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Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beck'schen Kurzkommentare, gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seiner ZEIT ONLINE-Kolumne wurde er einer breiten Öffentlichkeit bekannt, seit 2019 schreibt er wöchentlich die Kolumne „Recht haben“ für den SPIEGEL.
Wenn es um das Thema Strafen geht, dann ist die Expertise von Professor Dr. Thomas Fischer, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, gefragt – gelten doch sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beck'sche Kurzkommentare, und seine Kolumne „Fischer im Recht“ auf ZEIT ONLINE nicht nur als beliebt, sondern fachlich brillant. Nicht verwunderlich also, dass die von der Liberalen Hochschulgruppe Friedrichshafen und der Friedrich-Naumann-Stiftung an der Zeppelin Universität organisierte Buchvorstellung „Über das Strafen – Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft“ zahlreiche Zuhörer anlockte.
„Das Strafrecht erhält viel gesellschaftliche Aufmerksamkeit, es steht im permanenten Fokus der Öffentlichkeit“, läutet Fischer die Abendveranstaltung ein. „Es erscheint den meisten Menschen als außerordentlich wichtig und gilt für sie als Spiegel der Gesellschaft, geradezu als Gradmesser für den Zustand einer gesellschaftlichen Sicherheit, Geborgenheit und das, was eine Gesellschaft leisten kann – abgesehen vom gesellschaftlichen Wohlstand.“ Jedoch herrsche große Unsicherheit darüber, was die Justiz überhaupt herstellen soll. Für die Sicherheit sei sie nicht zuständig, das sei Aufgabe der Polizei. Diesbezüglich fügt Fischer hinzu, dass die Sicherheitslage meistens als sehr schlecht angesehen werde, obwohl sie empirisch deutlich besser dastehe: „Auch höhere Strafen, die oft von der Gesellschaft akzeptiert oder gar gewünscht werden, würden das Empirische nicht ändern. England beispielsweise hat eine ganze Zeit lang Schwerverbrecher nach Australien abgeschoben – mit dem Resultat, dass es in England auch weiterhin zu schweren Verbrechen kam und Australien sich zu einer zivilisierten Hochkultur entwickelt hat.“
Doch woher kommt diese große Unsicherheit? Thomas Fischer vertritt die These, dass in unserer globalisierten Welt viele Sicherheiten weggefallen seien. „In allen Sozialkontrollinstanzen wie Kirchen, Schulen, Universitäten gibt es keine Sicherheit mehr in Bezug auf was man anziehen soll, wie man zu grüßen hat, was man denken soll oder gar welche Sitten und Bräuche zu leben sind. Was wir heute haben ist eine globalisierte Gesellschaft, die sagt: ,Du bist auf dich allein gestellt, du kannst niemandem vertrauen, sondern nur dir, sieh also zu, wie du zurechtkommst.‘“
Wenn das Recht gebrochen wird und der Fall vor Gericht kommt, stellt sich die naheliegende Frage: Was ist Gerechtigkeit und wie soll sie verübt werden? Fischer konstatiert: „Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit. Niemand weiß jedoch, was die Wahrheit ist und ob sie im Einzelfall zutreffend ausreichend erforscht wurde – auch nicht das Bundesverfassungsgericht. Das ist allerdings nicht weiter schlimm, denn das Gericht hält sich aus dem soziologischen und philosophischen Konzeptstreit raus, da es über Einzelfälle auf Grundlage plausibler und legitimierter Regelsätze entscheidet.“
Fischer gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass Gerechtigkeit keine weitreichende Bedeutung habe, außer das jeweils Richtige zu bezeichnen. Das impliziere zum einen, dass Gerechtigkeit nicht in einem ahistorischen Sinn betrachtet werden könne, da sich soziale Gegebenheiten ständig änderten. „Früher wurden zum Beispiel Frauen ägyptischer Pharaonen getötet und mit diesen begraben, was zweifellos barbarisch aus der Sicht des 21. Jahrhunderts ist. Ob es allerdings ungerecht war, ist eine komplexere Fragestellung. Es existiert keine moralische überzeitliche Instanz, die das bewerten könnte.“ Zum anderen werde Gerechtigkeit von Menschen in ihrer konkreten sozialen Existenz definiert – wie so vieles unterstehe sie dem Prinzip des Subjekts: „Deswegen steht es auch politischen Systemen nicht frei, aus ideologischen Gründen zu einem angeblichen System von Gerechtigkeit zurückzukehren, dass sich mit dem Stand der Zivilisation und der Entwicklung vereinbaren lässt. Diese normativen Regeln sind Ergebnisse der sozialen Verständigung von Menschen und tief in unserer Sprache verwurzelt.“
Um Gerechtigkeit zu erzeugen, sei Wahrheit elementar. Thomas Fischer räumt jedoch ein, dass Wahrheit kein leichter Begriff sei und die Wahrheit auch kein Synonym für Wirklichkeit sei. „Wie die Gerechtigkeit, so wird auch die Wirklichkeit von jedem Menschen subjektiv wahrgenommen. Kollektiv wird dann versucht, sich auf eine Wahrheit zu einigen – manchmal gelingt dies und manchmal eben nicht.“ Da unser Gedächtnis von unseren Gefühlen bestimmt wird, werden wir auch von diesen beeinflusst: So verändern sich unsere Erinnerungen jedes Mal, wenn wir uns erinnern, und sie erscheinen in neuem Licht. Als Beispiel erzählt Fischer folgende Geschichte: Einer jungen Frau wurde im Zuge eines verdeckten Experiments gesagt, dass sie im Alter von elf Jahren ihre Schwester die Treppe hinuntergestoßen hätte. Die Frau erwidert zu Beginn, dass das nicht stimmen kann. In den folgenden Gesprächen wird das Ereignis wiederholt, zusammenhanglos eingebracht und mit Emotionen aufgeladen. Nach etwa vier bis sechs Wochen kommt die Frau zu dem Schluss, dass sie wirklich ihre Schwester die Treppe hinuntergestoßen hat. Darüber hinaus gibt sie sogar an, seit Jahren an Schuldgefühlen gelitten zu haben.
Bei solchen Experimenten zeigt sich deutlich die Problematik des Sich-Erinnerns. Doch wie wird damit in Strafprozessen umgegangen? Wie kann man also die Wahrheit feststellen? „Die Wahrheit ist ein uraltes Problem; denn es soll die vergangene Wirklichkeit rekonstruiert und Kausalitäten hergestellt werden“, erläutert Fischer. „Der Mensch ist mit einem Kausalitätszwang ausgestattet und diesen Zwang verfolgt er strikt, indem er etwa nicht akzeptieren will, dass Wellen zufällig auslaufen – er versucht krampfhaft, ein Muster oder Kausalitäten für den Lauf der Wellen zu finden.“
Auch im Strafprozess spiegelt sich das wider. Thomas Fischer legt dar, dass die Wahrheit immer so konstruiert werden müsse, dass sie legitimierbar sei; sie müsse es den Beteiligten erlauben, mit dem Ergebnis leben zu können. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass sie auch von Menschen, die nicht bei dem Prozess anwesend waren, akzeptiert und als gerecht empfunden werde und sie überzeugen könne. Dabei reiche es schon aus, wenn die Wahrheit unzureichend über irgendwelche Medien vermittelt werde. „Uns Menschen genügt das, wir orientieren unsere Weltsicht daran und das ist für uns dann die Wahrheit.“
Abschließend hält Fischer fest: „Das Recht, besonders das Strafrecht, muss eine allgemeine Gerechtigkeit ausstellen, die neutral und übergeordnet ist. Eine Justiz, die rechtliche Entscheidungen mit subjektiven Interessen vermischt, kann nicht glaubwürdig sein.“
Titelbild:
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Bild im Text:
| Michelle Gann / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm