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Dr. Gloria Meynen ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin, promovierte 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf das Büro. Sie forschte intensiv über die Macht von Bilder und Zeichen, mit dem Fernsehen setzte sie sich bereits 2009 in dem wissenschaftlichen Sammelband „Sendungen“ auseinander – Titel ihres Aufsatzes: „Wir, die Marsmenschen!“ Seit 2012 beschäftigt sie sich an der Zeppelin Universität mit mal mehr, mal weniger Außerirdischem. Aktuell schreibt sie an einer Kulturgeschichte der Medientheorie.
Wie sind Gedenktage entstanden und welche Ideen verbargen sich dahinter?
Prof. Dr. Gloria Meynen: Gedenktage sind vermutlich zuerst als zyklisch wiederkehrende Daten und Jahrestage entstanden, die die Beobachtung von Zeit – eine rudimentäre Kalenderrechnung – voraussetzen, so hat es zumindest der Wiener Kulturhistoriker und Philosoph Thomas Macho formuliert. Man könnte vermuten, dass den ersten Gedenktagen astronomische Ereignisse zugrunde lagen, die einfach zu beobachten waren: Etwa das Auftauchen des Vollmonds, die längsten und kürzesten Tage im Jahr oder die Sonnenwenden, die sowohl in kultischen Zusammenhängen, aber auch für die Zyklen der Aussaat und Ernte oder die Viehzucht – um nur wenige basale, frühe Beispiele zu nennen – eine besondere Rolle spielten. Sehr früh waren Gedenktage aber vermutlich auch mit Totenkulten verbunden. Den Gedenktagen kamen dabei neben der Erinnerung an wiederkehrende notwendige Handlungen – etwa der Vorratshaltung und Nahrungssicherung (den Aufgaben heutiger Post-it-Zettel und To-do-Listen) – auch rituelle Bedeutungen zu. Sie halfen, die Trauer zu bewältigen, aber womöglich auch das Neue an eine Tradition und Wiederholung zu binden, um ihm den Schrecken und die Ungewissheit zu nehmen.
Wie wichtig sind Gedenktage und historische Jubiläen für unsere Erinnerungskultur?
Meynen: Für viele sind sie vermutlich sehr wichtig. Jahrestage sind zumindest eine prominente Form des kulturellen, religiösen und nationalen Erinnerns, Gesichts- und Gesellschaftsdesign. Das zeigt sich besonders bei Staatenbildungen oder -umbildungen, etwa bei den Debatten um einen Nationalfeiertag in Bosnien-Herzegowina oder in der Suche nach einem unbelasteten neuen deutschen Feiertag nach dem Mauerfall am 9. November 1989. Mit den Gedenktagen kehren wir ja nicht in die Vergangenheit zurück, sondern vielmehr erfindet und schreibt die Gegenwart die Vergangenheit durch das Gedenken fort, um sie für ihre Identitäten und Forderungen zu beleihen.
Und hier stoßen wir auch schon auf die ersten Probleme. Gedenktage reduzieren Geschichte auf ikonische Namen und Ereignisse: Geburtstage, Todestage, Siege, Niederlagen, Anfänge oder Enden. Sie richten Geschichte an einer mehr oder minder gewaltvollen Zäsur aus: einem Gründungsakt, einer Katastrophe, einem Opfer, einem einzigen messianischen Augenblick. Eine lange Dauer oder unmerkliche Verschiebungen fallen dagegen durch das Raster der Gedenktage und Jubiläen. So kann man vermuten, dass eine Gesellschaft, die auf eine lange Phase des Friedens zurückblicken kann, über kurz oder lang alternative Erinnerungskulturen erfinden muss. Was geschieht, wenn die Erinnerung an die Zäsur verblasst? Die Auseinandersetzungen der sogenannten Neuen Rechten mit der Erinnerungskultur der 68er sind da beredt, was zeigt, dass der Streit um politische Deutungsmacht häufig um Gedenktage geführt wird. Wie sieht dagegen eine Erinnerungskultur ohne Gründungsakte, Siege, Niederlagen, Zeitwenden und Opfer aus? Kann man Geschichte ohne Nullpunkte erzählen? Und ist das überhaupt die richtige Frage? Die Einsicht, dass Identitäten nicht geboren, sondern gelebt werden, stellt den Sinn von Erinnerungskulturen grundsätzlicher in Frage. Vielleicht sollten wir die Gedenktage durch Denktage ersetzen: Die Gegenwart braucht jedenfalls eher Kulturen der Zukunft als der Vergangenheit.
Die Kalender sind inzwischen voll von absurden Welt- oder Aktionstagen: Was sind die Gründe für diese Inflation?
Meynen:
Interessant ist, dass Ihre Frage die Namen variiert. Sind „Welt- und Aktionstage“ überhaupt „Gedenktage“? Dass wir an der Legitimität mancher Welt- und Aktionstage zweifeln, ist vielleicht schon ein Indiz.
Die Schwelle, Gedenk-, Welt- und Aktionstage zu etablieren, wird mit den digitalen Medien zunehmend nivelliert. Ein Stichtag ist der 4. Februar 2004, die Freischaltung von Facebook. Dass heute die sozialen Medien viele ermächtigen, Welt-, Gedenk- und Aktionstage zu erfinden und auszurufen, ist vielleicht keine Errungenschaft, aber auch kein Kulturzerfall. Wir meinen lediglich, dass Gedenktage mit der Evidenz des Epochalen oder Großartigen ausgestattet sein müssten. Manche wundern sich darum über den Kauf-Nix-Tag oder den Welttoilettentag. Und sie fragen sich, ob wir einen Tag des Fernsehens, der Putzfrau, der Berge und der Meere überhaupt brauchen. Doch unterliegen Gedenktage zum Glück keiner Konsenspflicht. Darum gibt es den Welt-Aids-Tag, den Welt-Down-Syndrom-Tag, den Welt-Antikorruptionstag, den Suizidtag – Gedenktage, die exemplarische Schicksale und einsame Lebensentscheidungen thematisieren, auf seltene oder verdrängte Krankheiten hinweisen, auf Minderheiten und aktuelle Probleme aufmerksam machen. Das kann man mit einem Grummeln quittieren oder aufatmen. Denn die Macht, Gedenken zu definieren und zu etablieren, ist demokratischer geworden. Das Wissen, dass man mit Gedenken Identitäten und Problembewusstsein schärfen kann, wird unter digitalen Bedingungen vielfach bewusster als zuvor wahrgenommen.
Es gibt Jahrestage, deren Bedeutung sich im Laufe von Jahren bzw. Jahrzehnten zutiefst gewandelt haben: Können Sie dafür ein konkretes Beispiel geben?
Meynen: Ein prominentes Beispiel, mit dem sich Thomas Macho beschäftigt hat, ist der 9. November, der im 19. Jahrhundert ein Kandidat für den deutschen Nationalfeiertag war. Zur Zeit des Vormärz feierte man am 9. November mit Umzügen in Schillers Geburtstag hinein. Am 9. November 1918 wurde die deutsche Republik ausgerufen. Am 9. November 1938 fand die Reichskristallnacht statt. Und knapp 50 Jahre später fiel erneut an einem 9. November die Berliner Mauer.
Das Gedenken, das auf singuläre ikonische Augenblicke setzt, ist zentral strukturiert. Nationale Jahrestage zeichnen mit wenigen Daten das Gesicht einer Kultur oder Nation, das gerade darum anfällig für Ikonoklasmen ist. Das kann man an nationalen Gedenktagen studieren, wie zuletzt am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag und dem Terroranschlag in Nizza.
Ein weit verbreitetes Phänomen sind die sogenannten Spaßtage: Was sagen sie über unsere moderne Gesellschaft aus?
Meynen: Spaß und Gedenken schließen sich nicht aus – das zeigen etwa die Fastnacht oder von den Mysterienspielen bis hin zu den Karl-May-Festspielen die zahllosen Formen des Reenactments. Von hier aus kann man fragen, ob Spaß und Reenactment besonders unterschwellige, immersive Formen des kollektiven Gedächtnisses sind oder Kulturtechniken, mit denen man mit Gedenktagen über das Gedenken nachdenken kann?
Was muss ich tun, damit sich ein Aktionstag etabliert?
Meynen: Sie fragen nach dem Anfang und der Schwelle – wie kann aus einem privaten Inselgedanken eine Struktur und soziale Bewegung entstehen? Die neuen Feiertage nutzen häufig sehr virtuos die digitalen Medien. Ihre Legitimation finden sie dabei weniger in einer Vergangenheit als in der Gegenwart und einer imaginierten Zukunft. Es reichen ein Aufruf, ein Hashtag, eine Zeit, ein Ort und einfache Spielregeln. Die neuen Jahrestage ähneln Flashmobs, die die Züge von Gedankenexperimenten, Utopien und Dystopien annehmen können. Was wäre, wenn…? Beispiele sind etwa der No Pants Subway Ride von Improv Everywhere, der in Berlin regelmäßig begangen wird, der National Hug Day, der die Distanz und Empathielosigkeit beklagt, oder der Christopher Street Day, aber auch die Fackelzüge zur zweiten Belagerung Wiens durch die Türken, mit denen die Identitäre Bewegung Wiens Renaud Camus´ Verschwörungstheorie vom großen nationalen Austausch bewirbt. Viele Welt- und Gedenktage verbinden eine Gesellschaftskritik mit Gegenentwürfen, die an bestimmten Orten für eine begrenzte Zeit in Kraft treten. Sie wollen die Gegenwart infizieren, Gesellschaft – im Guten wie im Schlechten – überschreiben und verändern.
Am Ende eine ganz persönliche Frage: Welcher Gedenktag bedeutet Ihnen am meisten?
Meynen: Das Beste an Gedenktagen ist vermutlich, dass sie nur den Imperativ des Gedenkens enthalten, aber uns die Ausführung überlassen: Wie und was ich gedenke, kann mir niemand vorschreiben. Insofern habe ich gar keinen Lieblingsgedenktag. Doch mag ich die Zeit zwischen den Jahren, in denen das Jahr die Batterie wechselt. Gedenktage können den Alltag auf Pause stellen und uns auf neue Umlaufbahnen katapultieren. Der Kultur der Erinnerung – dem Kult der Vergangenheit – steht ja die überwältigende Präsenz der Gegenwart gegenüber. Vielleicht können wir irgendwann die Zukunft ohne den Umweg über die Vergangenheit entwerfen und gestalten.
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm