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Hitler

Die Macht der Abwesenheit

Die einen bieten die passenden Ereignisse von Fackelzügen über Pogrome bis zu Volksaufmärschen an, und die anderen gehen hin, schauen zu und stellen sich Hitlertassen in ihre Wohnzimmervitrinen.

Professor Dr. Dirk Baecker
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Dirk Baecker

    Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.

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    Factbox
    Wie entsteht der Schwarm?

    Der Schwarm entsteht aus der Kommunikation von Ereignissen, die zu ihm passen, und aus der Ablehnung und Entwertung von Ereignissen, die nicht zu ihm passen. Initiatoren und Mitläufer reichen sich hier die Hände, ohne dass man immer wüsste oder wissen müsste, wer wer ist. Wir haben es nicht mit einem gleichgeschalteten Massenphänomen zu tun, sondern mit einer durchaus differenzierten sozialen Dynamik, innerhalb derer jeden jeder daraufhin beobachtet, woran man sich für den nächsten Schritt am besten orientiert und wie man gleichzeitig einen Abstand bewahrt, der es auch wieder erlaubt auszusteigen. Nur so, sagt Baecker, kann man erklären, dass das Dritte Reich wie ein Spuk auftauchte und wie ein Spuk auch wieder verschwand, ohne es zwischendurch an einer sehr handfesten Realität fehlen zu lassen.

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    Dossier
    The Hitler Swarm: An Essay on Form
    Professor Dr. Dirk Baecker (2012)
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Wie und warum entsteht am Anfang der 1930er Jahre das Dritte Reich, das sie als Hitler-Schwarm bezeichnen?

Professor Dr. Dirk Baecker: Das Dritte Reich kann man nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weimarer Republik verstehen. Außerhalb der Sozialdemokratie, die sich auf Erfahrungen aus der Organisation von Arbeit berufen kann, konnte man sich eine nicht-autoritäre Politik auf Dauer nicht vorstellen; und man konnte sie sich umso weniger vorstellen, je drängender die zu lösenden Probleme etwa der Arbeitslosigkeit wurden. Die Weimarer Republik wurde als eine Republik der Schwäche, des endlosen Entscheidens, des Mitredens von zu vielen dargestellt. Der Schwarm, aus dem schließlich das Dritte Reich entsteht, bildet sich in dem Moment, in dem die Frequenz von Ereignissen, die für Desorientierung stehen – vor allem parlamentarische Debatten –, höher wird als die Frequenz von Ereignissen, die das Bedürfnis der deutschen Bevölkerung nach Ordnung befriedigen. Die Nazis haben mit ihren SA- und SS-Trupps sowohl das Chaos vergrößert als auch die möglichen Ordnungskräfte auf die Straße gebracht. Das konnte anschließend bruchlos in die paradoxe Figur des Terrors, der Ordnung verspricht, verlängert werden.

Die Sehnsucht nach Ordnung ermöglicht also die Entstehung des Hitler-Schwarms?

Baecker: Ich folge hier einer Anmerkung des Soziologen Harrison C. White, nach der sich ein faschistisches Regime von einem demokratischen dadurch unterscheidet, das im faschistischen Regime die Frequenz faschistischer Ereignisse hoch und demokratischer Ereignisse niedrig ist; und umgekehrt im demokratischen Regime. Der Hitlerschwarm konnte daraus entstehen, dass in einer für die Bevölkerung problematischen historischen Situation das Interesse an faschistischen Ereignissen und der Herstellung von Ordnung sprunghaft stieg. Das Interesse an demokratischen Ereignissen der Diskussion über alternative Lösungsmöglichkeiten in einer überfordernden Situation ließ dafür drastisch nach. Wenn das auf den beiden Seiten des Handelns und des Erlebens gilt, das heißt wenn nicht nur immer häufiger faschistisch gehandelt wird, sondern auch immer seltener demokratisch erlebt wird, bildet sich ein Schwarm, der aktiv betrieben und passiv ausgehalten wird. Die einen bieten die passenden Ereignisse von Fackelzügen über Pogrome bis zu Volksaufmärschen an, und die anderen gehen hin, schauen zu und stellen sich Hitlertassen in ihre Wohnzimmervitrinen.

Was kennzeichnet einen Schwarm, wenn wir es nicht mit Heuschrecken oder Heringen, sondern mit Menschen zu tun haben?

Baecker: Der Begriff des Schwarms kommt in der Tat aus der Verhaltensbiologie, unterscheidet sich aber auch dort bereits von einer Psychologie der Masse, wie sie etwa von Gustave Le Bon vertreten wurde. Der Schwarm betont, so paradox es klingt, die eigenständige Rolle des Individuums. Während in der Masse das Individuum zu denken aufhört, ist die Intelligenz des Individuums im Schwarm ebenso gefordert wie außerhalb. Es geht etwa darum, kollektive Formationen einzunehmen, die auf Angreifer abschreckend wirken. Und man kann sehr gut sehen, dass ein Schwarm nur dann funktioniert, wenn er über positive Rückkopplung gewünschte Ereignisse verstärkt, über negative Rückkopplung unerwünschte Ereignisse blockiert, individuelle Abweichungen innerhalb bestimmter Grenzen toleriert und insgesamt auf Fluktuationen reagiert, also seine Richtung wechseln kann. Das Dritte Reich weist fürchterliche Pfadabhängigkeiten auf, zugleich jedoch ist es dank seiner Konstitution als Schwarm, wenn meine These stimmt, extrem instabil. Genau deswegen war es so mörderisch und zugleich unberechenbar.

Wie entsteht der Schwarm?


Welche Rolle nimmt der Führer innerhalb des Schwarms ein?

Baecker: Im Fall des Hitlerschwarms ist der Führer derjenige, der immer fehlt und immer überzählig ist. In dem Aufsatz, über den wir hier reden, habe ich ihm die Rolle "n±1" zugewiesen. Der Führer fehlt, denn nur er kann Entscheidungen treffen, alle anderen können mit ihren Entscheidungen nur versuchen, seinen oft nur zu erratenden und vielfach gar nicht vorhandenen Willen zu treffen. Und der Führer ist überzählig, denn andere Entscheidungen als die, die er wollen könnte, kommen nicht in Frage. Ich glaube daher nicht, dass Max Webers Begriff des Charismas, den man zuweilen auf Hitler anwendet, wirklich treffend ist. Beim Charisma geht es um außeralltägliche Eigenschaften, die das Ergebnis einer wie durch ein Wunder von Gott geschenkten, im Falle Hitler: vom Volk geschenkten, Gnadengabe sind. Hitler wurde in der Tat charismatisch verehrt, daran ist wohl kaum zu zweifeln. Aber seine Macht im Schwarm beruhte auf dem Terror dessen, der fehlt und überzählig ist, also immer mit Willkür drohen kann. An diesem Terror arbeiteten sich alle Individuen ab; und darauf beruhte die Macht des Schwarms.

Wie werden im Schwarm Entscheidungen getroffen?

Baecker: Armin Nolzen konnte von der Partei-Kanzlei der NSDAP unter Martin Bormann zeigen, dass hier Entscheidungen nicht-hierarchisch, dezentral, chaotisch-kompetent, lose gekoppelt, lernfähig, beschleunigbar und innovationsfähig getroffen wurden. Das kam mir mit Blick auf die Managementphilosophien der letzten Jahrzehnte bekannt vor. Und in der Tat, wenn die drei Hauptregeln nationalsozialistischer Organisationen lauteten, immer der Bewegung, mindestens aber der Partei zu gehorchen, möglichst nichts zu juridifizieren (Hitler war bekannt für seine Ablehnung von Juristen und seine Verweigerung von Verfassungen) und immer dem Führerwillen zu entsprechen, bevor dieser auch nur ausgesprochen ist, landet man in den assoziativen Organisationen, die Erich Gutenberg als Ausnahmefall kannte und die ziemlich genau dem Führungsstil entsprechen, den Charles Handy als "postheroisch" beschrieben hat. All das funktionierte jedoch nur solange, wie man sich auf drei nie in Frage gestellte, wenn auch untereinander widersprüchliche Zielsetzungen konzentrierte, die gnadenlose Eroberung des Raums im Osten, die "Lösung der Judenfrage" und den insgesamt vorsichtigen Umgang mit den besetzten Ländern im Westen und Norden, deren Respekt vor einer deutschen Kultur man mit Blick auf eine Zeit nach dem Krieg nicht restlos verspielen wollte.

Ist das Ende des Dritten Reiches 1945 auch das Ende des Schwarms?


Baecker: Die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten setzt die Möglichkeit, faschistische Ereignisse zu reproduzieren, auf nahezu Null. Das ist das Ende des Schwarms. Ereignisse eines anderen Typs wurden attraktiver.



Bild: United States Holocaust Memorial Museum

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Zeit, um zu entscheiden

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