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Franz Schultheis ist Seniorprofessor für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft an der Zeppelin Universität. Zuvor hielt er seit 2007 die Professur für Soziologie an der Universität St. Gallen und war zugleich Leiter des Seminars für Soziologie an der Schweizer Hochschule. Schultheis forschte und lehrte unter anderem an den Universitäten in Montreal, Paris und Genf. Er studierte Soziologie in Nancy und Freiburg, promovierte in Konstanz und habilitierte schließlich 1993 bei Pierre Bourdieu an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris.
Am Anfang stand der Wunsch, die Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler zu erforschen, weil diese überdurchschnittlich unter den Nichtwählern vertreten sind. Dabei ist ein unkonventionelles Projekt entstanden und Betroffene sind selbst zu Forschern geworden. Sie haben in einem außergewöhnlichen Forscherkollektiv unter wissenschaftlicher Begleitung über 70 Interviews auf Augenhöhe mit prekär lebenden Nichtwählern geführt. Die 2017 erschienene Studie „Gib mir was, was ich wählen kann“ gibt nicht nur tiefe Einblicke in die Ursachen der Wahlverweigerung abgehängter Schichten, sie liefert auch deutliche Hinweise, was zu tun ist, um die Menschen, die sich vom Politikbetrieb und von der demokratischen Teilhabe abgewendet haben, wieder zurückzuholen.
Das Hauptmotiv für die Nichtwahl ist, dass sich an der Lebenssituation der Befragten nichts ändert. Darum untersucht die Studie „Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zur Wort“ die Lebenssituationen der Befragten mit ihren Perspektiv- und Ausweglosigkeiten, ihren Ängsten und Ausgrenzungserfahrungen und ihren Wünschen an eine selbstbestimmte Zukunft, um herauszufinden, was sich im Leben der prekären Nichtwähler konkret ändern muss, damit diese wieder von ihren demokratischen Teilhabemöglichkeiten Gebrauch machen.
Die Studie basiert auf den gleichen Interviews und leuchtet die vergessene und im Dunkeln liegende Lebenswirklichkeit von Menschen im Hartz IV-Bezug intensiv aus.
Die Studien werden von der Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande im Sozialunternehmen Neue Arbeit Stuttgart in Kooperation mit dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration (EFAS) herausgegeben. Professor Franz Schultheis von der Universität St. Gallen sowie Studenten und Studentinnen der Universität Stuttgart haben das Projekt wissenschaftlich begleitet.
Können Sie für den Leser kurz Ausgangspunkt, Inhalt und Ziel der vorliegenden Studie erläutern?
Prof. Dr. Franz Schultheis: Das zugrundeliegende Forschungsprojekt ist in jeder Beziehung ungewöhnlich und gegen den Strich üblicher akademischer Praxis gebürstet. Langzeitarbeitslose sind zwar seit langem regelmäßig Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung, in dem hier zur Diskussion stehenden Projekt aber sind sie zugleich auch als Forschende beteiligt. Jedweder, der mit sozial prekären und ausgegrenzten Mitmenschen Interviews geführt hat beziehungsweise zu führen versuchte, wird wohl das Problem eines markanten sozialen Gefälles zwischen dem das Interview initiierenden und leitenden Homo Academicus und dem befragten Interviewpartner in schwierigen, von sozialen Stigmata gekennzeichneten Lebensverhältnissen kennen. Ein offener Diskurs auf Augenhöhe ist zwischen aus solch völlig unterschiedlichen Regionen des gesellschaftlichen Raums stammenden Personen kaum denkbar.
Um dieses Dilemma zu umgehen, wurde ich von einer Stuttgarter Organisation namens „Neue Arbeit“ angefragt, ob ich nicht im Stile verschiedener früherer empirischer Studien über soziale Fragen eine Gruppe von betreuten Langzeitarbeitslosen in die Techniken und Methoden des verstehenden Interviews einführen und mit ihnen gemeinsam die spezifischen Existenzbedingungen und Befindlichkeiten dieser Population erforschen wolle. Speziell geht es dabei um die Frage, warum diese Bevölkerungsgruppe sich hinsichtlich des Wahlverhaltens durch die größte Abstinenz auszeichnet, sich also selbst von politischer Beteiligung ausschließt und von ihren demokratischen Rechten keinen Gebrauch macht. Ich habe zugesagt und mich auf dieses durchaus gewagte Experiment eingelassen – und wir konnten kollektiv diese Studie durchführen, rund 80 Tiefeninterviews mit Langzeitarbeitslosen geführt von Langzeitarbeitslosen gewinnen und – ebenfalls kollektiv – zwei Publikationen aus diesem empirischen Material verfassen.
Mit Citizen Science kam dabei eine außergewöhnliche Forschungspraxis zur Anwendung: Was ist damit gemeint und welche Vorteile bietet das Vorgehen im Gegensatz zu Methoden herkömmlicher Sozialforschung?
Schultheis: Seit geraumer Zeit wird in den Naturwissenschaften Citizen Science, das heißt die Beteiligung von Laienforschern, bei Erhebungen zur Tiervielfalt im urbanen Raum, zu Migration von Zugvögeln, zur Verbreitung von Krankheitserregern bei Stechmücken oder bei meteorologischen Bestandsaufnahmen erfolgreich eingesetzt. Dies ist für die hier engagierten Wissenschaftler von deutlichem Mehrwert, hat aber auch dahingehend Nutzen, dass die Beteiligung von Bürgern an wissenschaftlichen Forschungen das wachsende öffentliche Misstrauen gegenüber den Wissenschaften in den sogenannten Elfenbeintürmen lindern helfen kann.
Leider lassen sich für die Sozial- und Kulturwissenschaften nur wenige nennenswerte Pendants finden, man denke etwa an eine großangelegte Studie zum Brauchtum in Deutschland in der Zwischenkriegszeit. Worauf beruht dieses mangelnde Interesse? Könnte man diese Zeitgenossen, heute mehrheitlich mit beachtlichem Bildungskapital ausgestattet und an vielfältigen sozialen, ökonomischen und kulturellen Fragen interessiert, nicht als kompetente ethnografische Informanten über ihre jeweiligen Lebenswelten und -umstände gewinnen, anstatt sie immer aufs Neue zu Forschungsgegenständen zu machen?
Eine aktive Einbeziehung von interessierten Bürgern in Studien über brennende Gegenwartsfragen, über sozioökonomische und tiefgründige kulturelle Transformationen unserer zeitgenössischen Gesellschaften scheint doch in vielerlei Hinsicht möglich, wenn nicht gar naheliegend. Warum sollten die in den heutigen Sozialwissenschaften stark beforschten Probleme sozialer Exklusion denn nicht von den konkreten Alltagserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund, spezifischen sexuellen Orientierungen oder physischen beziehungsweise psychischen Belastungen beim Zugang zu solchen Fragen relevante empirische Tatbestände aus eigener Beobachtung und Erfahrung beisteuern können? Wären Mitbürger nicht die prädestinierte Zielgruppe für die Gewinnung von Primärinformationen zu Fragen der (Un-)Vereinbarkeit von Familie und Beruf, geschlechtsspezifischer Ungleichverteilungen von häuslicher Arbeit oder dem so oft nur top-down aus dem akademischen Reservat betrachteten Problem der gläsernen Decke beim geschlechterspezifischen Zugang zu beruflichen Positionen und Lebenschancen?
Was macht das Leben in und mit Hartz IV mit den Menschen?
Schultheis: Dank unseres besonderen Forschungsdispositivs konnten die befragten Hartz IV-Empfänger im Zwiegespräch mit einem „Schicksalsgenossen“ beziehungsweise einer „Schicksalsgenossin“ Erfahrungen zur Sprache bringen, die zumeist von sozialer Scham verdrängt oder verschwiegenen werden. Die Befragten mussten hier für einmal – metaphorisch formuliert – „aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen“, konnten es „ausschütten“ und „frei von der Leber weg“ ihre Selbst- und Weltbilder kommunizieren. Zu den Grundmustern der geäußerten Befindlichkeiten der interviewten Langzeitarbeitslosen gehören stichwortartig wiedergegeben:
| Das Gefühl der Ausgrenzung und des Abgehängtseins
| Die Erfahrung subjektiver Scham (verschämte Armut) und das Leiden an sozialen Stigmata
| Das Gefühl massiver sozialer Ungerechtigkeit
| Ein doppeltes Ressentiment nach Oben („die da Oben“, die „politische Klasse“, „die Intellektuellen“ etc.) und Unten (insbesondere „Asylbewerber“, „Wirtschaftsflüchtlinge“)
| Die Erfahrung des Ausgeliefertseins an die bürokratische Willkür der Ämter
| Ein Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein
| Ein radikaler Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen
| Die Tendenz zur Einigelung in die Privatsphäre beziehungsweise Rückzug aus dem öffentlichen Leben
Warum besteht weiterhin die Mär vom faulen, arbeitsscheuen Langzeitarbeitslosen, der sich in der sozialen Hängematte ein gutes Leben auf Kosten der Allgemeinheit macht?
Schultheis: Dieses gerade von populistischen Meinungsmachern propagierte Bild beruht nicht zuletzt auf dem völlig kontrafaktischen Ideologem und Mythos von einer chancengleichen bzw. gerechten demokratischen Gesellschaft, in der Jede und Jeder ihres/seines Glückes Schmied sein kann. Das heißt Misserfolg, Scheitern und Abhängigkeit von öffentlichen Hilfen wird als subjektives, selbst verschuldetes Versagen interpretiert. Hier spiegelt sich das neoliberale Credo einer Maggie Thatcher, nach der es „so etwas wie Gesellschaft gar nicht gibt“, sondern nur Individuen, die selbstverantwortlich als Homo Oeconomicus unterwegs sein und lebenslang an der eigenen Employability arbeiten sollten.
Welches Bild teilen die von Ihnen befragten Langzeitarbeitslosen von unserem politischen Gemeinwesen?
Schultheis: Es ist das Bild von einer an ihrem sozialen Elend völlig unterinteressierten, abgehobenen politischen Elite, die ihre mittelständische Klientel bedient und einer Population, die bekanntlich mehrheitlich erst gar nicht zur Wahlurne geht und auch keinerlei Lobby hat, den Rücken kehrt. Dieses Urteil wird global – unabhängig von der Zugehörigkeit zu den verschiedenen bürgerlichen Parteien – geäußert. Dass sich hier ein hohes Potenzial für rechtspopulistische Parteien bietet, dürfte plausibel wirken, in den Interviews wird dies aber nur andeutungsweise formuliert.
Woran liegt es, dass unter den Nichtwählern überdurchschnittlich viele Langzeitarbeitslose vertreten sind?
Schultheis: Hauptgrund scheint zu sein, dass man keinerlei Vertrauen in das politische System hat und immer wieder unterstreicht: vor den Wahlen große Versprechungen, danach business like usual. Viele Befragte sagten auch, man wolle bei diesem perversen Spiel der Scheindemokratie nicht noch mitspielen und es dadurch legitimieren.
Was tun im Bundestag vertretene Parteien, um der Demokratiekrise und der Wahlenthaltung in prekären Schichten zu begegnen?
Schultheis: Bisher sehr wenig! Immerhin wurde kürzlich ein speziell auf die Langzeitarbeitslosigkeit zugeschnittenes Integrationsprogramm beschlossen, es ist aber noch zu früh, es zu evaluieren. Was bei den Befragten immer wieder zu hören war, ist das Leiden an einer sozialpolitisch institutionalisierten und regulierten Dauerprekarität unter dem Regime von Hartz IV, welches zwar ein materielles Existenzminimum sichert, aber für eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe an der „normalen“ Alltagswelt der „Normalbürger“ bei weitem nicht ausreicht und den Betroffenen immer wieder bei noch so kleinen Missgeschicken wie dem Ausfall des Kühlschranks oder notwendigen Reparaturen mit dem Fehlen jedweder Handlungsspielräume konfrontiert.
Was müssen Politik wie Gesellschaft darüber hinaus leisten, um die Menschen, die sich vom Politikbetrieb und von der demokratischen Teilhabe abgewendet haben, wieder zurückzuholen?
Schultheis: Schwierig! Unsere Befragten zeigten sich radikal desillusioniert und fatalistisch, was das politische System betrifft. Viele plädierten für den Wechsel zur direkten Demokratie oder gar die Bestimmung der Volksvertreter per Losverfahren, was ja ein beredtes Zeugnis für Politikverdrossenheit ist. Diese sozial Ausgegrenzten und Abgehängten wieder in die Zivilgesellschaft zurückzuholen und dazu zu bringen, ihre politische Rechte wahrzunehmen, bedarf wohl eines langwierigen Prozesses des Aufbaus von Vertrauen mittels konkreter Taten. Die Harz IV-Reform unter der Regierung Schröder repräsentiert in den Augen vieler Befragter einen Sündenfall, ja einen Verrat der Sozialdemokratie an den sogenannten „einfachen Leuten“. Hier das Rad zurückzudrehen, dürfte auf große politische Widerstände stoßen.
Wie hat sich durch Ihre Forschungen Ihr Blick auf die Lebenswirklichkeit von Menschen gewandelt, die im gesellschaftlichen Abseits unter den sozialen Existenzbedingungen von Hartz IV leben?
Schultheis: Ich hatte schon in vielen vorausgehenden empirischen Forschungen mittels qualitativer Methoden Einblick in die materielle Lage und in die subjektiven Befindlichkeiten von Langzeitarbeitslosen gewinnen können. Die bei diesem Projekt eingeholten Zeugnisse von betroffenen sind aber von ihrer Direktheit und Wucht her für mich selbst besonders eindrücklich.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm