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Dr. Joachim Landkammer studierte in Genua und Turin; seit 2004 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zeppelin Universität am Lehrstuhl für Kunsttheorie und inszenatorische Praxis. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Anwendungs- und Grenzbereichen der Philosophie; neben politischer Philosophie setzt er sich unter anderem mit Ästhetik und Bildungstheorie auseinander.
Das mag man nun als mutig-riskanten Schachzug loben und bewundern, aber neben dem bitteren Geschmack im Mund, daß es ausgerechnet den Holländern gelingt, darf man auch an die von wenigen in Betracht gezogene, sicher alles andere als selbstbewußtseinsförderliche Stimmungslage des ausgewechselten Spielers denken - und darüber hinaus in van Gaals siegreicher Idee ein gefährliches Symptom sehen.
Denn so überraschend ist die Trainer-Tat eigentlich gar nicht: sie setzt eine Entwicklung zur Spezialisierung und Kompetenz-Fokussierung (man auch sagen: „Kompetenz-Verengung“) fort, die auf dem Rasen schon so weit gediehen ist, wie sie es außerhalb inzwischen schon fast wieder nicht mehr ist. Über der leidigen Diskussion darüber, „wo“ und „auf welcher Position“ bestimmte Spieler am besten aufgehoben sind, wer wo seine ganz besonderen Fähigkeiten am besten zur Geltung bringen kann, wird ganz vergessen, daß es ja letztlich doch auch völlig egal sein könnte, ob ein Spieler bei Spielbeginn fünf Meter weiter rechts oder links, hinten oder vorn, auf dem Platz herumsteht. Die Anfangsformation, die so schön den Grafiken mit den nummerierten symbolischen Leibchen zu Beginn der Fernsehübertragung entspricht, löst sich spätestens zehn Sekunden nach Anpfiff auf, und fast jeder Spieler ist fast überall zu sehen: notorisch spielt bei „Deutschland“ der Torwart „Libero“ und die „Abwehrspieler“ schießen die Tore. Der sog. All-Rounder ist sicher keine superschlaue Taktik-Erfindung unseres behäbigen Trainers, sondern eine unzeitgemäße, schlicht bodenständig-menschliche Fundamental-Option.
Man darf daher der Vermutung Raum geben, daß das ganze Gerede von den angeblich so spezialisierten Fähigkeiten (der eine „kann“ nur rechts, der andere „kann“ nur Elfmeter, usw.) eher Ideologie- und Einschüchterungscharakter hat. Deutlich ist Letzteres gerade beim Elfmeterschießen, wo es primär auf sog. „Psychologie“, weniger auf reales Können ankommt, und es natürlich die gegnerische Mannschaft mächtig irritiert, wenn da plötzlich ein ganz anderer (huch!), offenbar „der Spezialist im Elfmeter-Halten“, zwischen den Pfosten steht. Das Plätze-und Positionen-Vergeben-und-Verschieben, das Dann-doch-(nicht-)-Aufstellen und Vom-Kader-Ausschließen, das „Jemanden-Vom-Rasen-Holen“ und „Einen-Neuen-als-Joker-Bringen“ gehört aber darüber hinaus zum puren ideologischen Überbau: es dient dem Herrschaftsdiskurs der Trainer, die daraus die Legitimation ihrer Autorität gewinnen und eine Spielbeeinflussung ausüben, die so heiß diskutiert wie unbeweisbar ist.
In diesem Sinne sind solche Trainer-Ansagen wohl typische Manager-Entscheidungen: sie haben eine mitunter recht auffällige, geradezu „sensationelle“ Außenseite, sind in ihren Konsequenzen aber kaum nachprüf- und in ihrem Wirkungsgrad nicht wirklich einschätzbar; sie lösen die Kontingenz des Spiel(resultat)s nicht auf. Wichtig sind in diesem Zusammenhang daher nur ihre strukturellen Voraussetzungen und Folgen: sie weisen nämlich Spieler-Aufgaben zu und schreiben Spieler-Identitäten fest. Der Spieler wird zum „Spielball“, zur strategisch einzusetzenden Spielmarke, mit fest umrissenen Zuständigkeiten und ihm amtlich zugetrauten Kompetenzen. Auch das wiederholt nur seit langem bemerkte gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in der Arbeitswelt: durch pseudo-objektive Untersuchungen wie Einstellungs- und Eignungs-Tests sowie endlose „Evaluationen“ werden Mitarbeiter auf ihr angebliches „Profil“ und damit auf ihre „Funktion“ festgelegt (der eine „kann“ nur Büroarbeit, der andere „kann“ nur Außendienst, usw.), und dementsprechend werden sie von einem weisen, gottgleich waltenden Management auf die jeweils für sie „optimalen“ Plätze und Schaltstellen verschoben. Und gegebenenfalls werden sie eben von dort auch kurzfristig wegbeordert, weil man – wie van Gaal in der 119. Minute - meint, für die gerade jetzt anstehende Aufgabe doch noch einen „Besseren“ parat zu haben. Daß man dem dort tätigen Menschen, nach vielleicht jahrzehntelanger monotoner Routine, die Chance nimmt, sich nun einmal auch im Außergewöhnlichen zu beweisen, kümmert niemanden.
Daß eine wohl unumkehrbare Professionalisierung mit Spezialisierung, Sektorialisierung und Fragmentierung der Arbeit einhergeht, sei zugestanden. Man muß aber keine kulturpessimistische Klage über den Verlust von „Ganzheitlichkeit“ anstimmen, um zu meinen, daß ein Spiel, das nur noch Spezialisten für Freistöße (aus bestimmten Positionen: rechts oder links!), Spezialisten für Elfmeter und Spezialisten für Einwürfe hat, kein „Spiel“ im eigentlichen Sinne mehr ist, sondern nur noch ein überraschungsfrei arbeitendes Getriebe mit perfekten einzelnen Rädchen, jedes genau „an seinem Platz“. Man darf es vielleicht doch mit der tendenziell „dilettantischen“, aber sehr humanen Gegen-Vermutung halten, daß im Grunde „alle alles“ können. Wer diese, heute anmaßend klingende generalistische Grundüberzeugung teilt, muß nun mit Costa Rica sympathisieren. Die haben gegen die cleveren Holländer, mit deren exzellentem Auswechseltorwart, verloren, weil sie nur einen Alltags-Mädchen-für-alles-Torwart hatten, der im Spiel zwar glänzend pariert hatte, aber keinen einzigen Elfmeter hielt. Von Costa Rica lernen, heißt: lieber keine Weltmeister sein und dafür alles „selber“ gemacht zu haben, statt mit schnöder arbeitsteiliger Fragmentierung des Spiels in spezialistische Sonderressorts sogenannte „Weltbestleistungen“ zu erbringen. Die naive, schon immer unglaubwürdige Olympia-Maxime „Dabeisein ist alles“ verschleiert anti-individualistische Ausschließungspraktiken (vulgo „Teamgeist“), denn sie nützt denen nichts, die eben trotz ihres „Dabeiseins“ nicht immer, auch im entscheidenden Moment, wirklich dabei sind und mittun dürfen; es darf daher keine Trennung geben zwischen vorne und hinten, zwischen rechts und links, zwischen denen „auf dem Rasen“ und denen „auf der Bank“, sondern: wenn wir spielen, dann überall und alles. Auch und gerade dann, wenn wir es (angeblich) gar nicht können. Unser heimliches Idol muß Keylor Navas sein: der Torwart Costa Ricas, der sich nicht hat auswechseln lassen, sondern das Ding selber zu Ende spielt. Elfmeter hat er keine gehalten, aber einer menschlichen Zuversicht die Treue: „Wir können alles“ - außer Elfmeter. Das darf uns nicht hindern, auch dann auf unserem Posten zu bleiben.
Titelbild: Carschten / Wikimedia Commons
Bilder im Text: Tom Jutte, Manuel Reinhard / flickr.com
Beitrag (redaktionell unverändert): Dr. Joachim Landkammer | Zeppelin Universität
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm | Redaktion