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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Ganz konnte es wohl nicht ausbleiben bei einer Oscar-Verleihung, aber vielleicht haben die Worte noch nie so unangebracht, ja hilflos geklungen. Zwei oder drei der Preisträger setzten eine Tradition fort, die als „guter politischer Wille“ viel weiter zurückreicht als die uns immer noch bedrängenden Gesten „politischer Korrektheit“, indem sie ihre besten Wünsche für das ukrainische Volk einpassten in den üblichen Dank an Verwandte und Kollegen, die ohne Verlust hätten ungenannt bleiben können. Aber was genau soll man denn eigentlich den Ukrainern wünschen, die sich von ihrem oligarchisch-exotischen Präsidenten befreit haben? Im Blick auf den Osten des Landes ist ja nicht einmal klar, ob die Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, sich einer Re-Integration in den russischen Staat zu widersetzen. Vor allem dass solche Fragen ganz offen sind, machte die gut und freiheitlich gemeinten Bemerkungen bei der Oscar-Verleihung so peinlich.
Jedenfalls scheint die Lage der Ukrainer typisch zu sein für Momente der politischen Diskontinuität im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert. Protestbewegungen gegen Regierungen, die allzu offensichtlich Grundregeln der Demokratie missachten oder brechen, finden breite internationale Unterstützung und sind nicht zuletzt deshalb wohl so erstaunlich erfolgreich geworden. Doch unmittelbar nach den Befreiungsereignissen stellen sich dann regelmäßig jene Situationen ein, die man seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert „postrevolutionär“ nennt. Auf den Konsens im Widerstand folgt immer wieder ein wahrhaft zentrifugaler Dissens in den Visionen zur Gestaltung der Zukunft. Was genau könnten also, um einen Oscar-Preisträger zu zitieren, die gemeinsamen „Träume des ukrainischen Volks von einer besseren Zukunft“ sein?
„Freiheit“ und „Gleichheit“, die klassischen Wert-Begriffe der bürgerlichen Revolutionen, wirken eigenartig erschöpft in solchen Momenten – und jene „Brüderlichkeit“, die sich seit dem Revolutionsjahr von 1848 als Ausdehnung des Gleichheitspostulats auf die wirtschaftlichen Lebensbedingungen aller Bürger zu „Freiheit“ und „Gleichheit“ gesellt hatte, gehört seit dem am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts besiegelten Scheitern von Staats-Sozialismus und Kommunismus nicht mehr zu den dringenden Forderungen und Zukunftsversprechen. In der Europäischen Union zumal hat sich dagegen eine andere Vorstellung vom guten Leben etabliert, welche einen absoluten Vorbehalt gegen Interventionen des Staats in der Privatsphäre mit maximalen Erwartungen gegenüber den Versorgungspflichten des Staates kombiniert. Unter allen möglichen Interventionen unbestritten bleibt als Voraussetzung des guten Lebens (im EU-Stil) allein das Recht des Staates, erhebliche Steuergelder zu einzuziehen. Ich nenne diese Konvention gerne „sozial-demokratistisch“, um auf ihre Herkunft aus der Sozialdemokratie zu verweisen und zugleich anzudeuten, dass sie als Vorstellung von einem guten Leben in Freiheit längst nicht mehr den Sozialdemokraten alleine gehört.
Schon 1955 hatte Herbert Marcuse in seinem Buch „Eros and Civilization“ einen solchen Stand als Ergebnis des fortschreitenden Kapitalismus prognostiziert und als kumulativen Effekt des wiederholten Rekurses auf das „Realitätsprinzip“ (im freudianischen Sinn) bei der Lösung sozialer Konflikte erklärt. Weil weder den Über- noch den Unterprivilegierten an einer Permanenz oder gar an einer Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte liegen kann, werden Hierarchien nivelliert und Abhängigkeitsverhältnisse unsichtbar gemacht, was dann zur universalen Verpflichtung auf ein anscheinend konsequent gehandhabtes Leistungsprogramm führen soll: unabhängig von Herkunft und Stand wird Kapital strikt nach Wettbewerbsregeln verteilt, was tatsächlich eine neue Dynamik sozialer Mobilität freigesetzt hat. Die Pointe von Marcuses Beschreibung lag freilich in der Vorhersage, dass sich mit der fortschreitenden Befreiung von Unterdrückung und schmerzhafter Ungleichheit, keinesfalls ein Zustand kollektiven und individuellen Glücks einstellen würde. Alle Menschen sind frei, aber niemand genießt diesen Zustand.
Anders und genauer gesagt: Jetzt, da das klassische bürgerliche (und auch proletarisch sozialistische) Revolutionsprogramm einer Befreiung aus spürbaren Abhängigkeiten von anderen Menschen nach gut zweihundert Jahren historischer Laufzeit weitgehend erfüllt scheint (ich rede natürlich von einer generellen Sachlage oder einem vorherrschenden Eindruck, ohne zu behaupten, dass wirklich jede Art von sozialer Abhängigkeit aufgehoben ist), jetzt erst lässt sich die Frage nicht mehr aufschieben, wozu — im Blick auf welches Bild vom guten Leben also — die langfristig gewonnene Freiheit investiert werden soll. Dass uns diese Frage – im größeren historischen Zusammenhang des fortgeschrittenen kapitalistischen Zeitalters – eigenartig unvorbereitet trifft und perplex macht, wird schon an Marcuses Buch aus dem Jahr 1955 deutlich. Denn nach einer – gerade aus heutiger Perspektive – brillanten und mittlerweile tatsächlich prophetisch wirkenden Analyse des fortgeschrittenen Kapitalismus blieb er in ideologisch „progressiven“ Gemeinplätzen stecken und in Bildern mit vagen Konturen, wo man die Einlösung seines Versprechens erwartet hätte, aus psychoanalytischer Theorie eine Vision der Freiheit zum glücklichen Leben zu entwickeln.
Einige dieser konturenschwachen Bilder lassen sich immerhin mithilfe gegenwärtiger Wünsche und Visionen nachziehen. Marcuse denkt zum Beispiel für die Zukunft an eine Befreiung vom Performanz-Prinzip, das an die Stelle hierarchischer Standes- und Klassengesellschaften getreten war. Doch was genau könnte eine solche Erlösung für unseren Alltag bedeuten? Wohl vor allem, dass Situationen der Unabhängigkeit von Arbeit und Situationen der materiellen Fülle ihre Zeitlichkeit verlören und also nicht mehr als begrenzt (wie „Ferien“ oder „Feste“) zwischen einem Anfang und einem immer anstehenden Ende erlebt werden. Ein solches ent-temporalisiertes Leben könnte auch zu einem Leben ohne Ressentiment und Angst werden. Doch die eigentliche Frage ist ja, ob es uns gelingt, diese hartnäckige Logik der „Befreiung von“ zu überbieten, um bei der „Freiheit zu“ einem neuen, glücklichen Leben anzukommen. Marcuse schreibt in diesem Zusammenhang – seine eigene Tendenz zur Vagheit nur steigernd — von einem „ozeanischen“ Gefühl im Verhältnis zu anderen Menschen und auch zu den Gegenständen der Welt.
Dahinter – wie hinter der Vorstellung von Ent-Zeitlichung – steht eine Wert-Umkehrung des freudianischen Begriff vom „Todestrieb“. Er soll dem Drang nach beständiger Transformation und Selbstüberbietung seine Intensität nehmen und zugleich die Sehnsucht nach dem Eins-Werden mit anderen Körpern und Dingen in der Welt befördern. Fast sechzig Jahre nach „Eros and Civilization“ möchte ich in diesem Sinn den — heute universal negativ aufgefassten — Begriff einer „symbiotischen“ Beziehung zu anderen Menschen umkehren. Denn gegen die jetzt als absolute Prämisse des Alltags fungierende Priorität physischer und individueller Unabhängigkeit weiß und genieße ich, dass mein psychisches und physisches Leben ohne seine Koppelung an das Leben anderer Menschen keine Freude und Fülle hätte. Ich möchte – wie (ein leider eher unmusikalischer) Orpheus – aus dem Leben der Frau, die ich liebe, die Wellen der Energie für mein eigenes Lebens aufnehmen — und ihr meine Energie geben (ohne sie natürlich an den Hades zu verlieren). Und ich möchte spüren, wie die Gegenwart meiner Studenten am gemeinsamen Seminartisch zum Ursprung jener Gedanken wird, die mich bewegen.
Doch bevor solches Ausmalen einer von der Formel „Freiheit wofür?“ markierten existentiellen Leerstelle noch peinlicher wird, sollte ich mich daran erinnern, dass es ja (vorerst jedenfalls) nur um die Frage geht, ob man dem erschöpften Begriff von der Freiheit heute neue Energie geben kann. Mein Freund, der große Italianist Robert Harrison, mit dem ich mich darüber in den letzten Wochen jeden Donnerstagabend unterhalten habe, glaubt, dass meine Antwort immer noch viel zu „ozeanisch“ ausfällt. Seine Vorstellung von einem Glück, zu dem wir frei geworden sind (individuell und auf verschiedenen Stufen der Komplexität auch mit anderen Menschen), schließt immer freiwillig und in Freiheit gewählte Verpflichtungen und Selbstbeschränkungen ein, in denen allein, meint er, das glückliche Leben seine Formen finden wird. Glück kann das Entstehen eines Werk für ihn sein oder die Treue zu einer Aufgabe und einer Gemeinschaft.
Aber muss man sich im Frühjahr 2014 nicht fragen, ob solche Donnerstags-Bilder von der Freiheit-zum-Glück für eine Gegenwart der – im vollsten Sinn, kaum vorstellbar totalen elektronischen Überwachung — nur einfach die luxuriösen Hirngespinste von Geisteswissenschaftlern an der Grenze zur Emeritierung sind? Macht nicht die Faktizität dieser Überwachung, wie sie leider feststeht, jede Rede von der gewonnenen und nun zu investierenden Freiheit zum Gerede und sogar zur gefährlichen Illusion? Anzunehmen ist, davon spricht der amerikanische Philosoph Peter Galison, dass auf Dauer aus dem Bewusstsein von der totalen Überwachung eine neue Instanz an der Funktions-Stelle des vertrauten bürgerlichen Über-Ich hervorgehen wird. Ich glaube allerdings nicht daran, dass — in Orwellscher Tonalität — aus der totalen Überwachung der totale Freiheitsverlust und die totale Kontrolle hervorgehen müssen. Welchem Machtzentrum sollte daran gelegen sein, meine Träume, Gespräche und Leidenschaften nicht nur zu registrieren, sondern regulierend zu überwachen?
Die erhobenen Daten werden ja vor allem re-investiert, um uns als Kunden aller Arten von Waren begierig und aktiv zu halten. Und das bedeutet am Ende: Was die elektronische Welt aktiv verhindert, ist unsere Erlösung vom Performanz-Prinzip. Denn über das Web motiviert bleiben wir bis auf weiteres und — vielleicht ja in alle Ewigkeit — intransitiv mobil; wir produzieren weiterhin Kapital, tragen zu seiner Zirkulation bei und machen dabei ein paar Milliardäre noch reicher. Selbst wenn wir uns während der Oscar-Verleihung für einen Moment auf die Sorgen der Ukrainer konzentrieren, und mit jeder Solidaritätsadresse, die wir im elektronischen Fluss unterstützend weiterleiten, werden wir als potentielle Kunden überwacht. Und vielleicht verhilft ja diese Manipulation unseres Freiheitsgebrauchs absolut niemandem zum Glück, nicht einmal den Milliardären.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Philipp Rümmele / flickr.com
Bilder im Text: PM Cheung, Ruths138,
Jesus Solana, Christian Senger / flickr.com
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm | Redaktion