ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
In der Klassik wird im wahrsten Sinne nach allen Regeln der Kunst gespielt. Warum das Improvisieren im klassischen Konzert seit dem Barock an Bedeutung verloren hat, untersuchte ZU-Absolventin Maria Reich in ihrer Bachelorarbeit, die mit dem Best Thesis Award für herausragende Abschlussarbeiten ausgezeichnet wurde.
„Die Damen legten die Shawls ab, die Herren logierten, alles war in Bewegung, und oft konnte man vor dem Geräusch der lebhaften Konversation etc. kaum die Musik hören.“ So zitiert die Bachelorabsolventin Maria Reich in ihrer Abschlussarbeit den deutschen Musikwissenschaftler Walter Salmen, der über die Bedeutung der klassischen Musik bei Hofe des französischen Adel schrieb. Mit denselben Worten hätte man auch die diesjährige Absolventenfeier im September umschreiben können. Beim Empfang der Gäste gab es neben Sekt auch improvisierter Klaviermusik. Im Rahmen der Veranstaltung wurden hervorragende Abschlussarbeiten mit dem Best Thesis Award ausgezeichnet, darunter Maria Reichs Arbeit mit dem Titel: „Mit Klassik spielt man nicht! – Zur Improvisation im klassischen Konzert.”
Das Festival „Jazz and more“ im Kulturhaus Caserne Friedrichshafen endete mit einem philosophischen Schlusspunkt: Der Philosoph Daniel Martin Feige präsentierte in einen Vortrag sein im Mai 2014 erschienenes Buch „Philosophie des Jazz“. Feige, selbst aktiver Jazzmusiker, hat sich ausgehend von der musikalischen Praxis dem Jazz als philosophischem Gegenstand genähert. Er beschreibt unter anderem, was man vom Jazz über die bildende Kunst lernen kann und zeigt, dass Improvisation auch in der klassischen Musik bis Beethoven eine wichtige Rolle gespielt hat. ZU|Daily traf ihn zum Gespräch.
Die zentrale These Ihres Buches lautet: „Jazz macht nicht nur etwas explizit, was in der europäischen Kunstmusik implizit bleibt, sondern etwas, das für die Kunst als solche wesentlich ist.“ Das klingt sofort nach Wertung, ist laut Ihrer Aussage aber keine.
Dr. Daniel Martin Feige: Für mich ist in diesem Zusammenhang insbesondere der „Werkbegriff“ wichtig. Bei einem Werk unterstellen wir, dass es abgeschlossen ist, sobald der Komponist seinen Stift weggelegt hat. Anschließend wird es eben mehr oder weniger gut gespielt. Ich halte diese Sicht für völlig falsch! Jedes Werk wird in seiner Aufführung durch die Interpretation weiterkomponiert. Es muss in jeder Aufführung aufs Neue beweisen, dass es etwas taugt. Im Jazz ist das klar: Das Werk ist jedes Mal unterschiedlich und somit einzigartig, da es live entsteht. Ich möchte hier keinen Vergleich zweier Musikrichtungen anstellen ebenso wenig wie ich Künste vergleichen würde. Was wir gut finden, hören oder sehen wir uns an. Ich möchte zeigen: Philosophisch interessierte Menschen können allgemein etwas Philosophisches vom Jazz lernen.
Die Präsentation, bestens vorbereitet und stichhaltig recherchiert. Die Aufregung steigt, der Vortrag steht kurz bevor. Doch dann ein Problem: der Computer gibt den Geist auf. Meistens gibt es dann nur einen Weg: Improvisation. Was auf den ersten Blick als unerwünschtes Mittel zur Lösung ineffizienter Situationen erscheint, könnte sich in Zukunft zu einem neuen Paradigma von Organisation entwickeln. Prof. Dr. Peer Ederer beschäftigt sich mit Humankapital und nachhaltigen Wachstumsstrategien für Unternehmen und meint: Improvisation ist alles andere als ineffizient.
"Wir haben das Bestreben, alles in Systeme zu packen", charakterisiert Ederer die aktuellen Denkschemata der deutschen Wirtschaft und sieht darin ein zum Scheitern verurteiltes Paradigma. Denn diese festen Systeme sind einem stetigen Prozess von Veränderungen aus unterschiedlichsten Quellen ausgesetzt, welcher die bisherige Vorgehensweise zunichte macht. Die Differenz zwischen dem geplanten Ergebnis und sich ergebenden Status Quo müsse dann durch improvisiertes Handeln überbrückt werden, analysiert der Wissenschaftler. In vielen Fällen werde somit ohnehin schon außerhalb geplanter Abläufe und damit entsprechend ineffizient gehandelt. Wenn diese Differenzen verhindert werden sollen, müssten für alle Eventualitäten passende Szenarien entwickelt werden, das Ausmaß solcher Planungen wäre unüberschaubar. Ganz praktisch gedacht: Würde man für jede Eventualität eine Anweisung in einem Handbuch manifestieren, es wäre endlos. Die Relevanz des Problems zeigt sich auch in seiner Reichweite: "Es existiert in einem Unternehmen keine Abteilung, die nicht von solchen Veränderungen betroffen ist", kommentiert Ederer.
Die Phänomene der Kreativität und Improvisation gehören in den täglichen Lebensablauf nahezu aller Menschen. Ob in der Schule oder im Studium, im Berufsleben oder natürlich in der Politik. Die Soziologie vernachlässigt Kreativität, Improvisation und Spontanität allerdings noch viel zu stark, erklärt Professor Dr. Udo Göttlich, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Medien- & Kommunikationswissenschaft der Zeppelin Universität. In seinem Sammelband „Kreativität und Improvisation“ wirft er einen theoretischen Blick unter die Oberfläche menschlicher Entscheidungen.
Sie erläutern, dass Kreativität und Improvisation eine möglichkeitsreiche Herausforderung für die Soziologie darstellen und das Leben der Menschen schon immer beeinflusst haben. Auf welche Fragen soll der Sammelband Antwort-Optionen bieten?
Professor Dr. Udo Göttlich: Auch wenn Kreativität und Improvisation, darüberhinaus auch Spontaneität, das Leben des Menschen schon immer beeinflusst haben, so gibt es in der soziologischen Handlungstheorie bislang nur wenige Autoren und auch Zugänge, die sich mit diesem Themengebiet auseinandergesetzt haben. Es geht hierbei nicht um die Frage, wie Kreativität oder Spontaneität beim Menschen erzeugt werden können. Die handlungstheoretische Frage besteht vielmehr darin, die aller bewussten Zwecksetzung vorausgehende praktische Vermitteltheit des Subjekts mit seiner Welt auf theoretischer Ebene vor Augen zu führen.
Titelbild: Pulpolux / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Bilder im Text: Andreas Friedrich / Redaktion
The Queens Hall / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Becky Wetherington / flickr.com (CC-BY-2.0)
wsilver / flickr.com (CC BY 2.0)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann