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Kürzlich hat das Deutsche Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl für verfassungswidrig erklärt. Was hat es denn mit dieser Sperre überhaupt auf sich?
Prof. Dr. Georg Jochum: Es handelt sich um eine Bestimmung im deutschen Europawahlgesetz, wonach bei der Verteilung der deutschen Mandate nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens drei Prozent der gültigen Stimmen erhalten haben.
Mit welcher Begründung haben die Karlsruher Richter die Klausel denn gekippt?
Jochum: Das Gericht sieht einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Die Gleichheit der Wahl bedingt, dass alle Stimmen nicht nur gleich viel zählen, sondern auch einen gleichen Erfolg bei der Umrechnung in Sitze haben. Von dieser Gleichheit kann nur ausnahmsweise abgewichen werden, wenn gewichtige Gemeinwohlgründe dies rechtfertigen. Ein solcher Grund ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystems. Denn in diesem System bedarf es einer Mehrheit im Parlament, um eine Regierung bilden zu können. Viele kleine Parteien können diese Regierungsbildung beeinträchtigen oder sogar unmöglich machen. Einen solchen gewichtigen Grund haben die Richter beim Europaparlament nicht gesehen, weil es ohnehin in viele Parteien zersplittert sei und noch keine so gewichtige Rolle spiele, dass seine Funktionsfähigkeit bedeutender sei als das Gleichheitsrecht der Wähler.
Bei der letzten Wahl hätten knapp 150.000 Stimmen ohne die Drei-Prozent-Hürde zum Einzug ins Parlament gereicht. Öffnet der Wegfall der Regel jetzt Spaßparteien und Extremisten die Tür nach Europa?
Jochum: Es öffnet in jedem Fall Parteien die Möglichkeit zur Repräsentation, die wie die Rentnerpartei Partikularinteressen vertreten oder die extreme Minderheitspositionen wie die NPD beziehen. Bei entsprechend niedriger Wahlbeteiligung können dann sogar auch Spaßparteien ins Parlament einziehen.
Müssen wir uns nun eigentlich auch politische Sorgen machen, wenn möglicherweise eine Zersplitterung des Parlaments droht, sowie es der Bundestag befürchtet hat?
Jochum: Das müssen wir in der Tat. Die Entscheidung passt ins Bild. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in früheren Entscheidungen dem Europäischen Parlament die demokratische Legitimation abgesprochen und die Entscheidung sorgt dafür, dass es so bleibt. Anstatt eine effektive Mitwirkung der Bürger auf europäischer Ebene zu ermöglichen, wird das Parlament weiter geschwächt. Damit wird sichergestellt, dass das scheinbar Primat der nationalen Parlamente erhalten bleibt. Da aber die nationalen Parlamente auf europäischer Ebene gar nicht effektiv mitwirken können, stärkt das Urteil vor allem die Hinterzimmer Demokratie des Europäischen Rates, in dem Frau Merkel und ihre Kollegen Lösungen ausverhandeln, die anschließend „alternativlos“ vom Bundestag abgenickt werden. Da das Europäische Parlament dank reichlich vertretener Partikularinteressen kein machtvoller Akteur sein kann, wird die Demokratie auf europäischer Ebene geschwächt, nicht gestärkt. Kurz: Das Bundesverfassungsgericht arbeitet konsequent weiter an der Delegitimierung Europas.
Gibt es in anderen Ländern ähnliche Hürden oder Diskussionen? Wie wird dort beispielsweise Extremisten und Kleinstparteien entgegengewirkt?
Jochum: Das Wahlrecht zum Europa-Parlament ist in jedem Staat anders geregelt. In 13 von 28 existieren keine Hürden, allerdings bestehen oftmals auf Grund von Wahlkreiseinteilungen oder der Größe der Abgeordnetenkontingente faktische Hürden für Splitterparteien. Auf Grund der Größe der Abgeordnetenkontingente sind vor allem Deutschland und Spanien großzügige Entsendestaaten für Kleinstparteien.
Titelbild: Bundesverfassungsgericht / Pressebilder
Bilder im Text: jeweils European Parliament / flickr.com