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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Zwei Sätze aus dem Bildungswissen in deutscher Sprache haben die Erfahrung von den Vereinigten Staaten aus transatlantischer Ferne bis weit ins 20. Jahrhundert geprägt. Goethes sprichwörtlich gewordene Gedichtzeile „Amerika, du hast es besser“ von 1822 brachte die Sehnsucht nach einer Kultur zur Sprache, deren Horizonte nicht von Pflichten und ungelösten Problemen aus der Geschichte verstellt waren. Später begleitete die Rede von „Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ anhaltende Einwandererströme mit der Zukunftshoffnung auf eine Gesellschaft, in der individuelle Initiative und Fleiß steile Aufstiegskarrieren garantieren sollten.
Noch heute löst die Vorstellung von Amerika solche Bilder einer vertikalen Dynamik mit ihren Versprechen und natürlich auch Risiken aus. Doch den Optimismus von früher haben nicht nur unter Intellektuellen nun ungläubiges Staunen, Häme und oft sogar Ablehnung abgelöst. Amerika ist für viele Europäer ein „Land der Extreme“ geworden, dessen Bewohnern das praktische Urteil zur Entscheidung für die breite Zufriedenheit eines Sozialstaats abgeht.
Kein Ereignis illustriert diesen Eindruck wachsender Distanz drastischer als der Sturm aufs Capitol vom 6. Januar 2021, weil er – eben als Extremfall – buchstäblich die Grenzen der kollektiven Imagination sprengte. Getrieben vom Glauben an Manipulationen, die angeblich Donald Trumps Wiederwahl zum Präsidenten verhindert hatten, drangen um die tausend Personen in eine gemeinsame Sitzung der nationalen Parlamente. Viele Beobachter glaubten damals, das Schicksal Amerikas sei auf dem Spiel gestanden.
Die für jene schockierenden Szenen ausschlaggebende Verbohrtheit der Angreifer gehört in vielfachen Schattierungen durchaus zur Landschaft der amerikanischen Institutionen. Zum Beispiel haben mehrere Gliedstaaten den alle etablierten Einsichten der Evolutionstheorie leugnenden Kreationismus in den Rang eines verbindlichen Unterrichtsgegenstands für ihre Grundschulen erhoben. Mit dem Kreationismus konvergieren, immun gegen jegliches Argument, Feinde des Schwangerschaftsabbruchs in ihrem Einfluss auf Initiativen der lokalen Gesetzgebung.
Ein zunächst harmlos wirkender Drang, historisch nie Dagewesenes zu verkörpern oder einfach Rekorde zu brechen, steigert nur die Wirkung solch fanatischer Positionen. Auf einer Fahrt durch Texas bin ich innerhalb weniger Meilen auf Hinweisschilder zur „größten Nationalflagge“ und zum „größten Parkplatz der Welt“ gestoßen, einmal abgesehen von den stets aufs Maximum ausgerichteten täglichen Gesprächen über Freizeitaktivitäten von Yoga-Übungen bis zur Philatelie.
Nicht alle amerikanischen Extremdynamiken und Superlative führen freilich in Zonen der politischen Bedrohung oder der sozialen Pathologie. Die rasante Entwicklung der kalifornischen Gastronomie über die vergangenen drei Jahrzehnte etwa lässt mich zwischen Sympathie und Ironie schwanken. Noch um 1990 ging die Kompetenz der Kellner im heutigen Silicon Valley bloß selten über die Unterscheidung zwischen weißem und rotem Wein hinaus, während die Konzentration der Köche bei gut gebratenen Steaks verweilte.
Mittlerweile fordern die Restaurantunternehmer vor Ort aufgrund komplizierter Statistiken über „Michelin-Sterne pro hunderttausend Einwohner“ die emblematischen Feinkostregionen in Frankreich oder Italien heraus, und ihre Gäste haben sich zu Weinkennern der Extraklasse ausgebildet. Dieselbe amerikanische Energie motivieren die immer raffinierteren Rankings der Spitzenuniversitäten.
Hinreichend Anlass für die Wahrnehmung der Vereinigten Staaten als Nation mit einem immensen Spektrum von Extremen gibt es auf jeden Fall. Unter Historikern gilt als ausgemacht, dass am Ursprung dieser nationalkulturellen Besonderheit der Einfluss puritanischer Einwanderer aus Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert stand, die in der westlichen Kolonie eine von der anglikanischen Kirche nie gewährte individuelle Freiheit für ihre ekstatische Beziehung zu Gott suchten. Hier, meine ich, liegt eine fundamentale Vorgabe für den Extremismus von heute.
Auf persönliche Unabhängigkeit bauten bald auch andere christliche Konfessionen als denjenigen Wert, der sich bei der Gründung des amerikanischen Staats durchsetzte. Seine Verfassung betont unter der wiederkehrenden Formel „Congress shall not“ und in ständigem Bezug auf religiöse Freiheit vor allem, welche Vorschriften den einzelnen Gliedstaaten und ihren Bürgern von der Zentralregierung nicht auferlegt werden dürfen. Daher hat sie zunehmend die Außenpolitik zu ihrer Hauptaufgabe gemacht und die Sphäre der Innen- und Sozialpolitik mit sichtbar problematischen Konsequenzen vernachlässigt, zu denen Verhältnisse bodenloser Armut besonders in den großen Städten zählen.
Die Eröffnungsszene in der Filmtrilogie „The Godfather“ vergegenwärtigt eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen dem Rückzug des Staats und dem Auftreten von Extremsituationen. Sie beginnt mit dem Satz „I believe in America“ aus dem Mund eines italoamerikanischen Bestattungsunternehmers, dessen Tochter vergewaltigt worden ist und der Gerechtigkeit gerade nicht bei den schwachen staatlichen Institutionen sucht, sondern bei der Mafiafamilie des Paten. Sein „Glaube an Amerika“ gilt also einem Unternehmen des organisierten Verbrechens, das in der Absenz staatlicher Institutionen maximale Effizienz erreichen konnte.
In diesen strukturellen Freiräumen der amerikanischen Gesellschaft hat sich eine – aus europäischer Perspektive – eigentümlich hybride Mentalität mit spirituellen und säkularen Komponenten ausgebreitet, die der Literaturwissenschafter Harold Bloom 1991 in einem bemerkenswerten Buch unter dem Titel „Amerikanische Religion – Entstehung der nachchristlichen Nation“ analysiert hat. Drei seiner Beobachtungen, die wohl alle religiösen Gemeinschaften des Landes kennzeichnen, laufen auf eine Erklärung der nationalen Extremtendenz hinaus. Erstens das von den Puritanern ererbte Beharren auf einem Gott, der zu Individuen spricht und sich die Erfüllung ihrer Wünsche angelegen sein lässt. Genau dieses Verhältnis zur Transzendenz setzte eine College-Studentin voraus, die mir berichtete, wie viel intensiver ihre Beziehung zu Gott geworden sei, seit sie per Laptop mit ihm kommuniziere.
Zweitens wird die Stimme Gottes als ein für die Gestaltung des Alltags übergeordnet-verbindliches Wissen aufgefasst – und nicht etwa als ein allein für die eigenen Gefühle belangvoller Glaube. Zu Konflikten oder gar tragischen Spannungen zwischen einander widersprechenden Normen kann es im Angesicht göttlicher Offenbarung nicht kommen. Drittens setzen die an Individuen gerichteten Worte Gottes als Wissen offenbar unbegrenzte Energien frei, die ebenso zu nationalen Höchstleistungen wie zur Anwendung von Gewalt ermutigen.
Auch aus statistisch-demografischer Perspektive lässt sich die Bedeutung der amerikanischen Religion für den Hang zu Formen des Extremverhaltens kaum überschätzen. Nach vorsichtigen Schätzungen leben weit über 60 Prozent meiner Mitbürger in der Überzeugung, mit einem sie persönlich liebenden Gott verbunden zu sein. Als traditionell dominanter Kulturstil bestimmt diese Mentalität selbst das Verhalten von Amerikanern, in deren Existenz Religion keine Rolle spielt.
Allerdings bekennen sich immer weniger junge Amerikaner zu einem Gott, der ihnen persönlich Wissen schenkt. Zugleich wächst in Kreisen, die auf soziale Eleganz setzen, ein Vorbehalt gegen den Individualismus der Extreme. Der europäische Sozialstaat und – vielleicht zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte – Begriffe von Gleichheit haben Konjunktur an einem neuen Horizont von Werten, auch und gerade unter vielen Reichen des Landes.
Vielleicht verläuft an dieser sich abzeichnenden Grenze zwischen den Exzessen der amerikanischen Religion und einer aufkommenden Bewunderung für die Zukunftsversprechen des wiederentdeckten alten Kontinents jene Spaltung unserer Gesellschaft, die gerade Europäern so auffällt. Nicht um eine zur Entscheidung anstehende Alternative geht es hier, sondern um eine Verschiebung im Selbstverständnis und in den Idealen, die sich kaum auf Bevölkerungsgruppen oder politische Parteien abbilden lässt.
Mit ihr geht ein im Vergleich zu den lauten Identitätsdebatten der vergangenen Jahre moderater Ton in den intellektuellen Leitmedien und Gesprächen unter ihren Lesern einher. Offen bleibt aber vorerst die Frage, ob Amerika seine spezifische kulturelle Kraft in dem Maß verlieren wird, wie es den klassischen Formen einer Nation der Extreme abschwört.
Dieser Artikel ist am 29. März unter dem Titel „Amerikaner lieben die Exzesse und die Extreme. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun und mit der Religion“ in der WELT erschienen.
Titelbild:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm