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Florian Muhle, geboren und aufgewachsen in Oldenburg, studierte einen Bachelor in Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaft und einen Master in Interdisciplinary Media Studies an der Universität Bielefeld. In seiner Promotion an der dort ansässigen Fakultät für Soziologie führte er „Sozialtheoretische und empirische Studien zu Grenzen der Akteursfähigkeit ‚sozialer Maschinen‘ in virtuellen Kommunikationsprozessen“ durch. In den Jahren nach seiner erfolgreich abgeschlossenen Promotion übernahm Florian Muhle mehrere leitende Positionen in internationalen Forschungsprojekten, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und von der VolkswagenStiftung gefördert wurden und an den Schnittstellen von Mediensoziologie, Politik und digitaler Kommunikation angesiedelt waren. Zwischenzeitlich habilitierte er an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld über „Formen und Grenzen personalisierter Adressenbildung in der Kommunikation“. Aufenthalte als Gastforscher führten Florian Muhle unter anderem an die Norwegian University of Science and Technology in Trondheim, an die Technische Universität Graz und an die Australian National University in Canberra.
Das Sommerfest der Zeppelin Universität stand in diesem Jahr unter dem Motto „Unzeit“. Dieses Motto verweist darauf, dass „fast nie passiert, was gerade passt“. Es sind aber nicht nur über uns hereinfallende Ereignisse, die uns im falschen Moment erwischen. Auch wir selbst können Dinge im falschen Moment tun und bekommen dann die Folgen je nach Kontext unterschiedlich stark zu spüren. Besonders hart traf es im vergangenen Jahr den damaligen Kanzlerkandidaten der Unionsparteien Armin Laschet, als dieser in seiner damaligen Funktion als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den von Überschwemmungen besonders betroffenen Rhein-Erft-Kreis besuchte.
Dort machten sich beide ein Bild von der Lage vor Ort, sprachen mit Einsatzkräften und traten dann nacheinander vor der Feuerwehrzentrale vor die Presse. Als der Bundespräsident den Betroffenen sein Mitgefühl und Beileid zum Ausdruck brachte, stand Armin Laschet einige Meter entfernt im Eingangsbereich des Feuerwehrgebäudes, wo er offensichtlich darauf wartete, an die Reihe zu kommen und dabei mit anderen Personen scherzte und lachte. Laschet war in dem Moment offensichtlich bewusst, dass einige Meter vor ihm auf der „Vorderbühne“ der Bundespräsident sprach und konnte ahnen, worum es in dessen Worten ging. Zugleich war dem Kanzlerkandidaten scheinbar nicht klar, dass die Kamerabilder nicht nur den Bundespräsidenten einfangen, sondern er selbst und die ihn umgebenden Personen auf der „Hinterbühne“ ebenfalls im Bild sind. Er wähnte sich – so scheint es – in einer nicht-öffentlichen Situation, in der er unbeobachtet und ungezwungen mit den Personen um ihn herum sprechen und scherzen kann.
Hätte er zu einem anderen Zeitpunkt mit den gleichen Leuten gescherzt oder aber im selben Moment unbeobachtbar innerhalb des Gebäudes gestanden, wäre dies nicht weiter aufgefallen und problematisiert worden, da die Rede des Bundespräsidenten und die Scherzereien des Ministerpräsidenten in voneinander getrennten Situationen stattgefunden hätten. Indem Laschet sich aber unter den Augen der Öffentlichkeit befand, wurden er und seine Begleiter:innen in dem Moment ungewollt Teil der Situation, in welcher der Bundespräsident sprach – auch wenn sie selbst es in diesem Moment nicht so wahrgenommen haben. Genau hierdurch geriet Laschets geselliges Verhalten zum Fauxpas und zum Lacher zur Unzeit. Denn in der öffentlichen Wahrnehmung stand es, indem es durch die gleichen Kameras eingefangen wurde wie die Rede des Bundespräsidenten, in direkter (sichtbarer) Verbindung zum Geschehen auf der Vorderbühne. Auf diese Weise konnte das Lachen im Zusammenhang mit den Beileidsbekundungen als vollkommen unpassend wahrgenommen werden und eine „Welle der Empörung“ auslösen.
Um diese Welle der Empörung nachzuvollziehen, reicht es aber nicht aus, nur auf das Verhalten des Kanzlerkandidaten zu schauen. Denn einerseits muss sein taktloses Verhalten auf der Hinterbühne überhaupt erst einmal auffallen. Andererseits könnte man diesem selbst wiederum taktvoll begegnen und es ignorieren, um so Gesichtswahrung zu betreiben. Tatsächlich scheint dies bei den publizistischen Medien – also derjenigen gesellschaftlichen Instanz, die für die Herstellung gesellschaftsweiter Öffentlichkeit zuständig ist – zunächst der Fall gewesen zu sein. Denn entweder fiel ihnen der Fauxpas des Kanzlerkandidaten gar nicht auf oder sie ignorierten ihn. Jedenfalls wurde zunächst im Routinemodus über den Besuch in den Überschwemmungsgebieten und die Inhalte der Politikerreden berichtet. Erst einige Stunden nach dem Pressetermin wurde die öffentliche Berichterstattung umgestellt und auf Laschets Fauxpas hin orientiert. So lautete etwa bei n-tv.de die Überschrift zum Ereignisbericht zunächst „Laschet verspricht ‚sehr unbürokratisch Geld‘“. Am frühen Abend wurde diese dann in „Laschet-Lachen sorgt für Empörung“ geändert.
Was war in der Zwischenzeit geschehen? Die Statements der beiden Politiker wurden mittags live auf dem YouTube-Kanal des WDR übertragen. Hier hat Laschets Lachen tatsächlich die Aufmerksamkeit einiger Online-User:innen erregt, die in der Kommentarspalte des Videos darauf hinwiesen. Hierbei handelte es sich aber zunächst keineswegs um eine „Welle“, sondern nur um wenige Nutzer:innen. Wenig später „schwappte“ die Empörung dann auf den Kurznachrichtendienst Twitter über, der für die öffentliche Kommunikation vor allem deshalb wichtig ist, weil er von Politiker:innen viel genutzt und von Journalist:innen aufmerksam beobachtet wird.
Einerseits wurde hier ein kurzer und vergrößerter Videoausschnitt der Szene von einer Nutzerin geteilt und anschließend unter anderem vom damaligen Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, weiterverbreitet. Andererseits fingen davon unabhängig Twitter-Nutzer:innen an, über den Fauxpax zu schreiben und diesen mit dem Hashtag #LaschetLacht zu belegen, das in der Folge begann, die deutschsprachigen Twitter-Trends zu bestimmen. Dies zog schließlich die Aufmerksamkeit der publizistischen Medien auf sich, die nun ihre Berichterstattung umstellten und mit Verweisen auf Tweets von führenden SPD-Politikern und den Twitter-Trend über die Empörung über Laschets Lachen zu berichten. Innerhalb weniger Stunden wurde so die öffentliche Aufmerksamkeit auf den einen Moment des Besuches fokussiert, in dem Armin Laschet im falschen Moment scherzte und lachte. Dieser Moment entwickelte sich geradezu zum „defining moment“ des Wahlkampfes. Denn von dem Lacher haben sich Laschet und seine Kampagne nicht wieder erholt und der Stern des Kandidaten begann in der Folge unaufhörlich zu sinken, während der seriös wirkende Olaf Scholz gleichzeitig zu einem bis dahin nicht erwarteten Aufschwung ansetzte.
Man könnte nun versucht sein, an dieser Stelle das demokratische Potenzial der sozialen Medien zu betonen und den Fall (des Kandidaten) als Beispiel dafür zu nehmen, wie es „normalen“ Bürger:innen gelingen kann, Öffentlichkeit herzustellen und Aufmerksamkeit für das Fehlverhalten eines Politikers zu generieren. Eine solche Lesart wäre sicher nicht ganz falsch, aber zugleich auch nicht ganz richtig. Schaut man sich die „Welle der Empörung“ nämlich etwas genauer an, fällt auf, dass diese zum einen so riesig nicht war, sondern vor allem durch den metaphorischen Sprachgebrauch der publizistischen Medien zu einer Welle gemacht wurde. Zum anderen erwuchs die Empörung über den Fauxpas auch nicht einfach „urwüchsig“ aus den verstreuten Reaktionen des Publikums der Öffentlichkeit. Stattdessen wurde sie von verschiedenen Akteuren in den sozialen Medien durchaus aktiv und strategisch erzeugt.
So waren an dem Trend insgesamt nur etwas mehr als 20.000 Accounts beteiligt, die rund 60.000 Tweets mit dem Hashtag #LaschetLacht absetzten. Für die deutsche Twitter-Sphäre ist dies zwar eine recht große Zahl, da Hashtags an normalen Tagen nur wenige tausend Tweets benötigen, um Trends zu dominieren. Angesichts von über 60 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland bleibt die Zahl der sichtbar Empörten aber verschwindend gering. Von den publizistischen Medien wurde (und wird in der Regel) aber nicht thematisiert, wie viele Accounts den Hashtag nutzen und welchen Anteil dies unter den täglichen Twitter-Nutzer:innen ausmacht. Stattdessen erfuhr ihr Publikum lediglich, dass das Hashtag die Twitter-Trends (mit-)dominierte und die Empörung bei Twitter groß gewesen sei.
Betrachtet man diese Empörung noch genauer, fällt zudem auf, dass sie vor allem von aktivistischen Accounts angetrieben wurde, die erkennbar eine politische Agenda verfolgen. Einige dieser Accounts machten ihrer Empörung auch nicht nur einmal Luft, sondern verbreiteten sie teilweise sogar mehrere hundertmal. So waren die zehn aktivsten Accounts für mehr als 4.000 Tweets mit dem Hashtag #LaschetLacht verantwortlich. Zudem versuchten Accounts, gezielt öffentliche Personen oder Multiplikatoren wie den CDU-kritischen Account „UnionWatch“ auf das Hashtag aufmerksam zu machen, damit dieses von diesen zentralen Knoten des Netzwerkes weiterverbreitet und damit sichtbarer wird. Es erscheint also gerechtfertigt, angesichts solcher Strategien von einer „künstlichen Amplifizierung“ des Trends zu sprechen.
Es war demnach vor allem eine lautstarke Minderheit, die Empörung kommunizierte und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der publizistischen Medien generierte. Die Accounts, welche das Hashtag vorantrieben, bedienten dabei gezielt die Aufmerksamkeitsschweinwerfer und Selektionskriterien der publizistischen Medien und boten diesen gewissermaßen ein „gefundenes Fressen“, sodass diese den Trend aufgriffen, überhaupt erst gesellschaftsweit sichtbar machten und damit sicher dazu beigetragen haben, dass sich in der Folge tatsächlich Empörung breit machte, die ihren Ausdruck im nachhaltig sinkenden Stern des Kandidaten fand.
Zweifellos lachte Armin Laschet also im falschen Moment und verhielt sich nicht so, wie es von einem verantwortungsvollen Bundeskanzler in spe erwartet wird. Während knapp 20 Jahre zuvor der damalige Bundekanzler Gerhard Schröder ein Hochwasser nutzen konnte, um „Leadership in Gummistiefeln“ auszustrahlen, gelang genau dies Armin Laschet nicht. Anstatt das Momentum des Wahlkampfes auf seine Seite zu ziehen, geriet ihm sein Lacher zur Stolperfalle. Hierfür trägt er selbst die Verantwortung. Dennoch haben die Medien ihren Teil dazu beigetragen. In diesem Sinne kam für Laschet möglicherweise auch seine eigene Kandidatur zur Unzeit. Wäre er im Jahr 2002 angetreten, als die sozialen Medien noch Zukunft waren, hätte sich sein Fauxpas möglicherweise „versendet“. Im heutigen hybriden Mediensystem mit seinen mitunter unerbittlichen Aufmerksamkeitsdynamiken war sein Fehltritt nicht nur in einer Hinsicht unverzeihlich.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Martin Seifert (CnndrBrbr, Wikipedia), eigenes Werk (CC0 Public Domain) | Link
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Florian Muhle