angesiedelt und die Aldabra-Riesenschildkröte vor dem Aussterben bewahrt. Bird Island widmet sich stark bedrohten Vogelarten wie dem Weißschwanz-Tropikvogel. Naturschützer Roby Bresson schaffte es – als Geburtshelfer und Bodyguard in einem – die Zahl der Brutpaare von einem einzigen auf 97 im Jahr 2017 zu erhöhen. Auf Felicité wurden immense Anstrengungen unternommen, um die Insel ökologisch zu rehabilitieren, das heißt eingeschleppte Arten zu entfernen und einheimische, endemische Tiere und Pflanzen wieder anzusiedeln. Silhouette Island besteht zu 97 Prozent aus einem Nationalpark, der versucht, die Umweltsünden der kolonialen Plantagenwirtschaft abzuarbeiten.
Ohne die baldige Wiederöffnung für den Tourismus, wären diese Projekte in ihrem Bestand gefährdet. Die Pandemie bedeutet für sie alle eine große Herausforderung, die wohl nur durch internationale Unterstützung gemeistert werden kann. Für die Hauptinseln Mahé, Praslin und La Digue stellt Covid-19 eine scharfe Zäsur dar. Schon vor Corona waren sie der globale Sehnsuchtsort schlechthin. Umso mehr besteht die Gefahr, die entgangenen Einnahmen nach dem erhofften Abebben der Krankheitswellen zu kompensieren und dem Massentourismus die Tür zu öffnen. Nach Monaten der Reiseabstinenz wäre ein Ansturm auf die vor Corona weitgehend verschonten Inselparadiese nur allzu naheliegend.
Soweit sich aus den vergangenen Jahren ein Gegenkonzept ableiten lässt, lautet dieses, die Nächtigungszahlen nur mäßig zu erhöhen, um die Natur weniger zu belasten. Das Mittel dazu ist die staatliche Betonung der kulturellen Vielfalt als zweites Standbein neben der biologischen Diversität. Durch die Förderung der ebenso reichhaltigen Musik- und Veranstaltungsszene soll die Lokalbevölkerung unmittelbar profitieren. Ihre Kultur nennen Seychellois „Kreol“ – der Begriff bezeichnet einen Wildwuchs an künstlerischer Kreativität. Ihr Soundtrack ist der unverwechselbare traditionelle Moutya, die Musik der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit. Ihre Geburtsstätte sind die Plantagen der europäischen Sklavenhalter. Ihre heutigen Nachkommen, der Sega und seine Weiterentwicklung im Reggae Kreol – manchmal auch „Seggae“ genannt – pflegen den alten Widerstandsgeist genauso wie die resistente Lebensfreude.
Das zeigte sich auch bei den spontanen Street Parties am Abend des 25. Oktober 2020 zur Feier des Ausgangs der Präsidentschaftswahlen. Sie galten dem Sieger Wavel Ramkalawan, einem anglikanischen Priester, und seiner Demokratischen Unionspartei. Nach einem Erdrutschsieg besitzt sie jetzt eine Zwei-Drittel Mehrheit in der gesetzgebenden Nationalversammlung. Das erklärte Ziel: nationale Einheit bei der Bewältigung der Corona-Krise. Laut Edith Hunzinger, der langjährigen Tourismusleiterin für Österreich und Deutschland, wurde die Pandemie „für eine Nacht auf Kurzurlaub geschickt“. Zumindest ein kleiner Ersatz für das ursprünglich zu diesem Zeitpunkt geplante, jährliche Festival Kreol. Nach der Absage im vergangenen Jahr soll das zweiwöchige Festival im Oktober 2021 so etwas wie eine nationale Wiederauferstehungsfeier werden. Schon jetzt – in Zeiten der neuerlichen Lockdowns und verordneten Immobilität – bietet zumindest die Musik von Jahrimba, Philip Toussaint, Extra Big, Telsy oder Sandra Esparon, der Königin des Sega, so etwas wie ein wirksames Antidepressivum in grauen Tagen.
Es ist kein Zufall, dass die wichtigste weibliche Interpretin im Sega verwurzelt ist und nur gelegentlich Ausflüge in Reggae-Gefilde unternimmt. Denn der Sega entstammt einer Weiterentwicklung der ursprünglichen Ausdrucksform (Lekspresyon) der Versklavten: Moutya. Über die Herkunft des Namens gibt es widersprüchliche Interpretationen, die afrikanischen Wurzeln der Musik aber sind unbestritten. Sie spiegelt die vielfältige ethnische Herkunft der im 18. Jahrhundert von den ersten Siedlern mitgebrachten Versklavten wider. Moutya wurde zum Medium der Kommunikation und des Widerstandes gegen die Sklaverei.
Es ist eine Musik, die im Geheimen entstand und gepflegt wurde. Frauen gaben ihr – wie in vielen afrikanischen und karibischen Gesellschaften (zum Beispiel bei den Maroons in Jamaika) – die Stimme. Als Vorsängerin im Call and Response-Gesang bestimmen sie den Content und die Stimmung der Gemeinschaft. Der Inhalt der Lieder kann von Alltags- und Liebesgeschichten bis hin zu Klageliedern und Aufrufen zum offenen Widerstand variieren. Judette Volère, Sängerin der Latanier Moutya-Group und eine der ausdrucksstärksten Moutya-Sängerinnen der Gegenwart, sieht in Moutya die authentische Musik der Seychellen:
„In den Tagen der Sklaverei trafen sich die Sklaven nach der Arbeit, um sich ihr Leid auf den Plantagen zu klagen. Das ist der Beginn von Moutya. Die Moutya-Lieder handeln vom schweren Schicksal der Sklaven, all ihren Sorgen und Problemen. Das verstehen wir unter Moutya: unsere eigene Stimme. Deshalb ist Moutya so wichtig für uns. Das ist unsere eigentliche Kultur, nicht Sega, nicht R&B, nicht Jazz. Die Seychellen sind das Land von Moutya.“
„Einheit in Vielfalt“ gilt auf den Seychellen nicht bloß als offizielles Staatsmotto. Sie wird von der Gesamtbevölkerung als Grundlage der friedlichen Koexistenz und wirtschaftlichen Entwicklung verstanden. Damit kann der Inselarchipel als Beispiel dafür dienen, dass ein fruchtbarer Umgang mit Vielfalt nicht bloß als Last oder Problem verstanden werden kann, sondern als wahrer Aktivposten. Der Fokus liegt auf dem Gemeinsamen, nicht auf dem Trennenden. Das zeigt sich besonders beim wichtigsten und größten Kulturfest des Landes – dem jährlichen Festival Kreol.
Eine Woche lang beherrschen die unterschiedlichen Musikstile, Tanzformen und kulinarischen Köstlichkeiten das Leben auf den Inseln. Die mitreißenden Rhythmen der unterschiedlichen Kulturen relativieren das Klischeebild einer nur aus Wellen, türkisblauen Ufern an einsamen Stränden und romantischen Granitfelsen bestehenden Inselwelt. Zugleich spiegelt sich die auch aus Sicht der Seychellois „paradiesische“, natürliche und nachhaltige Vielfalt mit ihrer tropischen und marinen Tierwelt selbstredend in Musik und Tanz wider. Sie gehört zum Komplex der Kreol-Kultur, die ebenso wie die Sprache Kreol afrikanische und europäische Einflüsse vereint.
Die Basis der sogenannten Nationsbildung ist die aus mehreren kulturellen Traditionen geformte kreolische Kultur. Das Festival Kreol fördert diese integrative Identität aller Seychellois und das dazugehörige Selbstbewusstsein. Solche Feste bieten dementsprechend Plattformen für soziale Integration. Sie betonen das Verbindende zwischen allen ethnischen Gruppen, ohne die unterschiedlichen Erfahrungen zu leugnen. Im Gegenteil: Diese Unterschiede werden im Rahmen des Gemeinsamen zusammen gefeiert. Damit liefern die Seychellen ein Beispiel dafür, dass Diversität ein wertvolles Gut ist. Das hat viel mit ihrer Geschichte zu tun, die ein einzigartiges Konglomerat an eingewanderten ethnischen Gruppen hervorgebracht hat. Verschiedenheit soll auf den Seychellen den Zusammenhalt stärken und Entwicklung ermöglichen. Tierwelt und Naturschauspiele des Archipels gehören ebenso zu diesem „Meer von Farben“ wie die unterschiedlichen musikalischen, religiösen und kulturellen Traditionen. Die Seychellen sind weit mehr als ein bloßer Urlaubstraum aus Sonne, Strand, Meer und Farben. Der überaus vitale Inselstaat bietet ein wahres „Mosaik der Weltbevölkerung“.
Das physische Miterleben eines Festival Kreol gibt Einblick in den Mikrokosmos des spezifischen und so einzigartigen Seychellen-Gefühls: Jedes Ankommen – und sei es auch das erste Mal – fühlt sich an wie ein Nachhausekommen. Das habe mit dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen zu tun, der hier laut Reggae-Star Jahrimba geradezu Programm sei: „Auf den Seychellen ist es unwichtig, ob Du weiß oder schwarz bist. Wir machen keine Unterschiede und beurteilen Niemanden nach der Farbe seiner Haut, Haare oder Augen. Rassismus ist in diesem Land kein Thema. Die Leute würden Dich auslachen, wenn Du Rassist bist. Die würden Dich glatt für einen Clown halten.“
Die Dokumentation „Seychellen – Ein Meer von Farben“ zum Nachschauen in der 3sat-Mediathek.
Titelbild:
| Kevin Kyburz / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Dr. Angelica V. Marte und Werner Zips (Alle Rechte vorbehalten)