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Dr. Gerrit Fröhlich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Konsum- und Kommunikationsforschung im Fach Soziologie an der Universität Trier. Er lehrt und forscht in den Bereichen Medien- und Kultursoziologie. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen auf den folgenden Themen: Digitalisierung, Digitale Kulturen und Plattformen
Digitale Selbstvermessung, Soziologie digitaler Spiele, Mediengeschichte, Identität, Selbstthematisierung und Selbstführung.
„Das Spiel ist im Grunde ein trojanisches Pferd, dessen Ziel es ist, meinen Körper zu verändern“, sagt Fröhlich über „Ring Fit Adventure“. Diese körperliche Veränderung ist ein erster Effekt, den digitale Spiele auf die Materie – in diesem Fall unseren Körper – haben: Er soll schöner und leistungsfähiger werden. Der Controller stellt dabei die Verbindung zwischen dem digitalen Spiel und dem materiellen Körper her. Doch auch auf nicht-lebendige Materie haben digitale Spiele einen Einfluss, denn „das Zimmer muss auch mitspielen“: Fernseher und Konsole müssen richtig ausgerichtet sein, man braucht einen stabilen Untergrund und muss eventuell noch Möbel verrücken. „Alles in Allem sind wir also weit davon entfernt, die materielle Welt hinter uns zu lassen“, fasst Fröhlich seine einleitenden Worte zusammen.
Anschließend führt Fröhlich in die Forschungstradition sogenannter „digitaler Materialisten“ ein. 1996 schrieb John Perry Barlow etwa die „Declaration of the Independence of Cyberspace“. Darin wollte der Internetpionier das damals noch eher als räumlich verstandene Internet als unabhängig von den Industrieländern erklären. Denn die Gesetze und Institutionen dieser „weary giants of flesh and steel“ basierten auf Materie, aus welcher der Cyberspace nicht bestehe. „In der Anfangsphase des Computers wurde das Digitale gerne als Gegenentwurf zur Kohlenstoffwelt gehandelt“, sagt Fröhlich dazu. Den Gegenentwurf zu dieser Auffassung lieferte Friedrich Kittler, der behauptete: „Es gibt keine Software.“ Für den Medientheoretiker gibt es im Digitalen nur die Hardware; die Konstruktion der Hardware bedingt, wie die Software später überhaupt gestaltet werden kann. Daher dürfe man die Hardware nicht aus soziologischen Analysen ausschließen und sollte auch die Chiparchitektur untersuchen. „Nur was schaltbar ist, ist überhaupt“, ist ein weiteres Zitat von Kittler, das Fröhlich in diesem Zusammenhang in den Chatraum wirft.
Mit Jussi Parikka lenkt Fröhlich den Fokus auf die Materialien, die das Digitale überhaupt erst ermöglichen: Dazu gehören etwa Kupfer oder Glasfaser, genauso wie seltene Erden, die für die Chipproduktion benötigt werden. „Für Medien werden konkret Materialien in Minen geschürft und verarbeitet. Die Müllhalden füllen sich daher mit Elektroschrott“, bemerkt Fröhlich. Und er fügt hinzu: „Man erlebt es ganz konkret, wie die Preise von Hardware in Folge von materieller Knappheit ansteigen und bestimmte Materialien nicht nachgeliefert werden können.“ Ein aktuelles Beispiel liefert der Soziologe auch gleich mit: die Playstation 5. Darüber hinaus haben die Materialien auf unserem Planeten Eigenschaften, die sich auf die Materialitäten von Medien auswirken. Ähnlich wirkt sich die Ökologie auf das Digitale aus: Serverfarmen stehen in der Regel in den kälteren Regionen der Erde, da sie unglaublich viel Hitze produzieren, die in irgendeiner Weise abgeleitet werden muss – und sie benötigen viel Energie, für deren Produktion und Verbreitung wiederum andere Materialien benötigt werden. Doch auch die Energie – etwa Strom – ist selbst Materie. Fröhlich verweist auf Jussi Parikka und macht deutlich: „Der Mythos einer entmaterialisierten Welt versperrt den Blick auf das Materielle.“
Dann kommt Fröhlich auf die Theorie des historischen Materialismus von Marx und Engels zu sprechen. Der historische Materialismus besagt, dass „in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird“. Fröhlich verweist auf die heutige Situation im Kongo, in dem mehr als die Hälfte des weltweiten Kobalts gefördert wird. Die dort arbeitenden Bergleute besitzen keine Grundausrüstung und schürfen das Material oft mit bloßen Händen. Die Minen sind meistens nur unzureichend gesichert, sodass Einstürze nicht selten vorkommen. Hinzu kommt, dass die Arbeiter oft an Unterernährung und Erschöpfung leiden. Dieser Zustand wird daher auch als „digitale Sklaverei“ bezeichnet, die unmittelbar mit der Materialität des Digitalen zusammenhängt. Auf der digitalen Seite gibt es die sogenannte „Niedriglohninformationsarbeit“, bei der virtuelle Ressourcen „geschürft“ werden. Plattformen wie „Amazon Mechanical Turk“ bieten solche Dienste an, für die die Klickarbeiter allerdings kaum Geld erhalten. Die wöchentliche Arbeitszeit erstreckt sich dabei gerne auf 80 und mehr Stunden – ohne viel Tageslicht.
Der nächste Name, den Fröhlich ins Spiel bringt, ist Matthew Kirschenbaum, der sich mit der Materialität des Digitalen in einem viel kleineren Maßstab beschäftigt. Unter einem Elektronenmikroskop macht Kirschenbaum die physikalische Materialität von alten Spieldisketten oder Festplatten sichtbar, die auf dieser Ebene wie kleine „Hügel“ aussehen. Diese Hügel sind dabei nichts anderes als die materielle Form der Nullen und Einsen, die jeweils den Spannungszustand eines Transistors darstellen. Diese Nullen und Einsen erzeugen laut Kirschenbaum nur die Illusion von Immaterialität, indem sie durch ihre Symbolik die ihr zugrundeliegenden physikalischen Prozesse verdecken.
Mit Blick auf das Verständnis von Software geht Kirschenbaum über die untersuchte Hardware hinaus. „Wer Software verstehen will, der muss wie ein Archäologe alle Dinge rekonstruieren“, erklärt Fröhlich. Das bedeutet: Man muss theoretisch auch nachvollziehen können, wer welche Ideen in Businessmeetings durchgesetzt hat, wer wie lange wach war und wie hoch sein Koffeinkonsum dabei gewesen ist. Dazu zählen auch die Whiteboards in den Büros, wie viel Geld in die Entwicklung geflossen ist sowie die archivierten Alpha- und Betaversionen der Software. Schnell wird deutlich, dass es quasi unmöglich ist, Software in ihrer Ganzheit nachvollziehen zu können. Das liegt auch daran, dass uns in der Regel das technische Verständnis fehlt und Software so ausgeliefert wird, dass man sie zwar ausführen kann, aber nicht an ihren Quellcode herankommt.
Abschließend stellt Fröhlich noch die „Runtime-Materialität“ vor: Damit ist die Modellierung von Materialität innerhalb von Software gemeint. Das beinhaltet Dinge wie die Simulation von Wasser, Gravitation, festen oder weichen Böden, von Blickachsen und vieles mehr. „Auch die Körper der Spielfiguren haben ihre ganz eigene Materialität“, ergänzt Fröhlich. Denn man spürt den Unterschied zwischen dem leichtfüßigen Mario, den man durch die Level von „Super Mario Bros.“ navigiert, und dem trägen Körper des Arthur Morgan, mit dem man sich durch die Spielwelt von „Red Dead Redemption 2“ bewegt.
„Spielt man solche Spiele, dann tritt ihre Materialität in den Hintergrund – man denkt nicht mehr darüber nach“, erwähnt Fröhlich, „aber das ist anders bei der Installation.“ Denn erst die Installation von Technik ermöglicht es der Materialität, später scheinbar zu verschwinden. „Ich muss mit den Materialitäten der Hard- und Software in Verbindung treten“, betont Fröhlich zum Schluss. Wenn ich keine physische Eingabe liefere, dann passiert in der Software oder dem Spiel auch nicht viel. Und hier schließt sich der Kreis – oder besser: der Ring. „Spieler formen die Spiele und Spiele formen den Spieler“ – und das alles auf rein materieller Ebene.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm