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Prof. Dr. Dr. Manfred Moldaschl studierte Psychologie, Geschichte, Literatur und Soziologie in Tübingen, Berlin und München. Er neigt keiner akademischen Disziplin zu, sagt er selbst, sondern verfolgt vielmehr das Prinzip der eisernen Disziplinlosigkeit. Unter anderem arbeitete er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Institut für Humanwissenschaften in Arbeit und Ausbildung der TU-Berlin. Moldaschl hielt Lehraufträge und Gastprofessuren in Psychologie und Soziologie an Universitäten im In- und Ausland. Seit 2013 ist er Inhaber des Audi-Stiftungslehrstuhls für Sozioökonomie und unternehmerisches Handeln an der Zeppelin Universität.
„Objekte als Medien der Reflexivität“ - was ist darunter zu verstehen?
Prof. Dr. Dr. Manfred Moldaschl: Das klingt zunächst einmal sehr abstrakt, also wenig greif- und begreifbar. Daher muss zunächst einmal erläutert werden, was eigentlich „reflexiv“ ist. Es ist nicht nur einfach jemand, der nachdenkt (als Verb) oder nachdenklich ist (als Adjektiv). Es handelt sich vielmehr um eine bestimmte Form von Selbstbezüglichkeit, in der das Subjekt zugleich Objekt ist, etwa wenn der Nachdenkende sich dabei beobachtet, wie er denkt, und sich möglicherweise fragt, warum auf diese Weise. Oder wenn sich eine Abteilung evaluiert, ihre Maßnahmen, ihre Arbeitsweisen, wenn sie sich folglich selbst zum Gegenstand macht. Es ist das Gegenstück zu „egozentrisch“, das heißt nur die Fähigkeit zu besitzen, von innen nach außen zu schauen und dabei alles auf sich zu beziehen. Und es ist das Gegenstück zu „instrumentalistisch“, selbstvergessen zu denken und zu handeln und nur auf Ziele zu blicken.
Reflexivität kann man somit als Eigenschaft sozialer Systeme und als Fähigkeit von Menschen betrachten. Als Systemeigenschaft beschreibt sie die Offenheit gegenüber Informationen, Wissen und Rückmeldungen aus der Umwelt, beinhaltet Achtsamkeit in Bezug auf die externen Effekte eigener Aktivitäten. Bezogen auf Personen oder Gruppen beschreibt sie die Fähigkeit zur Distanzierung von eigenen, eingeschliffenen Routinen, Denkweisen und vorgefassten Meinungen. Wer also in höherem Maße „reflexiv“ ist, spielt Alternativen durch, schätzt das Neue, Andere, Andersartige und Abweichende. Er oder sie neigt nicht zum Verabsolutieren der eigenen Position und kommt daher besser mit Diversität und Ungewissheit zurecht.
Welche Rolle spielen dabei nun Objekte?
Moldaschl: Das aktuelle Projekt steht in einer Reihe von Forschungsprojekten, in denen wir die Innovationsfähigkeit von Organisationen und Personen, die Strategiefähigkeit von Unternehmen sowie die Kritikfähigkeit von Behörden untersucht haben. Im Projekt „OMedeR“ gehen wir wie in der Kunst davon aus, dass Objekte – insbesondere wenn sie in ungewohnten Kontexten auftauchen oder in ihrer Bedeutung erst entschlüsselt werden müssen – eben durch ihre materielle Sperrigkeit und ihre sinnliche Ansprache neue Zugänge, Sichtweisen und Erkenntnisse vermitteln können. Es geht demnach um Methoden, die institutionelle und die individuelle Innovationsfähigkeit zu fördern.
Was ist der Ausgangspunkt des Verbundprojektes „OMedeR“?
Moldaschl: Der Ausgangspunkt war eine ganz konkrete Beobachtung während des mittlerweile abgeschlossenen BMBF-Verbundprojektes „Innovationsfähigkeit durch Institutionelle Reflexivität“. Um die durch eine interne Spaltung gekennzeichnete Situation in einem Unternehmensbereich – der aus zwei unterschiedlichen Abteilungen neu geformt wurde – zu symbolisieren, hatte eine Gruppe von Mitarbeitern im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprojektes eine auf dem Kopf stehende Pyramide gebaut und ein „Spiel“ konzipiert. Beides sollte verdeutlichen, dass die interne Differenz kein Problem, sondern vielmehr eine Stärke dieses Unternehmensbereiches ist: Mehrere Personen mussten durch das Ziehen an Gummibändern die Pyramide eine Rampe hinauf manövrieren, wobei sie die Pyramide durch die Bänder aufrecht und in Bewegung halten mussten. Anstatt „an einem Strang“ zu ziehen, musste sich jeder Teilnehmer in eine andere Richtung bewegen, aber nur so viel wie nötig. Das Objekt und das Spiel blieben im Gedächtnis der Mitarbeiter des gesamten Unternehmensbereiches stark verankert und veränderten in reflexiver Weise die gegenseitige Sichtweise, so dass die gegebenen Differenzen bestehen bleiben konnten. Und uns brachte es auf den Gedanken, das Objekte im Kontext von Reflexivität eine wichtige Mittlerrolle spielen könnten.
Was genau untersuchen Sie und wie lautet das Ziel des Forschungsvorhabens?
Moldaschl: Im Rahmen des Forschungsprojektes „OMedeR“ möchten wir untersuchen, ob und wie Reflexivität in der Auseinandersetzung mit realen, greifbaren Objekten – Skulpturen, entfremdeten Gegenständen, Aufstellungen und ähnlichem – entfaltet und gesteigert werden kann und so die Grundlage für innovative Impulse schafft. Wir versuchen, neue Ansätze und Anschauungsmaterial für die Gestaltung von Arbeits-, Kommunikations- und Bildungsprozessen in der Praxis zu entwickeln. Dabei bewegen wir uns im kreativen Feld zwischen Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft. Ziel ist es, gelungene praktische Umsetzungen aufzuspüren, in denen Objekte Diskussionen anregen, kanalisieren, leiten und damit neue Perspektiven öffnen.
Welche Fragestellungen stehen darüber hinaus im Zentrum des Verbundprojektes „OMedeR“?
Moldaschl: Uns interessiert generell, wie man zu neuen Perspektiven und Praktiken gelangt. Gleichwohl ist uns das Basisdilemma der Innovation bekannt: Sie braucht einerseits funktionierende Routinen, andererseits muss sie aber auch fähig sein, eingefahrene Gleise des Denkens und Handelns zu verlassen. Für das Forschungsprojekt stehen daher folgende weitere Fragen im Fokus: Welche Arten von Objekten haben hierfür eventuell mehr Potential? Welche Wirkungen entfalten die Herkunftskontexte der Objekte? Welche Rahmenbedingungen – zum Beispiel Organisationskulturen – und welche individuellen Orientierungen, Eigenschaften, Fähigkeiten sind für die Entfaltung reflexivitätsfördernder Differenz förderlich, welche hinderlich und wie lassen sie sich ihrerseits fördern?
Lassen sich „Objekte als Medien der Reflexivität“ qualitativ und experimentell untersuchen?
Moldaschl: Mit dem Forschungsprojekt „OMedeR“ machen wir uns auf die Suche nach „good practices“ in Unternehmen und anderen Organisationen. Diese können durchaus als Feldexperimente angesehen werden, die aber nicht maßgeblich von uns arrangiert werden. Wir beobachten dazu den Einsatz von Objekten in Sitzungen, Workshops, Weiterbildungsmaßnahmen und Kunstaktionen in Unternehmen und anderen Organisationen. Mit Objekten können beispielsweise Probleme erörtert, sie können aber auch zur Verdeutlichung des Gesagten herangezogen werden: wie im Fall von „serious play“, bei dem Teilnehmer mit Bausteinchen oder anderen Materialien das, was sie ausdrücken wollen, verdeutlichen oder symbolisch darstellen. Darüber hinaus können Objekte Teil einer kreativ spielerischen Auseinandersetzung im Rahmen von Workshops und Weiterbildungsmaßnahmen sein, und nicht zuletzt gibt es auch Kunstaktionen, die über längere Zeiträume den Arbeitsalltag sozusagen flankieren, zum Beispiel wenn Unternehmen „Artists in Residence“ in ihre Räume einladen. Zugleich entwickeln wir unseren theoretischen Ansatz weiter, um das kreative Potential solcher unkonventionellen Lösungen erklären zu können.
Wer könnte von den Forschungsergebnissen profitieren und wo sehen Sie konkrete Anwendungsmöglichkeiten?
Moldaschl: Wir wenden uns an Organisationen und dabei insbesondere an solche, die einen überdurchschnittlichen Innovationsbedarf haben. Darüber hinaus wenden wir uns an interne wie externe Personen, die für innovative Maßnahmen verantwortlich zeichnen: sowohl Organisations-, Personal- oder Produktentwickler als auch Berater, Coaches oder Weiterbildner. Denn vor allem Letztere werden für die Bewältigung von Veränderungen in Organisationen gebraucht, können damit zur Innovationsfähigkeit beitragen.
Gemäß unserer „materialistischen“ Programmatik werden wir unsere Ergebnisse ferner nicht nur in Form wissenschaftlicher Texte präsentieren, sondern auch Wege erproben, sie für die Praxis zu veranschaulichen. Dazu werden unter anderem Videoblogs auf unserer Projekthomepage und ein bebildertes Manual für Praktiker dienen. Wir sind davon überzeugt, dass Objekte, reflexiv eingesetzt, etwa in Unternehmen zur Förderung der Innovationsfähigkeit, zum Generieren neuer Ideen, aber auch zu Mikroveränderungen im unternehmens-kulturellen Bereich beitragen können. Seminare und Workshops im Bildungssektor, in denen Objekte häufig nur als reine Anschauungsmaterialien verwendet werden, könnten ebenso von neuen Formen der Arbeit mit Objekten profitieren. Überdies sieht das Forschungskonzept vor, für die Planung von Ausstellungen Hinweise und Empfehlungen zu geben, wie das Ausstellungsobjekt an sich an Attraktivität für Besucher gewinnen kann, um ein Gegengewicht zur zunehmenden Mediatisierung der Museen – elektronische Führer und Informationstafeln etwa – herzustellen.
Titelbild: ZU (Gunilla Klingberg 2009: Brand New View, Folie auf Glasscheibe, Standort Zeppelin Universität, Am Seemoser Horn, Friedrichshafen)
Bilder im Text: Andi Schmid / Adolf Würth GmbH & Co. KG, ZU