ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Professor Dr. Jan Söffner, geboren 1971 in Bonn, studierte Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität zu Köln. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss promovierte er am dortigen Romanischen Seminar mit einer Arbeit zu den Rahmenstrukturen von Boccaccios „Decamerone“. Die nächsten drei Jahre führten ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung nach Berlin. Zurückgekehrt an die Universität zu Köln, erfolgte neben einer weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Internationalen Kolleg Morphomata die Habilitation. Jan Söffner übernahm anschließend die Vertretung des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitete Deutsch- und Integrationskurse für Flüchtlinge und Migranten an den Euro-Schulen Leverkusen. Zuletzt arbeitete er erneut am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und als Programmleiter und Lektor beim Wilhelm Fink Verlag in Paderborn. An der Zeppelin Universität lehrt und forscht Professor Dr. Jan Söffner zur Ästhetik der Verkörperung, zur Kulturgeschichte sowie zu Literatur- und Theaterwissenschaften.
Eine der literarisch stärksten Passagen des Neuen Testaments ist die Szene (Joh 18,37–38), in der der gefangene Jesus bekennt, er sei auf die Welt gekommen, um Zeugnis für die Wahrheit abzulegen – und Pilatus, schon im Weggehen und ohne eine Antwort abzuwarten, ihn fragt: «Was ist Wahrheit?»
In diesem Moment scheint der Römer der Weise zu sein und der Nazarener sich wie ein naives Kind zu benehmen, das so vieles nicht weiss und nicht bedenkt: Nicht, dass es viele und widersprüchliche Wahrheiten gibt, über die die Philosophie schon zur damaligen Zeit endlos debattiert hatte. Nicht, dass der ausserphilosophische Lauf der Welt ganz gut ohne Wahrheit auskommt (wenn nur genug militär- und verwaltungstechnische Richtigkeit, ökonomisch ausgehandelte Stimmigkeit, Glaube an die sozialen Werte sowie persönliche und familiäre Aufrichtigkeit vorhanden ist). Und vor allem nicht, dass Wahrheit mindestens so sehr eine Machtfrage wie eine Wissensfrage ist.
Pilatus hätte auch fragen können, in welchen Lebensbereichen denn überhaupt von Wahrheit die Rede sei. Das hätte Jesus auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass Wahrheit nur in der Politik, in der Religion und vor Gericht anzutreffen ist – also in Machtdomänen, in denen Wahrheit immer auch Machtstrukturen sichert. Vielleicht hätte Jesus dann verstanden, dass er unwissend in einen Machtkampf geraten ist, der ihn nun das Leben kosten würde. Die kindliche Naivität Jesu scheint Pilatus aber immerhin Zeugnis von Harmlosigkeit zu sein – und so tritt der Statthalter vor das Volk und sagt, er könne keine Schuld in diesem Angeklagten erkennen.
Nun ist der Text aber von einem Evangelisten geschrieben, der diese Lesart sicherlich nicht unterzeichnet hätte. Johannes wollte Jesus nicht als Naivling erscheinen lassen. Er wollte zum Ausdruck bringen, dass Christus Zeugnis von der Wahrheit ablegt – und zwar kraft seiner göttlichen Autorität. Doch die Welt versteht diese Wahrheit nicht: Die Szene, in der Pilatus nach der Wahrheit fragt, ist Ausdruck der Finsternis.
Zu Beginn desselben Evangeliums scheint Jesu Licht in sie hinein, und Johannes schreibt: «Die Finsternis hat es nicht begriffen.» Der Clou dieses Satzes ist, dass «begriffen» (griech.: «katelaben») auch «ergriffen» bedeutet: Die Finsternis hat das Licht der Wahrheit also einerseits nicht verstanden, andererseits nicht zu fassen bekommen, nicht töten können. Auf Pilatus bezogen würde das bedeuten: Er ist zwar ein Agent der Finsternis, bleibt aber trotzdem empfänglich für eine Wahrheit jenseits der weltlichen Macht, eine Wahrheit des Lichts und der Erleuchtung, für die er Jesus halbherzig zu retten versucht.
Führt man beide Lesarten – Wahrheit als Instrument der Macht und Wahrheit als göttliches Licht – zusammen, ergibt sich eine Perspektivfrage. Aus Sicht der Macht erscheint Erleuchtung naiv, aus Sicht des Göttlichen erscheint die Wahrheit korrumpiert, wenn sie zur Machtfrage verkommt.
Die Ambivalenz dieser zwei Perspektiven hielt lange vor und ordnete sich von Epoche zu Epoche neu an. Während das erleuchtende Licht allmählich von der christlichen Wahrheit zu den Wahrheiten des Renaissance-Humanismus, der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts wanderte, fehlte es umgekehrt niemals an Pilatus-Nachfolgern: an Politikern und Denkern, die, wie Machiavelli oder Nietzsche, Wahrheit als Ausdruck, Folge und Mittel der Macht verstanden. Michel Foucault ging so weit, die Form und den Gehalt der Wahrheit grundsätzlich als Effekt der Macht zu beschreiben. Er argumentierte überzeugend, dass sie immer die Folge einer Kontrolle darüber sei, wer wie und worüber sprechen dürfe.
Die heutige Ausprägung dieses Konflikts wirkt jedoch eigenwillig schal. Wer Wahrheit noch als Machtfrage ansieht, fühlt sich leicht in die Nähe von Verschwörungstheorien und alternativen Fakten gerückt. Über die russische Propaganda, die Panzer mit dem Buchstaben V bemalt und die Russen auffordert, einer durch keinerlei Fakten gedeckten «Wahrheit» zu folgen, reibt man sich erstaunt die Augen.
Warum wirkt die Wahrheit aber so gestrig? Denken wir auch hier von der Macht her, lässt sich dieser Umstand vielleicht etwas besser verstehen. Max Weber definierte Macht als die «Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen» – und selbstverständlich konnte man die Wahrheit (und sei diese auch erlogen) qua Überzeugungskraft zur Verringerung des Widerstands und also zur Steigerung der Chance auf Willensdurchsetzung nutzen.
Heute steigert man diese Chance anders. Denkt man zum Beispiel daran, wie Apps unsere Informationen, unsere Wege, unsere Termine steuern, wie wohlkalkulierte Anreize als «Stupser» unser Verhalten beeinflussen, wie soziale Netzwerke unsere Kommunikation lenken und uns zu unseren (teils vermeintlichen, teils tatsächlichen) Interessen bringen – dann erkennt man, dass Wahrheit für die Macht nicht mehr sehr wichtig ist. Anstatt um wahre Aussagen geht es heute um zutreffend berechnete Voraussagen, wie künstliche Intelligenzen sie liefern. Und danach geht es darum, möglichst mikroinvasive Steuerungseingriffe vorzunehmen.
Sonderlinge und Verschwörungstheoretiker mögen Macht und Wahrheit noch zusammendenken. Insgesamt aber kommt Macht inzwischen weitgehend ohne Wahrheit aus. Sie braucht keine Überzeugung mehr, sie braucht gehackte Bürger, deren Verhalten und deren Entscheidungen man vorauswissen kann. Und sie braucht Benutzeroberflächen, hinter denen die immer weiter anwachsende Komplexität der Gesellschaft verschwindet.
Parallel dazu verlief in den letzten Jahrzehnten auch die Entwicklung der epistemischen, auf Wissen und Erkenntnis zielenden Frage nach der Wahrheit. Wissenschaftliche Tatsachen sind in dieser Zeit immer mehr zu einer Frage der korrekten Anwendung und Entwicklung empirischer (meist quantitativer) Methoden geworden, und die Ausführung und Kontrolle dieser Methoden lässt sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr und immer besser digitalisieren, teilweise auch durch künstliche Intelligenzen automatisieren.
Das menschliche Subjekt büsste damit langsam, aber sicher seine Zentralstellung im Wissensbetrieb ein – und der Erkenntnisbetrieb selbst entkoppelte sich von der subjektiven und sinnvollen Erkenntnis und verlagerte sich stattdessen mehr und mehr auf die objektivierten Fakten (für deren Objektivität Subjektivität und Sinnempfinden als hinderlich gelten). Bestand Wahrheit einst aus der Kopplung von Fakten und Sinn und kam ihr qua Sinn auch eine Dimension der Erleuchtung und Offenbarung zu, scheint gerade diese Seite heute altmodisch, ideologisch und hinderlich.
Wie erfolgreich dieses auf Fakten reduzierte Wissen gerade in politischer Hinsicht ist, hat sich in der Corona-Zeit gezeigt, als es das erste Mal spürbar dominant wurde und die Statistiken und wissenschaftlichen Erkenntnisse die Nachrichten dominierten. Andere planetarische Probleme – wie etwa die Klimakrise – werden ohne eine ähnliche Verlagerung auf objektivierte Vorhersagen und Berechnungen kaum angegangen werden können. Meinungen und Deutungen, die einst politische Wahrheiten bildeten, werden künftig sofort als Ideologien abgetan werden. Wahrheit ist damit nicht mehr an Sinn gebunden. Sie ist auf das Mass wissenschaftlicher Fakten zusammengeschmolzen.
Aber ist das überhaupt ein Problem? Nur dann, wenn man eine sinnvolle Welt haben will. Ob man eine solche will oder nicht, könnte eine Generationenfrage sein. Fridays for Future und andere Jugendbewegungen wollen meistens eher eine aus funktionaler und mathematisch-rationaler Sicht bessere Welt; der Sinn der Wahrheit scheint der jüngeren Generation stattdessen etwas Subjektives und Privates zu sein, nichts Politisches.
Vielleicht lässt die biblische Szene sich daher eines Tages umschreiben: in den Dialog eines betagten Verschwörungstheoretikers mit der jungen Systemadministratorin einer funktional optimierten Smart City. Deren bloss noch aus historischem Interesse gestellte Frage auf die Wahrheitsrede des Ersteren wäre dann: «Wozu brauchte man nochmals Wahrheit?»
Dieser Artikel ist am 16. April unter dem Titel „Die Mächtigen brauchen keine Bürger mehr, die ihre Wahrheiten glauben. Sondern Menschen, die gehackt und gesteuert werden können“ in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Titelbild:
| Ameer Basheer / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Yuyeung Lau / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Oksana Manych / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Jan Söffner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm