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Debatten im Kunstfeld

Nicht nur die Schönheit liegt im Auge des Betrachters

von Charlotte Hüser | Zeppelin Universität
11.10.2022
Kunst sollte stets in ihrem individuellen Kontext gesehen und verstanden werden, einen Zwang zur Kontextualiserung sollte es jedoch nicht geben. Schließlich ist es doch das Wunderbare an der Kunst, dass ihre Wahrnehmung, Interpretation und damit auch die durch sie entstehenden Emotionen absolut subjektiv sind und damit gleichzeitig höchst unterschiedlich sein können.

Charlotte Hüser
Akademische Mitarbeiterin an der Seniorprofessur für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft
 
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    Zur Person
    Charlotte Hüser

    Charlotte Hüser ist akademische Mitarbeiterin an der Seniorprofessur für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft von Professor Dr. Franz Schultheis, wo sie bereits seit 2020 HiWi war. Seitdem hat sie sich um die Klassifizierung sowie die Digitalisierung der gesammelten fotografischen Zeugnisse Pierre Bourdieus gekümmert. Außerdem unterstützt sie Professor Schultheis im DFG-Projekt zur Visuellen Soziologie Pierre Bourdieus bei der Herausgabe verschiedener Publikationen. Sie hat sowohl ihren Bachelor als auch ihren Master an der Zeppelin Universität gemacht. Abgesehen von ihren Studienschwerpunkten liegen ihre Interessen vor allem im Bereich der Kunstsoziologie.

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Es gibt eine große Anzahl von Skandalen in den vergangenen Jahrzehnten, die die Kunstwelt erschüttert haben und deren Ursache wir heute nicht mehr oder nur noch sehr schwer nachvollziehen können, ja, die wir zum Teil als geradezu grotesk empfinden. Um einige anschauliche Beispiele zu nennen:


Das Bild „Das Frühstück im Grünen“ von Édouard Manet wird in der Kunstszene heute weltweit geschätzt. Es wurde 1863 vom Pariser Salon abgelehnt. Die Gründe hierfür: Das Motiv einer nackten Frau, die zwischen zwei bekleideten Männern ihr Picknick einnimmt, wurde als unerhört empfunden und nicht nur die Juroren des Salons, sondern auch das Publikum, das es in der Ausstellung für die abgelehnten Werke sehen konnte, empfanden es als eine Anstandsverletzung durch den Künstler. Außerdem wurde auch die Verletzung der klassischen Perspektive und die zum Teil bewusst gewählte grobe Pinselführung moniert.


Heute wird die Darstellung einer nackten Frau in der westlich geprägten Kunstszene von kaum jemandem mehr als anstößig empfunden, die Pinselführung wird nicht mehr kritisch hinterfragt, ebenso wenig wie das Spiel von Licht und Schatten, das noch im 19 Jahrhundert ein ganz wesentliches Kriterium bei der Beurteilung eines Bildes war.


Ein weiteres anschauliches Beispiel für eine uns heute nicht mehr verständliche Aufregung um ein Bild stellt das Werk „Die Ährenleserinnen“ des Malers Jean-François Millet aus dem Jahr 1857 dar. Dieses Bild, auf dem in realistischer Manier drei Bäuerinnen bei der Feldarbeit zu sehen sind, stieß allein wegen seiner Größe (84cm x 1,12m) auf Empörung. Die Abbildung der einfachen Bevölkerung bei der Arbeit in einem solchen Format erschien den konservativen Kunstkritikern als Aufruf zum Volksaufstand!


Völlig unverständlich heute. Das Bild erscheint uns heute geradezu romantisch.

„Das Frühstück im Grünen“ von Édouard Manet
„Das Frühstück im Grünen“ von Édouard Manet
„Die Ährenleserinnen“ von Jean-François Millet
„Die Ährenleserinnen“ von Jean-François Millet

In das Visier der Kritik geraten heute andere Werke – wie zum Beispiel das Bild „Ziegelneger“ von Georg Herold von 1981. Das Bild wurde Ausgangspunkt für eine ausgesprochen aggressive Auseinandersetzung, die ihren Ursprung in einem empörten Post einer jungen Frau hatte und die in dem Bild deutliche Anzeichen von Rassismus zu erkennen glaubte. Sie forderte die Abhängung und die Distanzierung des Museums und ihrer Verantwortlichen vom Titel. Im Laufe der medialen Kontroverse wurde schließlich sogar die Zerstörung des Bildes gefordert.


Eine andere Empörungswelle richtet sich derzeit gegen das Bild „Thérèse, träumend“ von Balthus von 1938. Mit diesem Bild, glauben die Aktivisten, werde pädophiles Gedankengut visualisiert. Man fordert die Abhängung und Verbannung des Bildes aus den Ausstellungsräumen.

„Thérèse, träumend“ von Balthus
„Thérèse, träumend“ von Balthus

Die erstaunliche Veränderung unseres Blickes auf Kunst, auf Bilder und Skulpturen hat mit der Veränderung des „Nährbodens“ zu tun, auf den unsere optische Wahrnehmung im Gehirn trifft. Dieser „Nährboden“ besteht aus Wissen, Erfahrungen, Emotionen, aber auch Überzeugungen und Werten. Ganz wesentlich wird er von unserem jeweiligen kulturellen Umfeld geprägt.


So hat ein Franzose vermutlich deutlich andere Assoziationen und Empfindungen bei Bildern, die sich mit Napoleons Russlandfeldzug beschäftigen oder aber beim Anblick des Bildes „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix (1830). Aber es ist nicht nur der individuelle kulturelle Hintergrund, der uns ein Bild auf die eine oder andere Art wahrnehmen lässt, sondern es sind auch immer die Themen der Zeit, die unseren Blick prägen.


Und so kommt es dazu, dass ein Bild, das viele Jahre völlig unbeachtet im Städel Museum hing, wie das von Georg Herold, plötzlich in den Fokus einer aktivistischen Bewegung gerät, die sich engagiert und lautstark gegen Diskriminierung einsetzt, wo immer sie glaubt ihn auszumachen.


An dieser Stelle werden die Wucht und die Kraft der sozialen Medien deutlich. „Digitale Schwärme“, sprich Mobs, können Eigendynamiken entwickeln, die extreme Haltungen und Aussagen fördern. Aufgrund der Anonymität im Internet können sich hier alle zu Wort melden. Durch die schnellen Kommunikationsabläufe der sozialen Medien kann es schnell zu Rufschädigungen und Kontaminationen einzelner Akteure kommen. Genauso schnell wie jemand „angesagt“ sein kann, kann er auch „gecancelt“ werden. Das, was der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han den „digitalen Schwarm“ nennt, bewegt sich in flüchtigen, instabilen, kollektiven Mustern. Es gibt selten eine gemeinsame Stimme. Dafür gibt es die Kraft, sogenannte Shitstorms – also kurze Sturzflüge auf eine Person oder Gruppe, um diese bloßzustellen und zu skandalisieren – auszulösen.


Nun bin ich auch der Auffassung, dass wir energisch gegen Rassismus auftreten müssen. Genauso bin ich dafür, dass wir unbedingt gegen Pädophilie ankämpfen und die Gesellschaft von Frauenfeindlichkeit befreien müssen. Allerdings darf dieses Engagement keinesfalls dazu führen, dass plötzlich Werke, nur weil wir sie heute anders „lesen“, in einer Weise attackiert werden, die im Ergebnis als Zensur gesehen werden muss. Ich denke, dass vielen der Aktivisten die Bedeutung der Kunst für eine funktionierende Gesellschaft nicht bewusst ist.
Über Kunst soll diskutiert und gestritten werden, Kunst muss nicht gefallen und kann aus den unterschiedlichsten Motiven abgelehnt werden.


Aber mit der Forderung nach Abhängung oder gar Vernichtung eines Kunstwerkes begibt man sich in die gefährliche Nähe von Menschen und Zeiten, mit denen man wirklich nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Auch die Taliban in Afghanistan hatten aus ihrer Sicht sicherlich gute Gründe dafür, die Buddha-Statuen von Bamiyan 2001 zu zerstören, frönten diese doch einer fremden Religion.


Nicht ohne Grund genießt die Kunst in Deutschland nach den entsetzlichen Erfahrungen in der NS-Zeit mit der Brandmarkung von moderner Kunst als „entartet“ und deren Verbrennung einen außergewöhnlich hohen Verfassungsschutz mit Artikel 5 GG, der im Ergebnis nicht nur das Kunstwerk selbst, sondern auch den Schaffensprozess betrifft und sogar umfassender ist, als die ebenfalls in Artikel 5 GG geregelte Meinungsfreiheit, die durch „einfache“ Gesetze eingeschränkt werden kann, während die Kunstfreiheit ausschließlich nach einer zu ihren Ungunsten erfolgten Abwägung mit einem anderen Grundrecht eingeschränkt werden darf.


Während uns allen aber die Notwendigkeit der Meinungsfreiheit für eine lebendige Demokratie ohne Weiteres klar ist, ist die Bedeutung der Kunstfreiheit weniger offensichtlich.

„Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix
„Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix
Buddha-Statuen von Bamiyan
Buddha-Statuen von Bamiyan

Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte benutzt der Mensch die Kunst als Möglichkeit, seine Träume, Ängste und besonders auch seine Lebenswirklichkeit zu spiegeln. Sie ist identitätsstiftend, kann Therapie, Ventil und auch Katalysator sein, sie verbindet Menschen und Kulturen. Kunst ist wichtig für eine stete Selbstreflexion und Transformation der „gesunden“ Gesellschaft. Durch Kreativität und Innovation regt Kunst auf besondere Art und Weise zum Denken an, verändert den Blick auf die Realität und wirkt so wiederum auf die Gesellschaft ein.


Das setzt aber auch eine besondere Freiheit hinsichtlich dessen, was gezeigt werden kann, voraus.


Die Gefahr, Kunst in zulässige und unzulässige Werke zu unterteilen, bedeutet Zensur. Auch wenn uns einige Bilder, Maler oder Titel – aus welchen Gründen auch immer – nicht gefallen, darf daraus nicht die Aufforderung nach Abhängen oder Nicht-Ausstellen des Werkes folgen. Kunst muss nicht moralisch einwandfrei sein und ebenso wenig der Künstler. Das bedeutet natürlich nicht, dass er damit frei von jeder Verantwortung für sein Werk ist, geschweige denn einen Anspruch auf Kritiklosigkeit hat, aber er ist weder dazu verpflichtet, sich oder sein Werk zu erklären, noch dazu verpflichtet, jede mögliche Lesart seines Werkes bei der Herstellung zu berücksichtigen. Dies würde einer Selbstzensur gleichkommen.


Es ist nicht nur gut, sondern wünschenswert, dass sich die Gesellschaft mit ihren Künstlern und deren Werken auseinandersetzt und es ist ebenso zu begrüßen, dass Werke, die unter den Gesichtspunkten, die unserer Generation besonders wichtig sind – wie die Auseinandersetzung mit Rassismus, Kolonialismus und dem (biologischen und sozialen) Geschlecht – im Rahmen einer öffentlichen Präsentation kontextualisiert werden. Der Betrachter sollte durchaus darauf hingewiesen werden, unter welchen historischen, gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen beispielsweise ein Bild entstanden ist, welches das Sklavendasein in einer heute unverständlich verklärenden Art und Weise zeigt. Ebenso wie es sinnvoll ist, die auf Tahiti zwischen 1891 und 1901 entstandenen Bilder von Paul Gauguin vor dem Entstehungshintergrund der westlichen kolonialen Vorstellungen von „Exotik“ und „Erotik“ zu erläutern, wie dies mit der Ausstellung „Paul Gaugin – Why Are You Angry?“ in der Alten Nationalgalerie in Berlin offensichtlich geglückt ist, die zudem seine Werke dort vor dem Hintergrund aktueller Diskurse mit Positionen zeitgenössischer Künstler zusammenbrachte.


Dies alles scheint eine lohnenswerte Ergänzung einer Ausstellung zu sein, die den Nährboden des Betrachters in fruchtbarer Weise ergänzt und ihn nicht bevormundet, indem sie ihm vorschreibt, wie er/sie das Bild zu sehen hat beziehungsweise entscheidet, ob bestimmte Werke überhaupt in die Öffentlichkeit gelangen. Kunst sollte stets in ihrem individuellen Kontext gesehen und verstanden werden, einen Zwang zur Kontextualiserung – von der ausstellenden Institution oder dem Künstler selbst – sollte es jedoch nicht geben. Schließlich ist es doch das Wunderbare (im wahrsten Sinne) an der Kunst, dass ihre Wahrnehmung, Interpretation und damit auch die durch sie entstehenden Emotionen absolut subjektiv sind und damit gleichzeitig höchst unterschiedlich sein können.

Titelbild: 

| Dan Farrell / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

| Édouard Manet / Google Arts and Culture (Public Domain) | Link 

| Jean-François Millet / Google Arts and Culture (Public Domain) | Link 

Balthus / WikiArt.org (Fair Use) | Link

Eugène Delacroix / WikiArt.org (Lizenzfrei) | Link

| Buddha Bamiyan / WikiMedia.org (CC BY-SA 3.0) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Charlotte Hüser

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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