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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Diego, mein Enkel, wird am Dienstag vier Jahre alt, nachdem er den ganzen Weltmeister-Monat so energisch im Garten gekickt hat, dass ihn seine Eltern jetzt für den Saisonstart bei einer Knirpse-Mannschaft angemeldet haben. Er „ist“ allerdings (als Oberbayer) noch nicht Thomas Müller, Bastian Schweinsteiger oder Philipp Lahm, wenn er Fußball spielt, sondern nur der Ball-, Anlauf- und Schuss-verliebte Diego (weshalb ich es auch ganz richtig finde, dass vorerst sein eigener Name auf dem Rücken des kleinen Nationalmannschafts-Trikots steht). Die Welt, welche er bespielen möchte, hat sich schnell entwickelt und ausgeweitet, seit Diegos kleine Existenz vor zwei Jahren ausschließlich auf Traktoren und Anhänger, Bagger und Krähne konzentriert war. Inzwischen gibt es dort auch „gute“ und „böse“ Dinosaurier (die guten heißen „Thomas“ und allein für die bösen schwärmt Diego), Laugenbrezeln und Pistazien-Eis, Feuerwehrautos und die Euro-Fighter, die sein Papa fliegt.
Um Euro-Fighter ging es auch neulich, als wir in Diegos Zimmer auf dem Boden saßen, um verschiedene Dinosaurier, verschiedene Auto-Typen und verschiedene Flugzeug-Modelle in säuberlich getrennten Gruppen aufzustellen. „Beim Papa auf dem Flugplatz hat eine Bombe eingeschlagen“, sagte Diego plötzlich sehr langsam (wie es seine Art ist) und scheinbar bedeutungsschwer (was mich als Großvater manchmal ganz naiv davon träumen lässt, dass er vielleicht ein Dichter werden könnte). Aber weil ich ja auch ein Vater bin, war ich vor allem erschrocken über diesen Satz und besorgt, so dass ich gleich fragte, von wo denn die Bombe gekommen sei. „Ist von Rafas Flugzeug gefallen“, antwortete Diego unbeirrt langsam, lakonisch und mit unheimlicher Gewissheit, was meine Sorge nur noch größer werden ließ, weil ich weiß, dass Rafa ein Kollege meines Sohns ist. „Und ist dem Papa was passiert?“ sagte ich. „Noch nicht, aber vielleicht bald“, hieß die für mich nun schon beinahe unerträgliche Antwort.
„Musst dir keine Sorgen machen, der Diego lügt nämlich wie gedruckt“, beruhigte mich meine Schwiegertochter, als ich ihr ein paar Minuten später und etwas verängstigt von der Unterhaltung mit ihrem Sohn erzählte. Man hatte bei Bauarbeiten auf dem Flugplatz, wo Ankes Mann arbeitet, Bomben (oder waren es Tretminen?) aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs entdeckt, so dass Abflüge und Landungen nun für einige Monate auf einer anderen, fünfzig Kilometer entfernten Piste stattfinden müssen, womit der Familien-Alltag natürlich komplizierter wird. Aber was war wohl in Diegos Kopf vorgegangen, als er langsam und mit runden Augen zu mir gesprochen hatte? Den großen Literatur-Theoretiker Wolfgang Iser wörtlich (und wahrscheinlich allzu wörtlich) nehmend könnte man sagen, dass das, was Diego sagte, „Fiktion“ war, nämlich eine Verknüpfung von Imagination (dynamischen Bildern im Bewusstsein) und eher konturierten Begriffen (wie sie zu unserer Sprache gehören). Die kleine Bombe unter dem Flügel seines Eurofighter-Modells, mit dem wir gespielt hatten, musste das Bild einer Bombe („Imagination“) in Diegos Vorstellung heraufbeschworen haben, und der Ausdruck („die Begriffe“), dass „eine Bombe eingeschlagen“ hat, ist ihm, berichtete seine Mutter, wohl aus jenen Momenten vertraut, wo sie ab und an im Blick auf das Spielzeug-Chaos sagt: „In deinem Zimmer sieht es ja aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen.“
Gelogen hatte Diego jedenfalls nicht, denn „Lügen“ setzt ja eine Absicht der Irreführung oder Täuschung voraus – an der sich Vierjährige bei anderen Gelegenheiten durchaus versuchen. Eher stelle ich mir vor, dass Diego aus unserer Konzentration auf Spiel-Autos und Spiel-Flugzeugen als „richtigen“ Autos und Flugzeugen heraus weiter mit Bildern und Wörtern gespielt hatte, und das heißt: dass er immer weiter antwortete und Begriffe für Bilder fand, ohne überhaupt eine Absicht zu verfolgen. Doch ebenso wenig wie das Wort „Lüge“ trifft „Fiktion“ Diegos Spiel. Denn – darin dem Lügen ähnlich – setzt „Fiktion“ eine Absicht voraus, genauer formuliert: eine absichtliche (oder „ganz bewusste“) Einklammerung der Skepsis, die – außerhalb der Fiktion – unsere Alltagserfahrung ständig begleitet und uns auf Realitäts-Kurs hält („willing suspension of disbelief“ wird Fiktion als bewusste Aufhebung dieser Skepsis in der anglo-amerikanischen Literatur-Theorie genannt). Für meinen Teil hoffe ich, dass Diegos Imagination nicht versiegt und seine Spiele mit Wörtern nicht ganz verschwinden, wenn er während der nächsten Jahre lernt, in seinem Verhalten zwischen Fiktion, Lüge und wahrheitsfähigem Sprechen zu unterscheiden (wozu er natürlich die einschlägigen theoretischen Begriffe gar nicht braucht) – und das male ich mir aus, obwohl ich meinem Enkel, Hand-aufs-Herz, nicht unbedingt ein Leben als Dichter oder gar Literaturwissenschaftler wünsche.
Wie lässt sich diese Imagination genauer und komplexer beschreiben, die in Diegos Kopf zu sprudeln scheint und an der mir so liegt? Erstaunlicherweise kommen aus den Geisteswissenschaften kaum konsensfähige Antworten auf die für sie eigentlich zentrale Frage, auch wenn wir ja alle mit unserer eigenen Imagination vertraut zu sein glauben – und in einem praktischen Sinn auch vertraut sind. Imagination, hat man gesagt, sei das (am plausibelsten mit Bildern vergleichbare) Rohmaterial, gleichsam die Substanz, welche unser Bewusstsein ausfüllt und sozusagen „möbliert“. „Roh“-Material, weil eine solche Beschreibung voraussetzt, dass das Imaginäre noch nicht durch unser Repertoire von mehr oder weniger wohlgeformten Begriffen gefiltert ist, welches wir mit der Sprache erwerben. Imagination, das ist zum Beispiel der „Stoff unserer Träume“, bevor wir sie deuten, erzählen oder aufschreiben.
Unentschieden scheinen die Antworten auf die Frage zu sein, ob Bilder der Imagination immer aus Wahrnehmungen der „wirklichen“ Welt außerhalb unseres Bewusstseins hervorgehen müssen (so sehr verformt die dann auch sein mögen) oder ganz ohne Außenwelt-Kontakt, sozusagen aus der Innenseite des Bewusstseins, entstehen können. Vielleicht brauchte das Bild der „Bombe“ in Diegos Kopf also gar nicht die Bombe unter dem Flügel des Modellflugzeugs als Auslöser. Ebenfalls problematisch – mindestens auf den ersten Blick – und ebenso ungelöst ist der Status der heute so beliebten Rede vom „kollektiven Imaginären“. Denn genau genommen setzt sie ja voraus, was ganz ausgeschlossen ist, nämlich die Möglichkeit, ein anderes Bewusstsein so wie unseres eigenes, gleichsam „von innen“ zu erleben, bevor seine Inhalte dank des Filters der – in der Tat kollektiven – Begriffe ihren Ausdruck gefunden haben.
Was die meisten einschlägigen Theorien – trotz aller sonstigen Divergenzen – teilen, ist die Intuition einer besonderen Nähe zwischen Imagination und der körperlichen Dimension unserer Existenz. Vor einem knappen Jahrhundert hat der amerikanische Philosoph George Herbert Mead deshalb Imagination als Verhaltensgrundlage der Ur-Menschen identifizieren wollen. „Imagination“, schrieb er, seien etwa jene dynamischen (nicht statischen und nicht konsistenten) Bilder von stärkeren oder schwächeren Tieren gewesen, welche ein ohne visuelle Entsprechung vernommenes Geräusch im Bewusstsein der Urmenschen hervorgerufen habe. Ohne Formung und Normalisierung durch Begriffe, so lässt Mead dann seine eigene („wissenschaftliche“) Imagination weiter spielen, könnten solche Bilder beim – vorsprachlichen – Urmenschen direkt über Innervation auf die Muskeln gewirkt und Bewegungen der Flucht (angesichts des Bilds von einem Tier überlegener Stärke) oder des Angriffs (Bild eines schwächeren Tiers) ausgelöst haben. Was immer man von Meads Spekulation halten möchte, dass Imagination – in unserer „über-zivilisierten“ Situation immer noch, wie wohl in archaischen Zeiten — spürbare und auch sichtbare Reaktionen des Körpers auszulösen vermag, ist uns allen vertraut von der Wirkung erotischer oder auch ekelerregender Bilder.
Halten die Imaginations-Theorien nun irgendwelche Antworten parat für meine Hoffnung und Frage, wie ich denn helfen könnte, dem Austrocknen von Diegos jetzt so lebhafter Imagination vorzubauen? Bei aller Körper-Nähe der Imagination (und trotz meiner ziemlich grenzenlosen Bewunderung für große Sportler) – Rhythmus-Gymnastik, Schwimmen, Reiten oder auch Fußball-Spielen werden das wohl nicht erledigen. Denn dass Imaginäres oft physische Reaktionen auslöst, bedeutet ja nicht schon umgekehrt, dass forcierte Körper-Bewegung Imaginations-Bilder hervorruft. Dagegen setze ich auf eine gewisse Dosierung von „kindgerechten“, leicht zu assimilierenden Bildern als Bedingung für das Weiterleben von Diegos Imagination, weil ein Überangebot in dieser Hinsicht seinen eigenen Bildern – im fast wörtlichen Sinn – wohl irgendwann keinen Spielraum mehr für ihre eigenen Bewegungen ließe. Viel – fast alles vielleicht – wird aber davon abhängen, dass ihm zwischen der Forderung von Wahrhaftigkeit und der Verurteilung des Lügens in seiner Erziehung die Möglichkeit bleibt, Träume, Wünsche und Utopien, aber auch Albträume, Ängste und Phobien auszuleben, ohne dass sie schnell und unumkehrbar als „irrational“ aus seinem Leben gejätet werden. Die Produkte der Imagination sind ein fragiles Material, das gehegt werden muss — und wahrscheinlich hängt diese Fragilität nicht einmal von den besonderen Existenzbedingungen unserer Gegenwart ab.
Außerdem ist es natürlich möglich (wahrscheinlich?), dass Diego selbst eines Tages, wenn er erst den Unterschied zwischen Lüge und Fiktion gelernt hat, gar keine Freude an den Produkten seiner Imagination mehr hat. Und vielleicht ist ja auch mein Eindruck, dass er eine besonders lebhafte Imagination hat, gar nicht mehr als eine großväterlich-narzisstische Projektion. Dann wäre die Imagination wieder einmal mit mir durchgegangen.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Carden Crawford / flickr.com
Bilder im Text: Hartwig HKD, Jeff Krause,
Barockschloss, David Werner / flickr.com
Beitrag: Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm