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Im September 2016 graduierte Jonathan Muth im Bachelorstudiengang „Communication, Culture & Management“ an der Zeppelin Univeristät. Seit Januar 2012 hatte er die Universität durch vielfältiges Engagement nachhaltig geprägt. Muth engagierte sich unter anderem als Gründungsmitglied der interdisziplinären studentsichen Forschungskonferenz ZUfo und machte die studentischen Initiativen Welle20 oder Seekult mit durchdachten Homepage-Konzepten bekannt. Praxiserfahrung sammelte der freiberufliche Webdesigner unter anderem als Praktikant bei der elobau GmbH oder der Agentur SYNTAX in Amman, Jordanien.
Wie bist Du auf das Thema Deiner Bachelorarbeit gestoßen?
Jonathan Muth: Die Digitalisierung ist ein Thema, das mich durch mein gesamtes Bachelorstudium begleitet hat. Zu Beginn noch ganz praktisch, als es zum Beispiel darum ging, welche Rolle der Computer im heutigen Studienalltag spielen kann, darf und soll – im weiteren Studienverlauf dann aber auch immer theoretischer. Bereits in meinem Humboldt-Jahr habe ich mich mit den Auswirkungen von Computern auf schriftliche wissenschaftliche Diskurse beschäftigt. Während meinen Recherchen zu diesem Thema bin ich bei Michel Serres immer wieder über den Begriff der Wolke gestolpert, der es mir möglich machte, einen ganz anderen Blick auf „Cloud Computing“ zu werfen. Irgendwann wollte ich einfach mehr wissen – da kam die anstehende Bachelorarbeit dann mehr als gelegen. Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch noch einmal bei Dirk Baecker, durch dessen Betreuung die Arbeit überhaupt erst möglich wurde.
Was ist eine Cloud und was macht ihre Faszination aus?
Muth: Eine Frage, die ich gerne an den alten Wolkenkenner Hans Guck-in-die-Luft weitergeben würde, denn die eine Wolke gibt es in meiner Arbeit so eigentlich gar nicht. Denn zum einen haben wir es mit einem meteorologischen Phänomen zu tun, das Menschen schon seit Jahrtausenden beobachten und deuten, zum anderen mit „Cloud Computing“ – also einem neuen Paradigma des dezentralen und vernetzten Rechnens – und letztlich mit dem Begriff der Cloud, der Einzug ins Alltagsvokabular gefunden hat und dort erst einmal für einen sehr abstrakten, rechnenden und speichernden Ort im Internet steht.
Warum spielt die Metapher eine so bedeutende Rolle in Deiner Abschlussarbeit?
Muth: Im ersten Kapitel der Arbeit argumentiere ich mit Hans Blumenberg, der die Metapher auch als authentische Leistungsart zur Erfassung von Zusammenhängen versteht. Mit seiner Hilfe schließe ich darauf, dass Metaphern es uns erlauben, Phänomene zu sehen, zu beschreiben und vielleicht auch zu verstehen, die sich andernfalls womöglich unserem Verstand entziehen würden. Erst der metaphorische Zugang macht es mir überhaupt möglich, die Frage zu stellen, was wir eigentlich davon haben, den Wolkenbegriff als Sinnbild einer digitalen Welt zu verwenden.
Hat der Begriff der Wolke eine metaphorische Qualität?
Muth: Auf jeden Fall! Ein kurzer Abstecher in die Geschichte der Informatik zeigt, dass der Wolkenbegriff immer dort verwendet wird, wo es Wissenschaftler und Programmierer, aber auch Marketingabteilungen und Endnutzer mit undurchschaubaren beziehungsweise unberechenbaren Formen von Komplexität zu tun haben. So verwendet die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) Ende der 1970er-Jahre die Wolkenmetapher für Schaubilder, die die Funktionsweise von Computernetzwerken verständlich machen sollen. Der amerikanische Telekommunikationskonzern AT&T greift den Begriff Mitte der 1990er-Jahre auf, um seinen Kunden zu erklären, welche Vorteile die Vernetzung mobiler Endgeräte mit Großrechnern haben könnte. Und Google beansprucht den Begriff der Cloud seit 2006 für ein neues Modell des vernetzten Rechnens. In jedem dieser drei Beispiele geht es darum, etwas zu beschreiben, dass sich konventionellem Denken und damit auch unserer Alltagssprache entzieht.
Wenn man von Wolken spricht, dann spricht man immer auch von etwas, das ständig in Bewegung ist, das sich fortlaufend verändert und einen Hang zur Selbstähnlichkeit besitzt – mit Verweis auf das Wetter vielleicht auch von etwas, worüber man keine Kontrolle besitzt.
Wie beschreibt der französische Philosoph Michel Serres den Wolkenbegriff und wie nähert er sich ihm?
Muth: Bei Michel Serres steht die Wolke für ein neues erkenntnistheoretisches Modell. Dieses Modell macht es vielleicht nicht direkt möglich, der Komplexität der Gegenwart Herr zu werden, erlaubt es allerdings doch, sich auf eben diese Komplexität einzustellen. Ähnlich wie Meterologen, die gelernt haben, mit der Ungewissheit ihrer eigenen Vorhersagen umzugehen, sollten wir uns einer zeitgemäßeren stochastischen Ordnung der Dinge ergeben.
Wie lassen sich nun die Gedanken Michel Serres´ mit der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns vereinbaren?
Muth: Meine Arbeit zielt in erster Linie nicht ab auf die Vereinbarkeit der beiden Denker. Stattdessen werte ich die Tatsache, dass sich Serres und Luhmann mit ähnlichen Themen beschäftigen und mit überraschend gleichartigen Begriffsapparaten arbeiten als Hinweis darauf, dass es sich lohnen könnte, an manchen Stellen genauer hinzuschauen. Die Anschlussfähigkeit von Michel Serres’ Gedanken in einem systemtheoretischen Kontext steht dabei im Vordergrund. Es geht in vielerlei Hinsicht schlicht um das Wiederkennen von Motiven in der Theorie des jeweils anderen. So lassen sich beispielsweise die von Luhmann herausgearbeiteten Medienepochen und die damit einhergehenden Kulturformen sehr gut mit Serres’ Weltzeitaltern vergleichen.
Wieso kann die Cloud als Strukturmetapher dabei helfen, den durch die voranschreitende Digitalisierung verursachten gesellschaftlichen Wandel zu beschreiben?
Muth: Die Cloud gibt der Digitalisierung eine Form. Mit ihr wird es möglich über ein Phänomen zu sprechen, das sich in seiner Gesamtheit – zumindest aktuell – dem Verständnis einzelner Menschen entzieht. Im Gegensatz zu nautischen Metaphern, die lange Zeit den Diskurs um die Digitalisierung dominierten, rückt die Wolke das Problem der Undurchschaubarkeit aktueller Verhältnisse in den Vordergrund.
Was ist das Ergebnis Deiner Arbeit? Und bist Du davon überrascht?
Muth: Genau diese Frage beschäftigt auch mich seit Abgabe der Arbeit. Eine vollständige Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Allerdings verweise ich gerne auf folgenden Paragraph meines Fazits: „Die Begrifflichkeiten sind [am Ende] das einzig Stabile. Mit ihnen wird es möglich über etwas zu sprechen und nachzudenken, das sich in seiner Komplexität jeglichem Verständnis entzieht. Mit ihnen gelangt man zur Erkenntnis, dass eine Welt auch dann noch Sinn machen muss, wenn man sie nicht mehr überblickt oder durchschaut, wenn ihr keine globale Ordnung mehr zu Grunde liegt, wenn die geteilten Werte, an denen sich die Gesellschaft einst orientieren konnte, langsam verblassen.“
… Ich vermute, die Wolke ist genauso ein Begriff.
Titelbild:
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Bilder im Text:
| Sam Johnston / unter Nutzung von OmniGroup's OmniGraffle und Inkscape (enthält Computer.svg von Sasa Stefanovic). Diese Vektorgrafik wurde mit Inkscape erstellt (CC BY-SA 3.0)
| Lionel Abrail / Unsplash.com (CC0 Public Domain)
| Briand / Eigenes Werk (CC BY-SA 3.0)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm