ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Professor Dr. Nico Stehr ist Diplom-Volkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung und lehrte seit seiner Habilitation bereits an unzähligen deutschen Universitäten, in Österreich, Kanada und den Vereinigten Staaten. Seit 2004 ist Stehr Lehrstuhlinhaber des Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaften an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. 2011 wurde Stehr ebenfalls in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen.
„Das Hartwell-Papier – Eine Neuausrichtung der Klimapolitik an der Menschenwürde“
Nico Stehr (Hg.)
Taschenbuch: 61 Seiten
Verlag: Springer VS; Auflage: 2015 (14. November 2014)
ISBN-10: 3658074590
ISBN-13: 978-3658074593
Preis: etwa 29,99 Euro
„Der zündende Funke – Innovationen fördern als Weg zu sauberer und bezahlbarer Energie für alle“
Nico Stehr (Hg.)
Taschenbuch: 60 Seiten
Verlag: Springer VS; Auflage: 2015 (7. Oktober 2014)
ISBN-10: 3658075473
ISBN-13: 978-3658075477
Preis: etwa 29,99 Euro
In beiden Werken ist die Rede vom Klimawandel als „tückisches“ Problem: Was ist damit gemeint?
Prof. PhD Nico Stehr: Der Klimawandel ist zwar oberflächlich verstanden plausibel, aber dennoch kein „tame problem“, das heißt ein kompliziertes, aber mit klar definierten und erreichbaren Endzuständen verbundenes Problem. Der Klimawandel ist ein „wicked problem“, das heißt ein „tückisches“ Problem, das offene, komplexe und ungenügend erforschte Systeme umfasst. Bei der Entwicklung der „Kyoto“-Strategie hielt man technisches Wissen als Grundlage für ausreichend, aber „wicked problems“ erfordern ein grundlegendes Verständnis ihrer Einbindung in soziale Systeme, ihrer nicht reduzierbaren Komplexität und ihrer Unlösbarkeit. Die Folge dieses Missverständnisses war ein von Grund auf falscher Deutungsrahmen, in dem der Klimawandel als ein konventionelles, lösbares Umweltproblem dargestellt wurde, was er beides nicht ist.
Wo liegen die eigentlichen Gründe für das Scheitern der bisherigen internationalen Klimaverhandlungen?
Stehr: Die Klimapolitik, wie sie von vielen Regierungen der Welt im Sinne des „Kyoto“-Protokolls verstanden und praktiziert wurde, hat auch nach fast dreißig Jahren zu keinem spürbaren Rückgang der weltweiten Treibhausgasemissionen geführt. Der Grund dafür sind die strukturellen Schwachstellen des UNFCCC/„Kyoto“-Modells, das zum Scheitern verurteilt war, weil es auf diesem systematischen Missverständnis der Natur des Klimawandels als einer politischen Aufgabe der Jahre 1985 bis 2014 beruhte. Allerdings hat dieser immer noch dominante Ansatz wegen des erheblichen politischen Kapitals, das in ihn investiert wurde, eine enorme politische Eigendynamik entwickelt.
Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?
Stehr: Es ist mittlerweile offensichtlich, dass eine Klimapolitik, die auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist (die Emissionsreduktion), in dem alle anderen Ziele aufgehen sollen, nicht möglich ist. Vielmehr ist eine erfolgreiche Entkarbonisierung wahrscheinlich nur als ein Nebengewinn zu erreichen, der bei der Verfolgung anderer, politisch attraktiver und pragmatischer Ziele möglich ist.
Statt als Einzelproblem, das gelöst werden muss, ist der Klimawandel eher als eine anhaltende Problemlage zu verstehen, mit der umgegangen werden muss und mit der sich doch nur teilweise mehr oder weniger – eher weniger – gut umgehen lässt. Er ist nur Teil eines größeren Kontextes solcher Problemlagen, zu denen Bevölkerung, Technologie, Ungleichverteilung von Reichtum oder Ressourcennutzung gehören. Insofern ist er auch nicht einfach ein Umweltproblem. Axiomatisch ist er ebenso sehr ein Energieproblem, ein Problem der wirtschaftlichen Entwicklung, ein Problem der sozialen Ungleichheit oder ein Problem der Landnutzung: Und sich ihm über diese Zugangswege zu nähern, könnte besser sein, als ihn als ein Problem zu begreifen, bei dem es darum geht, das Verhalten des Klimas dadurch in den Griff zu bekommen, dass man die Art und Weise verändert, wie Menschen Energie nutzen. Diese Beobachtungen schlagen sich in dem radikal neuen Deutungsrahmen des Hartwell-Papiers nieder.
Wie positioniert sich hier das Hartwell-Papier?
Stehr: Da der bisherige UNFCCC-Prozess die Funktion nicht erfüllt hat, muss eine neue Forschungsrichtung einen Prozess des Umdenkens anregen, das die Gesellschaften in die Lage versetzt, mit Klimarisiken besser umzugehen. Alle Gesellschaften sind in gewissem Maße schlecht an das Klima angepasst. Mit anderen Worten: Klimaextreme und Klimaschwankungen erlegen allen Gesellschaften Kosten auf (und erbringen natürlich auch Gewinne). Daher ist es wichtig, im Hinblick auf die vom Klima verursachten, aber vermeidbaren Kosten und Schäden, Technologien, Institutionen und Umgangspraktiken zu entwickeln. Noch wichtiger ist es allerdings, die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften an das Klima aufzubauen, während sich Klima wie Gesellschaft ändern – und damit auch die Risiken. Diese Initiativen und die Ausbreitung von Beispielen guter Anpassungsformen sind sinnvoll, ganz gleich, welche Meinung man dazu hat, wie stark sich Klimarisiken durch menschliches Handeln verändern lassen oder wie rasch sie sich selbst verändern.
Warum ist eine indirekte Herangehensweise an das „tückische“ Problem des Klimawandels erfolgversprechender als eine direkte Konfrontation?
Stehr: Es ist sinnvoll, das Prinzip der Menschenwürde zum Leitgedanken unserer Bemühungen zu machen, und zwar vermittelt über die Verfolgung dreier übergreifender Ziele: gewährleisten, dass es Zugang zur Energie für alle gibt; gewährleisten, dass wir uns nicht auf eine Weise entwickeln, die wesentliche Funktionsabläufe des Erdsystems untergräbt; gewährleisten, dass unsere Gesellschaften gut gerüstet sind, um den Risiken und Gefahren zu begegnen, die mit den Wechselfällen des Klimas verbunden sind, was immer deren Ursache ist. Eine Neuausrichtung der Klimaproblematik an der Menschenwürde ist nicht nur nobel oder notwendig. Sie dürfte auch wirkungsvoller sein als ein Ansatz bei den Umweltsünden der Menschen – der gescheitert ist und weiter scheitern wird.
Wie könnte eine alternative Strategie zur Erreichung des politischen Ziels des erfolgreichen Umgangs mit den Konsequenzen der Klimaerwärmung in der Praxis aussehen?
Stehr: Sie sollte politisch attraktiv sein, es uns also erlauben, mit einer Reihe von kleinen Schritten rasch zu vorzeigbaren Ergebnissen zu kommen, und uns auf diese Weise helfen, in unseren Anstrengungen nicht nachzulassen. Sie sollte politisch inkludierend sein, also von ihrer ganzen Anlage her pluralistisch sein und nicht autoritäre Regierungsformen fordern. Und sie sollte kompromisslos pragmatisch sein, also in erster Linie auf einen Fortschritt ausgerichtet, der kurzfristig wie langfristig messbar ist. Mit der Formulierung dieser Ziele machen wir uns einen Deutungsrahmen zu eigen, der die Bedeutung, die der Gedanke eines vom Menschen verursachten Klimawandels für die Welt – und damit für die praktische Politik – des 21. Jahrhunderts hat, radikal anders fasst.
Welche Schritte sollten zunächst eingeleitet werden, um eine Neuausrichtung der Klimapolitik zu bewirken und das Vertrauen der Öffentlichkeit wiederherzustellen?
Stehr: Die menschlichen Einflüsse auf das globale Klimasystem beschränken sich nicht auf den CO2-Input, sondern umfassen eine ganze Reihe von weiteren klimaverändernden Faktoren, die in größeren Umweltkontexten wirksam werden – vor allem Ruß und andere Aerosole, reaktiver Stickstoff, troposphärisches Ozon und Methan. Aber man sah über sie hinweg, nicht etwa aus wissenschaftlichen Gründen, sondern weil sie nicht recht in die politischen Deutungsrahmen passten. Da Einwirkungen auf diese nicht-CO2-basierten Klimatreiber zu rascheren Ergebnissen und großem, unmittelbarem Primärnutzen führen könnten, meinen wir, dass sie Priorität haben müssten, und zwar gleich. Im Gegensatz zu langwierigen und mühsamen Aufgaben könnten sie erfolgreiche „Schnellschüsse“ sein. Sie hätten weithin anerkannte praktische Effekte und könnten dadurch helfen, das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen.
Die Erschließung und der Abbau von Schiefergasvorkommen, das sogenannte „Fracking“, zeigt, dass neue verbesserte Fördertechniken eher im Bereich fossiler Brennstoffe entwickelt werden. Wie könnte umgekehrt die technische und ökonomische Wettbewerbsfähigkeit CO2-armer Energietechnologien gesteigert werden?
Stehr: Unter dem Strich wird es bei der Beschleunigung der Entkarbonisierung der globalen Wirtschaft so lange wenig Fortschritte geben, wie die CO2-arme Energieversorgung nicht durchgängig billiger wird und eine verlässliche Versorgung gewährleistet ist. Dies setzt eine signifikante schrittweise Verbesserung der derzeit verfügbaren CO2-armen Technologien voraus. Bei alledem muss der Staat aus mehr als einem Grund eine Führungsrolle übernehmen. Kurz: Was wir brauchen, ist ein „zündender Funke“, der eine Revolution der Energietechnologie in allen derzeit aktiven Bereichen in Gang setzt – für Sonnenkollektoren, die Sonnenlicht effizienter in Elektrizität umwandeln; für Biobrennstoffe, die billig anzubauen sind, ohne intensive Zuführung von fossilen Brennstoffen auskommen und keine Opportunitätskosten bei der Nahrungsmittelproduktion verursachen; für Batterien, deren Herstellung weniger energieintensiv ist und die sehr viel mehr Energie auf sehr viel geringerem Raum speichern können.
Weshalb sind privatwirtschaftliche Investitionen im Energiesektor so gering?
Stehr: Privatwirtschaftliche Investitionen in die Forschung und Entwicklung im Energiesektor sind weltweit ungewöhnlich niedrig, weil es wenig Innovationsanreize gibt. Die Gründe für die niedrigen Investitionen im Energiebereich liegen auf der Hand: Energie ist billig und die eine Quelle für ein Elektron oder eine BTU (British Thermal Unit) ist so gut wie die andere. Dagegen belaufen sich die staatlichen Investitionen in die Forschung und Entwicklung im Gesundheitsbereich beispielsweise in den USA heute auf jährlich 30 Milliarden Dollar und die Investitionen der Privatwirtschaft sind fast zweimal so hoch, weil eine alternde Bevölkerung neue Behandlungsformen für viele unheilbare, akute und chronische Erkrankungen braucht. Die Barrieren, die der privatwirtschaftlichen Entwicklung neuer Energietechnologien entgegenstehen – hohe Kapitalkosten, geringe Produktdifferenzierung beim Endverbrauch, begrenzter Vorteil für Vorreiter, niedrige Kosten bestehender Energiequellen, weite Verbreitung und optimierter Betrieb bestehender Technologien –, dürften zu hoch sein und bleiben. So wurden denn auch praktisch alle existierenden CO2-armen Technologien vom öffentlichen und nicht vom privaten Sektor entwickelt.
Was muss die Politik tun, um das Interesse und die Investitionsbereitschaft der Privatwirtschaft nachhaltig zu stimulieren?
Stehr: Der Ausbau stark subventionierter emissionsarmer Technologien in einer Größenordnung, die signifikante Auswirkungen auf die Entwicklung der globalen CO2-Emissionen hätte, dürfte mit ziemlicher Sicherheit harten politischen und ökonomischen Zwängen unterliegen, vor allem auch in den Entwicklungsländern, aus denen der Großteil der Emissionen kommen wird. Explizites Ziel und oberste Absicht der Strategien zum Einsatz solcher Energien muss daher die energisch vorangetriebene Senkung der Kosten sein. Die stetige Senkung der nicht subventionierten Kosten von umweltverträglichen Energietechnologien muss der Maßstab dafür sein.
Wie könnte der „zündende Funke“ aussehen, der eine Revolution der Energietechnologie in Gang setzt?
Stehr: Der „zündende Funke“ ist ein Versuch, nützliche und positive Lehren aus den ungewöhnlichen letzten zehn Jahren von 2003 bis 2013 zu ziehen. Dabei lautet eine der wichtigsten und auch für das Thema dieses Hartwell-Papiers entscheidenden Schlussfolgerungen: „Top-down“-Klimaschutzmaßnahmen haben bis jetzt ihre Ziele nicht erreicht und werden sie wohl nie erreichen. Nur eine spontane, grundsätzlich bezahlbare und politisch nachhaltige Energiewende kann erfolgreich sein. Hierzu sind sowohl Inventionen (Entdeckungen) als auch Innovationen (Anwendungen von Entdeckungen) nötig.
Die Autoren des Hartwell-Papiers schlagen daher eine Reihe von insgesamt elf pragmatischen Bausteinen vor, an denen sich Versuche orientieren können, der ganzen Menschheit Zugang zu einer Energieversorgung zu verschaffen, die sowohl bezahlbar als auch weniger CO2-intensiv und weniger umweltbelastend ist. Nur ein energiereicher Planet ist moralisch vertretbar und politisch sinnvoll. Eine Politik, bei der die ärmste Milliarde der Menschheit ohne die für ihr Wohlergehen und ihre Menschenwürde unabdingbare Energieversorgung bleibt, ist nicht akzeptabel.
Titelbild: Joern Spiegelberg / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Bilder im Text: Ministerio de Relaciones Exteriores / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Andreas Fusser / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Greenpeace Jugend / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
„Process of mixing water with fracking fluids to be injected
into the ground“ von Joshua Doubek - Eigenes Werk,
Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann