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Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an der Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Kälter als sonst in den Wochen zwischen Winter und Frühjahr fühlt es sich an, als ich Anfang September aus Houston am internationalen Flughafen von Rio de Janeiro ankomme. Zum eher freundlichen Ausgleich für die Temperatur hält der ebenso volltätowierte wie lakonisch-ernste Beamte bei der Passkontrolle die wenigen Passagiere nicht mit ausführlichen Fragen zum Grund der Einreise auf, und da mein Koffer auch bald aufs Gepäckband gleitet, sitze ich schon eine halbe Stunde nach der Landung in einem der gelben Rio-Taxis, das nicht so viel Zeit wie sonst bis zu den Stränden der Innenstadt braucht. In Gesprächen mit Taxifahrern kann man schnell den Puls eines Landes spüren.
Senhor George, so heißt meiner, muss um die fünfzig sein, stellt sich als Anhänger von Flamengo vor, dem beliebtesten aller Fußballklubs dieses Kontinents, spricht stolz über die Qualifikation zum Endspiel der südamerikanischen Champions-League-Version und verhalten optimistisch im Blick auf das am nächsten Tag anstehende Halbfinale zum nationalen Pokalwettbewerb. Euphorisch klingt er allerdings nicht.
Auf die Frage zum anderen großen Wettbewerb in Brasilien, der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober, muss sich Senhor George die Sätze wirklich abringen. „Uma grande confusao“, eine große Verwirrung, sei das alles, sagt er zu meiner Überraschung, vielleicht werde er seine Stimme dem abgeschlagenen, an dritter Stelle rangierenden Kandidaten geben oder vielleicht auch gar nicht wählen, worauf in Brasilien eine – eher milde – Geldstrafe steht. Zu weiteren Worten oder Einschätzungen kann ich ihn nicht überreden. Also sprechen wir wieder über Fußball. Für das Pokalspiel gegen den FC Sao Paulo tippt Senhor George auf 1:0 – und sollte recht behalten.
Auch ich fand die Unterhaltung verwirrend, da die politische Situation – auf den ersten Blick jedenfalls – an Klarheit nichts zu wünschen übriglässt. Zwei Figuren haben sich von Beginn des Wahlkampfes abgesetzt und werden zweifellos in die entscheidende zweite Runde am 30. Oktober einziehen. Jair Bolsonaro, der 1955 geborene, in mancher Hinsicht an Donald Trump erinnernde Amtsinhaber, und Lula da Silva, der zehn Jahre ältere, zwischen 2003 und 2011 international angesehene Ex-Präsident und Vorsitzende der Partei der Arbeiter. Seit Monaten hält Lula einen Vorsprung von gut zehn Prozent. Alles spricht also dafür, dass ein unter den niedrigen lokalen Tarifen leidender Taxifahrer wie Senhor George auf Lula setzt – oder eben, was nicht ganz auszuschließen ist, auf Bolsonaro mit seinen populistischen Tönen. „Verwirrung“ sollte jedenfalls nicht aufkommen.
Abgesehen von dem über seine Frau vermittelten Glauben an die elementare Orthodoxie des in Brasilien weitverbreiteten, aus Nordamerika importierten Evangelismus ist Bolsonaros Programm einer „Revolution“ von Staat und Gesellschaft in vielerlei Akte der Provokation und der Zerstörung überkommener Strukturen auseinandergefallen, deren einzig denkbare Kohärenz sich aus Impulsen von Ressentiment ergibt. Bolsonaro scheut nicht davor zurück, homosexuelle Paare öffentlich zu verspotten und Frauen erotische Angebote zu machen; er hat vergangenen Monat die 200. Feier des nationalen Unabhängigkeitstages zu einer Wahlveranstaltung pervertiert, nahm nicht am Ritual der Amtsübernahme für die höchste Bundesrichterin teil und verschwendet nun Steuergelder mit heftigen Subventionen für private Energiekosten, um letzte Stimmen zu gewinnen.
Niemand weiß, ob sein allgegenwärtiges Verwischen der Grenze zwischen persönlichen Interessen und der offiziellen Aura des Präsidenten aus einer zynischen Strategie, aus fehlendem Takt oder aus mangelnder Intelligenz erwächst. Kürzlich hat Bolsonaro gedroht, allein einen Sieg als Wahlergebnis anzuerkennen und damit das Szenario eines vom Militär ermöglichten Staatsstreiches heraufbeschworen, mit dem die Brasilianer aus Kapiteln ihrer Geschichte nur allzu vertraut sind.
Gegenüber dem mit einer Militärkarriere gescheiterten Präsidenten und Befehlshaber haben sich die Generäle jeglicher Reaktion enthalten und immerhin die Organisation einer Panzerparade zum umfunktionierten Nationalfeiertag verweigert. Was ihre Vorgänger vor einem guten halben Jahrhundert zur innenpolitischen Intervention motivierte, nämlich eine kommunistische Revolution nach kubanischem Vorbild, steht heute nicht mehr am Horizont. Und der Präsident merkte nach weiteren Verlusten in den Umfragen an, dass seine „in der Hitze des Gefechts gefallene“ Staatsstreichankündigung nicht ernst zu nehmen sei.
Die allenthalben eingestandene Verwirrung – und die sie begleitende Verstimmung – der meisten brasilianischen Wähler hat also zwei Schichten. Die Folgen eines mit jedem Tag wahrscheinlicher werdenden Wahlsieges von Lula kann angesichts der Ambivalenzen im Militär niemand vorhersagen. Zugleich haben beide Protagonisten der politischen Szene sogar unter vielen ihrer Anhänger das Kapital von Hoffnung auf eine wünschenswerte Zukunft verspielt. Dass sich Frühlingstemperaturen nicht einstellen wollen, passt zum Abschwung aller nach vorne gerichteten Vorstellungen und Gedanken. So sind denn auch Schlagzeilen über den Wahlkampf von den Titelseiten der an Kiosken kaum noch aufzutreibenden Qualitätszeitungen Brasiliens verschwunden. Und selbst die konservativen Traditionsblätter sehen mittlerweile einen Sieg von Lula als den weniger problematischen Ausgang an.
Statt über neueste Tagesereignisse zu berichten, ergehen sich die Journalisten in quasi-philosophischen Charakteranalysen der politischen Figuren. Sie verweisen etwa auf Bolsoranos Unfähigkeit, den Begriff von „Reue“ zu verstehen und ernst zu nehmen, den er im Rückblick auf ausgebliebene Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung verwendet hatte – oder sie stellen Lulas Treue gegenüber den Grundsätzen des Sozialismus in Frage, seit er ein Mitglied der Oppositionspartei aus seiner Präsidentenzeit in die Wahlkampfmannschaft einbezogen hat.
Derart weit geht die Lethargie der Medien, dass selbst Fußballereignisse des jeweiligen Vortages bloß noch mit knappen Notizen bedacht werden. Nur auf eine Person bin ich in meiner Rio-Woche gestoßen, die ein Gespräch aufnahm, ohne ein einziges Mal von „confusao“ zu sprechen. Sofia ist 24 Jahre jung und hat gerade mit ihrer Berufspraxis als Psychotherapeutin für Patienten nach dem Pensionsalter begonnen. Dass sie die verdächtig schwelgenden Klagen einiger meiner Generationsgenossen zur Militärdiktatur der 1970er und 1980er Jahre mit der Bemerkung unterbricht, es gebe keine Alternative zur politischen Form der parlamentarischen Demokratie, wirkt immerhin erfrischend inmitten von Stimmen melancholischer Erschöpfung.
Bemerkenswert finde ich ihre anschließende diagnostische Beobachtung. Angesichts der unvermeidlichen Langwierigkeit vieler demokratischer Prozesse komme in der Welt schneller elektronischer Kommunikation immer mehr Ungeduld auf und eine Sehnsucht nach direkten Entscheidungen mit unmittelbaren Konsequenzen. Figuren wie Bolsonaro, Trump oder Orban, meint Sofia, seien keine nationalen Einzelfälle, sondern könnten im schlimmsten Fall den kommenden Typ des erfolgreichen Politikers vorwegnehmen. Über Gegenstrategien der Dezentralisierung und über neue Rituale von Präsenzdemokratie dächte sie mit ihren Freunden nach.
Ähnliche Vorschläge zu einem neuen Ansatz politischer Partizipation habe ich seit einigen Jahren in den Vereinigten Staaten wie in Europa oft gehört. Die Ermüdung der Demokratie und die Unfähigkeit der rasch an Konturen verlierenden Parteien, neue politische Gestalten ohne Narben aus Skandalvorgeschichten zu fördern, sind zu einem internationalen, vielleicht zu einem zentralen Problem der Gegenwart geworden. In Brasilien besonders wird es wohl auch deshalb zu einer akuten Bedrohung, weil noch viele Bürger davon sprechen, individuell eher recht als schlecht in der Militärdiktatur gelebt zu haben. Warum sollten sie überhaupt ihre vergleichsweise junge Demokratie verteidigen?
Diese Demokratie beginnt gerade, so brüchig und verbraucht auszusehen wie die gleichaltrigen Apartmentgebäude an den Stränden von Ipanema und Copacabana. Eine Stadt der Erneuerung ist Rio de Janeiro – anders als Sao Paulo – ohnehin nie gewesen. Das Licht des nächsten Frühlings hingegen wird nach diesem langen südlichen Winter endlich scheinen. Mit Gewissheit vor dem 30. Oktober, wenn die Präsidentschaftswahlen entschieden werden. Doch politische Vorhersagen von ähnlicher Gewissheit gibt es nicht, zumal in Brasilien.
Dieser Artikel ist am 29. September unter dem Titel „Die große Verwirrung“ in der WELT erschienen.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm