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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Zu behaupten, dass allein das Unsichtbare wirklich sein kann, mit anderen Worten: zu sagen, dass die Unsichtbarkeit eines Gegenstands zu einer Bedingung geworden ist, um ihn als wirklich anzusehen – ganz so weit möchten wir wohl nicht gehen. Aber es gehört zu den einerseits kaum erwähnten und andererseits wirklich folgenreichen Prämissen unseres Alltags, dass Unsichtbarkeit – genauer formuliert: eine primäre Unerreichbarkeit für die menschlichen Sinne – die eine wiederholte Bedingung ist, welche wir heute mit allen für uns selbstverständlich oder emphatisch „wirklichen“ Phänomenen in Zusammenhang bringen. Atome und subatomare Partikel gelten als unüberbietbar wirklich; Gene und das Genom; Bakterien und Viren; Software natürlich. Neben dem Mikroskopischen aber ebenso das uns in seiner Ausdehnung und Komplexität Unzugängliche: ferne Galaxien mit ihrer unfassbaren Komplexität, das sich ausdehnende oder sich zusammenziehende Universum, sein Ursprung — und sogar die Möglichkeit anderer Universen. All diese Begriffe und ihre unsichtbaren Referenzgegenstände stecken mittlerweile eine Dimension des „eigentlich Wirklichen“ ab, gegenüber der wir primäre Sinneseindrücke und viele traditionell für „wirklich“ gehaltene Institutionen als „Konstrukte“ des menschlichen kognitiven Apparats oder des gesellschaftlichen Konsensus abtun; zugleich sind wir eigenartig besessen davon, das neue Wirkliche weiter ins Mikroskopische und Makroskopische zu treiben.
Ganz unabhängig von spezifischem Wissen oder Sachkompetenz zeigt sich in dieser Situation eine tiefe Spur der modernen Naturwissenschaften, denen die westliche (heute: die globale) Kultur seit dem siebzehnten Jahrhundert fast allein die Autorität überlassen hat, anzugeben, was als „wirklich“ gelten kann. Wirklich sind für die modernen Naturwissenschaften vor allem Gründe oder Ursachen eher als ihre Effekte; das Unsichtbare und Unfassbare eher als das den menschlichen Sinnen unmittelbar Zugängliche. Warum dem so ist (warum genau diese Wirklichkeits-Präferenzen gelten), das wäre eine eigene philosophische Überlegung wert – hier möchte ich einfach auf den umrissenen Wirklichkeits-Status als einen Ausgangspunkt verweisen. Über das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert haben dann (immer stärkere) Mikroskope und Teleskope noch eine Zeit lang Verbindungen zwischen diesem Wirklichen und den menschlichen Sinnen aufrecht gehalten. Mittlerweile aber ist die nicht mehr überbrückbare Distanz zwischen diesen beiden Polen selbst zu einem Wirklichkeitsprädikat geworden.
Das durch seine Unsichtbarkeit (genauer: durch seine Unerreichbarkeit) geprägte naturwissenschaftliche Wirkliche konvergiert mit dem, was wir ebenfalls alltäglich als „Latenz“ (oder als „latent“) bezeichnen. Von Latenz sprechen wir, wenn uns die räumliche Gegenwart eines Phänomens gewiss ist, ohne dass dieses Phänomen sichtbar wird. Anders als im Fall des naturwissenschaftlich Wirklichen, dessen Identität und Ort wir im Normalfall zu kennen glauben, sind uns bei latenten Phänomenen ihre Identität und ihr Ort oft nicht bekannt. Was Unsichtbarkeit und Latenz als Situationen dann wiederum verbindet, ist die Möglichkeit, dass das jeweils Unsichtbare oder Latente irgendwann zu Evidenz wird, eine Möglichkeit, welche – anders als das Freudianische „Verdrängte“ – nie in ein Versprechen oder eine Garantie zukünftiger Evidenz umschlägt.
Durch diese Gewissheit der Gegenwart eines Gegenstands ohne die Garantie seiner letztendlichen Evidenz (die Konfiguration ist viel alltäglicher als ihre Beschreibung klingen mag), sind Situationen von Unsichtbarkeit und Situationen von Latenz mit der Dimension von „Stimmung“ verbunden. Häufig (allerdings wohl nicht notwendig) lösen Situationen von Unsichtbarkeit und Latenz Stimmungen aus, das heißt: das menschliche Gefühl, von der materiellen Umwelt in der leichtest denkbaren Weise körperlich berührt zu werden – und zwar so, dass in dieser Berührung immer wieder bestimmte psychische Situationen heraufbeschworen werden. „Stimmung“ ist die Simultanität von Umwelt-Berührung auf unserem Körper und bestimmten Situationen in unserer Psyche. Etwa das Wissen um die Gegenwart einer ansteckenden Krankheit kann eine Stimmung auslösen; oder die Sicherheit, dass unter anwesenden Personen Beziehungen von Rivalität oder Feindschaft existieren.
Wie kommt es dann aber – und dies ist eine historische Frage — dass die exponentiell wachsende Unsichtbarkeits- und Latenz-Produktion in unserer naturwissenschaftlich bestimmten Wirklichkeit so ganz neutral, ja beinahe aseptisch in Bezug auf Stimmungen bleibt? Das liegt an dem von den Naturwissenschaften vorausgesetzten Weltbild und Selbstbild der Menschen, innerhalb dessen Unsichtbarkeit und Latenz erst gar nicht registriert werden. Denn dieses Menschenbild ist kondensiert im Begriff des „Subjekts“, in einer auf das Bewusstsein zurückgefahrenen Existenz, im cartesianischen Selbstbegriff des Cich denke, also bin ich.“ Da dieses Selbstbild den menschlichen Körper ausschließt, gehören zu ihm auch nicht die menschlichen Sinne und die Wahrnehmungen („Daten“), welche die Sinne dem Bewusstsein liefern. Aus cartesianischer Perspektive produzieren die Naturwissenschaften also gar keine Unsichtbarkeit oder Latenz, weil für sie die menschliche Intervention erst da beginnt, wo die immer schon vorhandenen „Daten“ in Begriffe oder in Mathematik überführt werden.
Wie kommt es dann aber – und dies ist eine historische Frage — dass die exponentiell wachsende Unsichtbarkeits- und Latenz-Produktion in unserer naturwissenschaftlich bestimmten Wirklichkeit so ganz neutral, ja beinahe aseptisch in Bezug auf Stimmungen bleibt? Das liegt an dem von den Naturwissenschaften vorausgesetzten Weltbild und Selbstbild der Menschen, innerhalb dessen Unsichtbarkeit und Latenz erst gar nicht registriert werden. Denn dieses Menschenbild ist kondensiert im Begriff des „Subjekts“, in einer auf das Bewusstsein zurückgefahrenen Existenz, im cartesianischen Selbstbegriff des „ich denke, also bin ich.“ Da dieses Selbstbild den menschlichen Körper ausschließt, gehören zu ihm auch nicht die menschlichen Sinne und die Wahrnehmungen („Daten“), welche die Sinne dem Bewusstsein liefern. Aus cartesianischer Perspektive produzieren die Naturwissenschaften also gar keine Unsichtbarkeit oder Latenz, weil für sie die menschliche Intervention erst da beginnt, wo die immer schon vorhandenen „Daten“ in Begriffe oder in Mathematik überführt werden.
Andererseits hat es aber seit dem achtzehnten Jahrhundert einen intellektuellen Stil gegeben, einen intellektuellen Stil, der beständig marginalisiert war und sich doch hartnäckig hielt, für den der Körper der Menschen sehr wohl zu ihrem Selbstbild gehörte und in dem deshalb die Frage nach dem sinnlich unmittelbaren Zugang zur materiellen Umwelt eine zentrale Rolle spielte. Man findet ihn im späten achtzehnten Jahrhundert — bereits auf Distanz gegenüber den sich formenden modernen Naturwissenschaften – zum Beispiel in den „materialistischen“ Traktaten von Denis Diderot; in der von Diderot gezeichneten, an den antiken Diogenes erinnernden Gestalt von „Rameaus Neffen“, einem lauten, stinkenden, provokanten, zynischen und genialen Zeitgenossen (der übrigens niemanden mehr faszinierte als den Leser Goethe); in den „Sudelbüchern“ Lichtenbergs; in vielen von Mozarts Briefen; in den Stichen (vor allem den „Caprichos“) von Francisco de Goya. Für all diese Werke wirkte eine bloß begriffliche oder bloß mathematische Beziehung zur materiellen Umwelt defizient, und deshalb wurden ihre Autoren und Schöpfer (meist ohne direkte rezeptionsgeschichtliche Verbindung) zu Vorläufern von Denkern und Kulturkritikern wie Nietzsche, Bergson oder Heidegger. Aus dieser Perspektive ist es plausibel, dass gerade Martin Heidegger durch die Ersetzung des „Subjekt“–Begriffs mit dem Begriff des „Da-Seins“ als menschlicher Selbstreferenz, (über die Partikel „Da-“) den Raum, den Körper und ein sinnliches Verhältnis zur Umwelt in die Philosophie zurückbringen wollte; dass er seit Mitte der dreißiger Jahre an dem Begriff „Sein“ als einem auf Konkretes und Singuläres bezogenen Wahrheitsbegriff arbeitete; und dass er (vor allem) 1938 in seinem Vortrag über die „Zeit des Weltbilds“ die modernen Naturwissenschaften dafür kritisierte, die menschliche Erfahrung gegenüber ihrer materiellen Umwelt durch einen „Vorhang aus Mathematik“ isoliert zu haben.
In Heideggers Philosophie – man mag das aus heutiger Sicht begrüßen oder bedauern – schlug dann das Motiv einer von den Naturwissenschaften etablierten Distanz der menschlichen Sinne gegenüber ihrer materiellen Umwelt, das heißt auch: das Motiv der systematischen Unsichtbarkeit und Latenz der Wirklichkeit, in eine Stimmung um, welche sich in der Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkriegs tatsächlich zu einer Welt-Untergangsstimmung steigerte. 1947, im „Humanismusbrief,“ seinem erstem Text nach Kriegsende, wunderte sich Heidegger darüber, wie lange unsere Kultur eine Adäquanz vorausgesetzt hatte zwischen dem menschlichen kognitiven Apparat und der menschlichen Intelligenz einerseits und andererseits den Problemen, welche zu lösen wären, um das Überleben der Menschheit langfristig zu sichern. Es mag eine Reaktion auf diesen Schock gewesen sein, dass Heidegger wenig später noch einmal den – wie ich meine: wenig erfolgreichen – Versuch der Rückkehr zu einer rudimentären Ordnung im Verhältnis zwischen den Menschen und ihrer Umwelt machte mit dem Begriff des „Gevierts“ („Erde“, „Himmel“, Sterbliche, „Götter“). Ihren Höhepunkt scheint diese Entwicklung in dem Ausruf „nur ein Gott kann uns helfen!“ aus dem posthum veröffentlichten SPIEGEL-Interview erreicht zu haben. Ich sehe in ihm keinesfalls die Rückkehr zu einem Weltbild, das mit Gott rechnet, sondern – fast im Gegenteil – einen Ausdruck von Verzweiflung angesichts der Menschheits-Unfähigkeit, die zu ihrem Überleben nötigen Fragen auch nur ins Auge zu fassen.
Die uns gelegentlich – mich vor allem in der Weihnachtszeit — überfallenden Weltuntergangs-Stimmungen, das wollte ich zeigen, sind gebunden an das Unsichtbarkeits- und Latenz-Gefühl eines menschlichen Selbstbilds, welches die Sinne und mithin die Materialität der Welt einschließt. Je weiter die Naturwissenschaften fortschreiten, desto intensiver werden – auf dieser ihnen sozusagen gegenüberliegenden epistemologischen Seite — das Latenz-Gefühl und die von ihm ausgelöste Stimmung. Heute liegt in dieser dunklen Stimmung vor allem die Konsens-Dimension der verschiedenen ökologischen Bewegungen. Es ist ein Konsens, der sich als ernsthafte Alternative zum naturwissenschaftlichen Weltbild von diesem nicht aushebeln lässt; aber andererseits kann das deprimierende Weltbild der Ökologie auch nicht das aseptische Weltbild der Naturwissenschaften übertrumpfen. Diese beiden Verhältnisse zur Welt sind epistemologisch inkommensurabel, nicht miteinander verrechenbar – und wir müssen mit der daraus entstehenden Spannung leben.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Daniela Hartmann / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Bilder im Text: tomek.pl / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
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„Denis Diderot 111“ vonLouis-Michel van Loo - Flickr.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann