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Hannes Bauer ist seit April 2009 Pfarrer in Friedrichshafen. Beim dritten Termin des Studium Generale erklärte er, wie Wertvorstellungen entstehen und welchen Einfluss sie auf die Entscheidungsfindung haben. Denn in einer Zeit, in der Entscheidungen in einer immer höheren Taktung getroffen werden müssen, bieten Moral, Werte und Ethik Rahmenlinien, welche die Entscheidungsfindung leiten sollten. Doch wie entsteht überhaupt Moral und was sind Wertvorstellungen beziehungsweise gibt es kulturbedingte Unterschiede im Bereich Ethik und Werte?
Noch schnell über eine rote Ampel, auch wenn ein Kind danebensteht. Am Telefon zur Notlüge greifen, wenn man behauptet, es würde gerade nicht passen. Laut Bauer neigt man schnell dazu, in stressigen Situationen eine bequeme über die moralisch korrekte Lösung zu stellen. Doch nicht nur im persönlichen Umfeld: Die Frage nach der Moral begegnet uns fast täglich in den Medien. Zu nennen sind beispielsweise die wüsten Beschimpfungen gegenüber Renate Künast in den sozialen Medien. Das Berliner Landgericht hatte entschieden, dass die Politikerin abwertende Ausdrücke wie „Drecksfotze“ hinzunehmen hat. Verroht unsere Sprache durch die indirekte Kommunikation über soziale Medien und erleben wir infolgedessen einen Werteverfall? Bauer entgegnet: „Es stellt sich die Frage, wie viel Moral überhaupt in uns steckt? Wie werden unsere Moral und Ethikvorstellungen geprägt?“
Ein Wandel ist ohne Frage festzustellen: Moral, Ethik und Wertegrundsätze verändern sich über Generationen und auch im Laufe eines Individuallebens stark. Beispielsweise haben jüngere Generationen heute statistisch gesehen eine geringere soziale Distanz zu Minderheiten als ältere. Auch treten sie eher für eine Gleichbehandlung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt ein. Auf der anderen Seite erlebt Bauer im Alltag der Kinder- und Jugendarbeit, dass es vor allem in den sozialen Medien durch die fehlende Face-to-Face-Konfrontation mit dem Gegenüber viel schneller zu Eskalation und Beleidigung kommt. Laut Bauer ist dies jedoch nicht als Werteverfall zu interpretieren. Jede Generation würde eben anderen Grundsätzen einen hohen Stellenwert einräumen, dies führt folglich zu einem Generationenkonflikt.
Unterschiedliche Werte resultieren jedoch nicht ausschließlich aus generationenbedingten oder gesellschaftlichen Idealen – auch Mangelerscheinungen sind prägend. War der höchste Wert zu Zeiten der Pest im 14. Jahrhundert noch die Gesundheit, so war es im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der sozialen Frage die Gerechtigkeit. Heute vermutet der Pfarrer die Verantwortung für die Zukunft als einen tief in der Gesellschaft verankerten Wert. „Im Endeffekt basiert jede unserer täglichen Handlungen auf einer Wertentscheidung. Diese ergibt sich aus einer Abwägung der persönlichen, religiösen und weltanschaulichen Erfahrungen, aber auch im Hinblick auf Ideale aus Geschichte, Kultur, Recht, Philosophie und Theologie“, meint Bauer.
Insgesamt lassen sich etwa zwischen 120 und 400 Werte in den Weltgesellschaften benennen, etwa die Hälfte davon wird tatsächlich gelebt. Dass diese Zahl relativ niedrig erscheint, liegt vor allem daran, dass sich vieles kulturübergreifend überschneidet. Bauer, der sich sowohl als Student als auch in seiner Tätigkeit als Auslandspfarrer lange mit unterschiedlichsten Kulturen konfrontiert sah, ist der Meinung, dass Kulturen weltweit durch eine Moralphilosophie mit universellem Geltungsanspruch verbunden sind. Hierbei bezieht er sich zuerst auf den kategorischen Imperativ Immanuel Kants und unterstreicht die Validität der Aussage anschließend durch eine Studie von Anthropologen der University of Oxford.
Hierbei konnten die Forscher sieben moralische Grundwerte erfassen, die Kulturen weltweit zugrunde liegen. Dazu zählen unter anderem die Unterstützung der Familie, sich für Gefälligkeiten erkenntlich zu zeigen sowie gerechte Ressourcenverteilung. Die Analyse wurde auf Grundlage von insgesamt 60.000 ethnografischen Berichten aus mehr als 600 Quellen durchgeführt, die 60 Kulturen umfassten. Die Quintessenz der Studie: Moral hat sich in menschlichen Kulturen entwickelt, um Kooperation und Zusammenleben untereinander besser regeln zu können.
Vor diesem Hintergrund plädiert Bauer dafür, sich gegen Nationalismus und Propaganda zu positionieren. Der Pfarrer meint: „Wer nach Unterschieden sucht, der wird diese schnell finden. Sei es beim Kopftuch oder bei der Hautfarbe.“ Wichtig sei es, sich nationaler rechter Stimmungsmache gegen vermeidliche Feindbilder bewusst zu werden. Hannes Bauer macht deutlich, dass sich die abrahamitischen Weltreligionen einen gemeinsamen Ethikkodex teilen, und plädiert letztlich dafür, Gemeinsamkeiten zu feiern.
Titelbild:
| Duy Pham / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| Laura Höring / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm