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Dr. Martin R. Herbers ist seit September 2012 Postdoc im Fachbereich Kultur- und Kommunikationswissenschaft. Er ist seit Juni 2019 Fellow im Projekt „netPOL – Internationales und interuniversitäres Netzwerk Politische Kommunikation“ und leitet seit Juni 2020 das Projekt „Nachhaltigkeit – Wen interessiert’s?“ Ebenso leitet er seit März 2020 das Zentrum für Politische Kommunikation. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Transformation der politischen Öffentlichkeit durch Digitalisierung und Unterhaltung und die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen in Theorie und Empirie.
Tatsächlich ist es in der aktuellen Zeit nicht unwahrscheinlich, dass sich Vitali Klitschko als Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew mit seinen Amtskolleg:innen per Videokonferenz austauschen möchte. Ganz geheuer kam den Politiker:innen der Anruf dann doch nicht vor. Zwar sah der Gesprächspartner auf dem Monitor so aus wie Vitali Klitschko, stellte aber auch verfängliche Fragen, etwa zum Verhalten ukrainischer Geflüchteter in Deutschland. Er sprach – trotz seiner exzellenten Deutschkenntnisse – Russisch und wurde von einem Dolmetscher übersetzt. All dies führte im Falle von Franziska Giffey zu einem vorzeitigen Gesprächsabbruch.
Die Skepsis sollte sich bestätigen: Mittlerweile zeigt sich das russische Satiriker-Duo „Vovan und Lexus“ für die Anrufe verantwortlich. Das eng entlang der russischen Propagandalinie arbeitende Duo wollte den Gesprächspartner:innen entsprechende pro-russische und anti-ukrainische Statements entlocken, um sie als kommunikative Waffe in Putins Desinformationskrieg zu verwenden. Der Einsatz dieser computergenerierten, täuschend echt aussehenden Deepfakes, etwa von Vitali Klitschko zielt – so die Journalistin Nina Schick – darauf ab, Misstrauen zu schaffen und letztlich Zweifel über eine gemeinsam geteilte politisch-demokratische Wirklichkeit auszulösen.
Medienwissenschaftlich gesehen sind Deepfakes sogenannte „synthetische Medien“. Dies umfasst Bilder, Töne und Animationen, die komplett durch künstliche Intelligenz hergestellt werden. So können etwa täuschend echte Gesichter oder auch Stimmen von Menschen produziert und verbreitet werden. Entscheidend ist, dass sie in böser Absicht verwendet werden, nämlich um zu täuschen oder zu schaden. Das Ziel des Einsatzes von Deepfakes ist es, Verwirrung und Misstrauen zu stiften.
Zum einen werden die eigenen Sinne in Frage gestellt. Bilder und Töne bilden die Grundlage der menschlichen Wahrnehmung und das, was wir mit eigenen Augen sehen, wirkt für uns authentisch und wahr. Eine Täuschung erschüttert – mehr oder weniger stark – den Glauben an die eigenen Sinne. Zum anderen wird auf einer gesellschaftlichen Ebene Verwirrung gestiftet: Die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann gehen von einer gemeinsam geteilten Wirklichkeit aus, der sich Menschen anschließen, um gemeinsam handeln zu können und das Zusammenleben organisieren zu können. Wenn nicht mehr einzuschätzen ist, ob unser Gegenüber tatsächlich die Person ist, für die sie sich ausgibt, dann entsteht Unsicherheit über die Wirklichkeit. Schließlich vertrauen wir auch darauf, dass die Wirklichkeit eben ein soziales Produkt ist – und nicht künstlich zu bösartigen Zwecken hergestellt wird.
Mit Blick auf die politisch-demokratische Kommunikation muss also kein Zweifel darüber herrschen, dass es eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit gibt, in der entsprechende Probleme kollektiv verbindlich gelöst werden können. Dies setzt auf der Seite der individuellen Akteur:innen ebenfalls Vertrauen voraus – und sei es nur, dass das Gegenüber auch tatsächlich diejenige Person ist, für die sie sich ausgibt. Der gefälschte Politiker Klitschko wirkt individuell wie gesellschaftlich erschütternd.
Dabei ist ein Deepfake gegenwärtig relativ einfach herzustellen. Ursprünglich löste die Technologie ein Problem der Forschung zur künstlichen Intelligenz: Entsprechender Software war es leicht möglich, menschliche Gesichter zu erkennen. Die Aufgabe, ein überzeugendes Bild eines menschlichen Gesichts herzustellen, blieb aber lange ungelöst – die so generierten Bilder wirkten eben künstlich und nicht authentisch-menschlich.
Gelöst wurde das Problem durch eine Verkoppelung der Bildproduktion mit einer weiteren Software zur Bilderkennung. Diese bewertet das hergestellte Bild auf dessen Authentizität und meldet zurück, welche Eigenschaften des Bildes zur Erhöhung der Authentizität verändert werden müssen – solange, bis das Ergebnis überzeugt. Waren hierzu in den Anfängen dieser Entwicklung noch große Mengen an Trainingsmaterial – also Bilder von menschlichen Gesichtern – nötig, so werden gegenwärtig nur noch wenige Bilder aus Ausgangspunkt benötigt. Diese sind im Falle von Vitali Klitschko im Übermaß im Internet zu finden – ebenso wie Fernsehinterviews, mit deren Hilfe auch seine Stimme einfach imitiert werden kann.
Obgleich die Authentizität eines Bildes durch entsprechende technische Verfahren erhöht werden kann, wird sie immer auch durch Menschen zugeschrieben. Ein technisch noch so perfekter Deepfake kann auf Basis seines Verhaltens oder seiner Aussagen wie im Falle von Franziska Giffey Skepsis hervorrufen. In der Forschung zur Mensch-Maschine-Interaktion wird der Zusammenhang zwischen einer perfekten technischen Simulation und der menschlichen Akzeptanz beschrieben. Hier zeigt sich, dass nicht-perfekte Simulationen eher angenommen werden – schließlich sind auch alle menschlichen Gesichter nicht perfekt. In dem von Masahiro Mori beschriebenen „uncanny valley“ („Gruselgraben“) liegen dann all jene Simulationen, die bei den Betrachter:innen eher Unbehagen als Authentizitätsgefühle auslösen.
Die Perfektion liegt also in der Imperfektion, wie auch der sogenannte Turing-Test aufzeigt: Der vom Informatiker Alan Turing erdachte Test soll helfen, sprachlich vermittelte Kommunikation als entweder menschlich-authentisch oder künstlich erzeugt einzuordnen. Im jährlich vergebenen Turing-Preis konnte sich bis jetzt jedoch keine Maschine als perfekte Imitation durchsetzen.
Übertragen auf die politisch-demokratische Kommunikation bedeutet dies: Im Idealfall geht man von einer gemeinsam geteilten Wirklichkeit aus, in der kollektiv verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Wäre dem aber wirklich so, bräuchte es keine Parteien und andere Formen der politischen Interessenvertretungen mehr – diese bieten immer auch Wirklichkeitsentwürfe an, die mit anderen Wirklichkeitsentwürfen konkurrieren, ohne den eigentlichen Prozess der Wirklichkeitskonstruktion anzuzweifeln. Neben den verschiedenen Wirklichkeitsentwürfen aus dem politischen System treten derzeit neben die technischen auch satirische Wirklichkeitsentwürfe, die diese Konstruktionsleistung grundlegend in Frage stellen.
Der Diskussion um den gefälschten Klitschko geht ein ähnliches Beispiel voraus, das auch aus dem Bereich der Satire stammt. So kursierte im März 2015 ein Video durch die verschiedenen Kanäle des Internets, in dem der ehemalige griechische Finanzminister Yannis Varoufakis bei einem öffentlichen Vortrag zu sehen ist. Das besondere hieran ist: Während er über die Austeritätsforderungen Deutschlands gegenüber Griechenland spricht, streckt er seinen Mittelfinger aus – es folgte eine entsprechende medial-politische Empörungswelle.
Kurz darauf behauptete der Satiriker Jan Böhmermann in seiner Sendung „Neo Magzin Royale“, dieses Video manipuliert zu haben und damit aufzeigen zu wollen, wie einfach und unreflektiert mediale Empörung ausgelöst werden kann. Dies wiederum nahm Günther Jauch zum Anlass, Varoufakis in seiner Talkshow als Gast zu den Vorfällen zu befragen. Der Minister selbst gab bekannt, niemals irgendjemandem den Mittelfinger gezeigt zu haben und dass das Video eine Fälschung sei. Die Redaktion von Jauch ließ das Video prüfen und kam zu dem Schluss, dass es sich um unmanipuliertes Bildmaterial handele. Böhmermann veröffentlichte daraufhin ein Making-of seiner Produktion, in dem das umstrittene Video sowohl unmanipuliert als auch manipuliert aufgeführt wurde. Nach all diesem Verwirrspiel ist bis heute unklar, welche Variante der hier gezeigten – auch politischen – Wirklichkeit gelten soll.
Dabei ist satirische Kommunikation in ihrer grundlegenden Idee ein sozialer Schutzraum, wie der Medienwissenschaftler Siegfried J. Schmidt ausführt. Der Schutz eröffnet die Möglichkeit, die allgemein akzeptierten Wirklichkeitskonstruktionen durch die Mittel der Komik in Frage zu stellen. Dabei wird sie aber nicht ernsthaft in Frage gestellt, sondern vielmehr ihre Konstruiertheit – und damit auch ihre Veränderbarkeit – aufgezeigt. Damit dies gelingen kann, muss Satire auch als solche erkannt werden können, etwa durch Hinweise der Kommunizierenden. Die Publikumsmitglieder müssen diesen Rahmen ebenfalls erkennen können – und letztlich bis zu einem gewissen Grad auch mitspielen und die satirische Situation etwa durch Lachen wieder auflösen. Auch, um anschließend wieder „normal“ weiterzumachen.
Hierzu benötigt Satire die erkennbare Überspitzung. Ein klassisches Beispiel ist etwa der Roman „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift, in dem der Protagonist auf einer abenteuerlichen Weltreise mit übertriebenen Varianten der damaligen Gesellschaftsordnung konfrontiert wird. Diese Deutlichkeit und Erkennbarkeit wird in der Satire der Gegenwart, aber auch in den Deepfakes in Frage gestellt. Mit Blick auf die Satire hält die Medienwissenschaftlerin Vera Podskalsky fest, dass diese gegenwärtig kein überzeichnetes Bild der Wirklichkeit mehr aufzeigen kann. Die gemeinsam geteilte Wirklichkeit ist inhärent absurd geworden – kein satirischer Entwurf kann sie noch überspitzter darstellen, als sie es schon ist.
Daher kommuniziert Satire inzwischen hyperreal, in dem sie die Wirklichkeit detailliert beschreibt und dadurch deren Konstruktion aufzeigt: Die satirische Aktion um Yannis Varoufakis‘ Mittelfinger kann nur gelingen, da genau aufgezeigt wird, wie sie angeblich funktioniert. Mit der Hyperrealität ist auch ein Prozess des Weiterdrehens verbunden. Die satirische Situation kann kaum zu Ende gebracht werden, vielmehr gibt es immer Anlässe, sie fortzuführen, wie die oben skizzierte Kaskade hin zu Jauch und dessen Analysen zurück zu Böhmermann und dessen bewusstem Spiel mit der Unsicherheit. Dies muss bis heute gesellschaftlich ausgehalten werden.
Die als satirisch bezeichnete Aktion um Vitali Klitschko folgt ähnlichen Regeln: Sie ist hyperreal in der Darstellung und wird – unter anderem in diesem Beitrag – auch weitergedreht und verweigert sich so einer abschließenden Beurteilung. Was diesen Fall besonders macht, ist, dass das satirische Element nur vorgeschoben ist: Hier entsteht kein sozialer Schutzraum, in dem alle Beteiligten wissen, dass alles, was gesagt wird, unernst ist. Selbst wenn es ein Prank, also ein komisch gemeintes, grobes Hereinlegen von Unwissenden ist, fehlt die Auflösung und die Rückführung in die gemeinsam geteilte Wirklichkeit. Es ist vielmehr eine propagandistisch orientierte Desinformationstaktik, die absichtsvoll die politische Wirklichkeit stören soll, die als Gespräch unter Amtsträger:innen gerahmt war.
Die dort stattfindende Kommunikation sollte – folgt man den Ansichten von Jürgen Habermas – unter anderem wahr und wahrhaftig sein. Eine Behauptung muss den Tatsachen entsprechen und der Sprechende muss das Gesagte auch so meinen, wie es gesagt wurde – und nicht mit Täuschungsabsicht. Dass diese Geltungsansprüche auch im normalen politischen Geschäft schwer einzulösen sind – hier gibt es immer strategische Absichten –, ist geschenkt. Im Bereich der Deepfakes potenzieren sich aber diese Probleme. Und dies schadet nicht nur dem demokratischen Prozess, sondern auch der Satire als wichtigem und notwendigem gesellschaftlichen Schutzraum.
Ob Varoufakis oder Klitschko, ob nun echt oder gefälscht: Die Beispiele zeigen, dass demokratisch-politische Kommunikation äußerst störanfällig ist. Da sie aber zentral für das gesamtgesellschaftliche Leben und die damit verbundene gemeinsam geteilte Wirklichkeit ist, benötigt es Sicherungssysteme, die auch auf die neuen technischen und kommunikativen Möglichkeiten reagieren. Ein generelles Verbot oder eine strenge Regulierung der Technik schaffen hier nur in einem begrenzten Rahmen Sicherheit und fördern vielmehr Anreize, diese zu umgehen. Vielmehr sollte auf einer gesellschaftlichen Ebene ein Bewusstsein für die Technologie, ihre Potenziale und Anwendungsbereiche, aber auch ihre Limitationen herrschen.
Auch müssen im politischen Bereich Sicherungssysteme gefunden werden, die die Authentizität der Beteiligten sicherstellen. Die kommunikative Rahmung muss deutlich sein, um eine satirische Intervention zu erkennen und gegebenenfalls auch zuzulassen. Auf einer individuellen Ebene muss die Media Literacy – also der kompetente Umgang mit Medien – gestärkt werden. Satire und Deepfakes müssen auch in ihrer Hyperrealität erkannt werden können und im besten Sinne folgenlos bleiben.
Aktuell herrscht noch Zweifel darüber, ob der Deepfake um Vitali Klitschko auch ein echter Deepfake, also ein künstlich generiertes Bild, ist. So zeigt der Journalist Daniel Laufer in einem Twitter-Thread auf, dass es sich auch um einen sogenannten Cheapfake handeln könnte. Cheapfakes sind bereits vorhandene Bilder, die aus ihrem ursprünglichen Kontext genommen und in einer anderen Situation neu eingefügt werden. Auch der Cheapfake hat die Absicht, zu verwirren und Misstrauen zu stiften. Die gezeigten Bilder ähneln denen eines Interviews, das Klitschko einem ukrainischen Journalisten im April gab. Genau wie im Fall von Yannis Varoufakis bleiben die Ereignisse bislang unaufgeklärt – und die Unsicherheit muss ausgehalten werden.
Ob Cheapfake oder Deepfake ist für das hier diskutierte Problem unerheblich: Beide greifen unter dem Deckmantel der Satire das Vertrauen in den demokratischen Prozess an. Erst, wenn wir gesellschaftliche und individuelle Kompetenzen schaffen, mit Deepfakes und Satire produktiv umzugehen, können wir das mit ihnen verbundene potenzielle Misstrauen überwinden. Und dann können sogar beide Klitschko-Brüder anrufen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Martin R. Herbers
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm