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Rückblick auf das Heilige Jahr 2016

Alles heilig, oder was?

Hinter der Tugend der Barmherzigkeit steckte im Heiligen Jahr ein öffentlichkeitswirksam eingesetztes Erneuerungskalkül des Papstes, das nicht nur weiterer Konkretisierung bedarf, sondern vor allem Richtungsentscheidungen einforderte und auch weiter einfordern wird.

Dr. Ramona Kordesch
Wissenschaftliche Leitung Center for Leadership in Civil Society am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ
 
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    Zur Person
    Dr. Ramona Kordesch

    Ramona Maria Kordesch wurde 1986 in Klagenfurt am Wörthersee geboren. Nach dem Studium der Katholischen Theologie und der Angewandten Relgionswissenschaften in Graz und Tübingen, fokussierte sie sich im Rahmen ihrer Promotion auf den interdisziplinären Dialog zwischen Theologie und Wirtschaft. Zusätzlich analysierte Kordesch im Rahmen ihrer Arbeit aktuelle wirtschafts-ethische Fragen der Kirche. Ab Mai 2013 arbeitete Kordesch an der Zeppelin Universität und forschte dort als Mitglied des Civil Society Center zusammen mit Prof. Dr. Stephan A. Jansen über innovatiove Systeme für Wohlfahrtsorganisationen im Rahmen einer Projektkooperation mit dem Diözesan-Caritasverband Rottenburg-Stuttgart. Heute arbeitet Kordesch als Wissenschaftliche Leiterin am Center for Leadership in Civil Society, das wiederum am Leadership Excellence Institute Zeppelin angesiedelt ist.

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Das Heilige Jahr hat eine lange Tradition, die bis ins Hochmittelalter zurückreicht. Was genau ist ein Heiliges Jahr und welcher Grundgedanke steckt dahinter?

Dr. Ramona Kordesch: Es ist das 29. Heilige Jahr, das Papst Franziskus als „Jubiläum der Barmherzigkeit“ am 8. Dezember 2015 mit der Bulle „Misericordiae vultus“ ausgerufen hat und das bis zum 20. November 2016 weltweit gefeiert wurde. In symbolträchtiger Erinnerung an den Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils – genau 50 Jahre zuvor – stand 2016 in guter Tradition zum Heiligen Jahr 1983, das Johannes Paul II. als „Gedenkjahr der Erlösung“ verstanden wissen wollte, indem er – wie Franziskus auch – die Bedeutung der „Werke der Barmherzigkeit“ für das Heilswerk Christi hervorhob. Schon 1983 wurde „außerordentlich“ gefeiert, also abweichend vom 25- oder 50-Jahre-Rhythmus, den zunächst Clemens VI. 1343, später Paul II. 1470 als Möglichkeiten der Taktung von Jubeljahren festlegten und die allesamt mit der besonderen Feier des Bußsakramentes und mit der Gewährung eines vollkommenen Ablasses verbunden waren. Damit wird klar, dass die Kirche mit der Ausrufung von Heiligen Jahren auf die Möglichkeit und die Bereitschaft zur „Umkehr auf den Weg des Heils“ hinweisen möchte.

Ein typisch katholischer Brauch ist das Anzünden von Kerzen – nicht nur die Osterkerze oder das ewige Licht, sondern auch jene, die jeder Kirchenbesucher anzünden kann. In den meisten Kirchen gibt es Kerzenständer, die auch rege genutzt werden: Entzündet werden die kleinen Kerzen zumeist im Gebet – dabei geht es vorwiegend um eigene Sorgen, Bitten, aber auch Fürbitten für andere. Während viele kirchliche Bräuche nicht mehr richtig verstanden werden, ist der Brauch des Kerzen-Anzündens für die meisten Menschen, die eine Kirche betreten, einleuchtend. Und so zünden oft auch jene, die nicht katholisch sind, eine Kerze an, um an einen wichtigen Menschen zu denken oder mit ihm verbunden zu sein – somit auch ein Akt der Nächstenliebe?
Ein typisch katholischer Brauch ist das Anzünden von Kerzen – nicht nur die Osterkerze oder das ewige Licht, sondern auch jene, die jeder Kirchenbesucher anzünden kann. In den meisten Kirchen gibt es Kerzenständer, die auch rege genutzt werden: Entzündet werden die kleinen Kerzen zumeist im Gebet – dabei geht es vorwiegend um eigene Sorgen, Bitten, aber auch Fürbitten für andere. Während viele kirchliche Bräuche nicht mehr richtig verstanden werden, ist der Brauch des Kerzen-Anzündens für die meisten Menschen, die eine Kirche betreten, einleuchtend. Und so zünden oft auch jene, die nicht katholisch sind, eine Kerze an, um an einen wichtigen Menschen zu denken oder mit ihm verbunden zu sein – somit auch ein Akt der Nächstenliebe?

Was unterscheidet nun das „Jubiläum der Barmherzigkeit“ von anderen Heiligen Jahren?

Kordesch: Besonders ist, dass Papst Franziskus auch die Kirche als Reformbedürftige explizit in die Pflicht nahm: „Es gibt Augenblicke, in denen wir aufgerufen sind, in ganz besonderer Weise den Blick auf die Barmherzigkeit zu richten und dabei selbst zum wirkungsvollen Zeichen des Handelns des Vaters zu werden. Genau darum habe ich ein außerordentliches Jubiläum der Barmherzigkeit ausgerufen: Es soll eine Zeit der Gnade für die Kirche sein und helfen, das Zeugnis der Gläubigen stärker und wirkungsvoller zu machen“, schrieb er in  der Bulle „Misericordiae vultus“.


Dieser Akzent ist neu gegenüber anderen Heiligen Jahren im außerordentlichen Rhythmus: 2008 lag das Augenmerk auf der Feier der Geburt des Apostels Paulus vor 2000 Jahren; 1987 stand Maria als Mutter der Kirche im Zentrum des Gedenkens oder 1983 – wie schon erwähnt – das Heilshandeln Christi. Blickt man weiter zurück in die Kirchengeschichte, wird man feststellen, dass Heilige Jahre auch mit Amtsantritten von Päpsten, wie 1605 bei Paul V., verbunden waren oder mit politischen Ereignissen, wie etwa der Bedrohung durch die Türken, im Heiligen Jahr 1566.


Als Franziskus am 8. Dezember 2016 die „porta aurea“ in der Vorhalle des Petersdomes öffnete, tat er das entschieden als Oberhaupt einer „pilgernden Kirche“, einer „ecclesia peregrinans“, die sich mit den Gläubigen gemeinsam auf dem Weg des Evangeliums macht. Eine gemeinsame Pilgerfahrt, ausgehend von Rom und nicht allein nach Rom, sollte symbolisiert werden, weshalb sich 2016 nicht nur in St. Peter, sondern in den Kirchen der ganzen Welt die Tore zum Weg der Barmherzigkeit auftaten.

Papst Franziskus hat mit dem außerordentlichen Heiligen Jahr das Kernanliegen seines Pontifikates in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens gerückt: die Barmherzigkeit als gelebte Nächstenliebe. Weshalb nimmt dieser zentrale christliche Begriff einen so hohen Stellenwert für den aktuellen Papst ein?

Kordesch: Für die Theologie des amtierenden Papstes ist „gelebte Nächstenliebe“ als Lebenshaltung der Christen zentral. Er argumentierte darüber hinaus mehrfach, dass die Werke der Barmherzigkeit die wichtigsten „Stützen und Tragebalken einer vitalen Kirche“ sind. Seine theologischen Reflexionen zum Heiligen Jahr 2016 kennzeichnen „Barmherzigkeit“ sogar als Gottesattribut, was dem Mühen um interreligiöse Verständigung theologischen Rückenwind gab und gleichzeitig das soziale und karitative Engagement der Kirche in besonderer Weise auszeichnete. Die begrüßenswerte neue Aufmerksamkeit für das barmherzige Handeln – gleichsam als pastorale Orientierungsgröße der Sozialkirche – darf aber auch nicht unkritisch werden lassen gegenüber der Tauglichkeit von Barmherzigkeit als theologische Kategorie, gerade weil Franziskus im barmherzigen Handeln eine „Haltung sine qua non“ von Kirche akzentuiert beziehungsweise auch eine Legitimität von Kirche in der Welt entdeckt und sie wesentlich mit seinem pastoralen Konzept von „Barmherzigkeit“ verbindet…

…ein Aspekt, der viel Widerstand hervorruft.

Kordesch: So ist es. Gerade in diesem Zusammenhang waren 2016 auch kritische Töne zu vernehmen, die auf die Definitionsschwäche des Begriffes abspielten und sich etwa um eine Verhältnisbestimmung von „Gerechtigkeit“ und „Barmherzigkeit“ mühten. Papstkritiker lieferten auch politischen Zündstoff, wenn Sie meinten, Franziskus würde das Prinzip der Gerechtigkeit einem schwammigen Begriff von Barmherzigkeit unterordnen. Die katholische Sozialethik ist jedoch an diesem Punkt ganz klar: Gerechtigkeit ist das Mindestmaß an Nächstenliebe schlechthin, das ein Christ jedem Menschen unbedingt schuldet. Damit ist Gerechtigkeit ein übergeordnetes Beurteilungskriterium – ein Prinzip. Barmherzigkeit verweist hingegen auf einen Deutungshorizont, der Augen öffnet für Verständnis- und Begründungszusammenhänge, die man unter dem Gesichtspunkt und dem Beurteilungsraster der Gerechtigkeit nicht berücksichtigt findet. Wirklich diskussionswürdig wird Begriff und Praxis von Barmherzigkeit jedoch erst in seiner systematisch-theologischen Verwendung, den die Quartalschrift der Katholischen Privatuniversität Linz (4/2016) im Heiligen Jahr so aufgegriffen hat: In einer Konkurrenz- und Hochleistungsgesellschaft wirkt die Weisung, sich in Barmherzigkeit zu üben, nicht nur sentimental, sondern auch welt- und praxisfremd. Dazu kommt die grundlegende Missbrauchsanfälligkeit des Begriffes, das heißt mit dem Aufruf zu barmherzigem Handeln über notwendige Strukturveränderung hinwegtäuschen zu wollen.

Das größte Problem der katholischen Kirche ist wohl die sinkende Mitgliederzahl in den säkularen Industriestaaten – während die Mitgliederzahlen weltweit leicht anwachsen. Besucht man einen Gottesdienst in deutschen Städten, liegt der Altersschnitt weit über dem der Bevölkerung. Besuchten 1950 noch fast 12 Millionen Deutsche katholische Gottesdienste, waren es 2015 nur noch 2,5 Millionen. Während Werte wie Nächstenliebe auch außerhalb der Kirche weitergegeben werden, erreicht die Kirche selbst immer weniger Menschen. Vielleicht auch ein Grund, weshalb Papst Franziskus in den sozialen Netzwerken unterwegs ist: So hat er 3,6 Millionen Instagram-Follower, die er mit täglichen Posts in sechs Sprachen erreicht.
Das größte Problem der katholischen Kirche ist wohl die sinkende Mitgliederzahl in den säkularen Industriestaaten – während die Mitgliederzahlen weltweit leicht anwachsen. Besucht man einen Gottesdienst in deutschen Städten, liegt der Altersschnitt weit über dem der Bevölkerung. Besuchten 1950 noch fast 12 Millionen Deutsche katholische Gottesdienste, waren es 2015 nur noch 2,5 Millionen. Während Werte wie Nächstenliebe auch außerhalb der Kirche weitergegeben werden, erreicht die Kirche selbst immer weniger Menschen. Vielleicht auch ein Grund, weshalb Papst Franziskus in den sozialen Netzwerken unterwegs ist: So hat er 3,6 Millionen Instagram-Follower, die er mit täglichen Posts in sechs Sprachen erreicht.

Hat der Begriff der Barmherzigkeit ein Tauglichkeitsproblem?

Kordesch: Das könnte man ernsthaft meinen, wenn man die 2016 mehrfach aufgekommene und kirchenintern noch keineswegs geklärte Diskussion um das Apostolische Lehrschreiben „Amoris Laetitia“ – und den darin propagierten kirchlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen – verfolgt, die den Barmherzigkeitsbegriff an seine Tauglichkeitsgrenze für eine prinzipiell hierarchisch organisierte Institution, wie sie die Kirche ist, führt. Dass die (übrigens in einer Fußnote formulierte) Übertragung der Entscheidungsverantwortung zur Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Eucharistie an das Urteil des (barmherzig orientierten) Ortspriesters nicht die letzte Antwort auf dieses strukturelle Richtungsproblem der Kirche ist, zeigt das ernste Aufbegehren einiger Kardinäle, die sich nicht nur auf ihr eigenes Urteil, sondern mittlerweile auch auf eindeutige Statements des Präfekten der Glaubenskongregation – Erzbischof Gerhard Ludwig Müller – stützen können. Ungeachtet der Tatsache, dass ein Apostolisches Schreiben zwar keine lehramtliche Autorität, aber sehr wohl richtungsweisende pastorale Qualität besitzt, zeigen die Querelen vor allem eines: Hinter der Tugend der Barmherzigkeit steckte im Heiligen Jahr ein öffentlichkeitswirksam eingesetztes Erneuerungskalkül des Papstes, das nicht nur weiterer Konkretisierung bedarf, sondern vor allem Richtungsentscheidungen einforderte und auch weiter einfordern wird.

War das Heilige Jahr 2016 ein erfolgreiches? Wie sieht Ihr Fazit aus?

Kordesch: Im Eröffnungsgottesdienst zum Heiligen Jahr 2016 meinte Franziskus, er habe oft überlegt, wie die Kirche „ihre Mission, Zeuge der Barmherzigkeit zu sein, noch besser erfüllen“ kann. Ungeachtet jeder skizzierten Zustimmung oder Kritik, hat das Heilige Jahr deutlich werden lassen, dass der Aufruf von Franziskus zur „spirituellen Umkehr“ auch an die eigene Kirche gerichtet ist: „Wenn wir nur einen Augenblick die Barmherzigkeit vergessen, dann wird jede unserer Anstrengungen nichtig, dann werden wir Sklaven unserer Institutionen und Strukturen, wie reformiert sie auch sein mögen“, so formulierte Franziskus sein Programm während der Generalaudienz zur Eröffnung des Heiligen Jahres zutreffend.


Im Anschluss sprachen einige Kommentatoren von „disruptiver“ Barmherzigkeit, während einige Kurienmitarbeiter nicht müde wurden, auf die notwendige „Einheit von Leben und Lehre“ hinzuweisen. Beides ist richtig! Dass es nicht an der Struktur der Kirche vorbeigehen kann, wenn sie Barmherzigkeit zum Programm macht, ist das eine, dass die höchste moralische Autorität der Welt nicht dauerhaft das Leben eines Pfarrers imitieren kann, ist das andere. Dennoch muss den Papstkritikern entgegengehalten werden: Die Verwirrung, die Papst Franziskus stiftet, ist weniger Unvermögen, sondern mehr Strategie. Auch wenn es Ende 2016 „nur“ Gesten waren, wie das gemeinsame Gebet anlässlich des 500. Reformationsgedenkens mit Vertretern des lutherischen Weltbundes am 31. Oktober 2016 oder jüngst das Vorwort von Franziskus im Buch des Missbrauchsopfers Daniel Pittet: Es sind die wesentlichen Signale der Verbundenheit des Papstes mit einem gläubigen Gottesvolk, das zum größten Teil dem Katechismus nicht mehr zu folgen bereit ist, und es ist zugleich die Haltung des barmherzigen Vaters aus dem Gleichnis des Lukasevangeliums, der dem verlorenen Sohn einen Neuanfang ermöglicht. Das war das Heilige Jahr 2016 – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Titelbild

| Catholic Church England and Wales / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0), Link


Bilder im Text

| Unsplash /pexels.com (CC 0) , Link

| pixabay / pexels.com (CC 0), Link


Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann

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