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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Die ZU-Wissenschaftlerin Luise Heinz ist in Dresden mit dem „GENERIS-Preis 2014“ ausgezeichnet worden. Gewürdigt wurde damit ihre Diplomarbeit mit dem Titel „‚alles kann, nichts muss’ – Ansätze zu einer soziologischen Theorie des Flirts“. Darin versucht sie die sozialen Mechanismen aufzuzeigen, die den Flirt erfordern, ermöglichten und eventuell noch ermöglichen. Besonders daran ist, dass Luise Heinz mit ihren Ausführungen auf diesem Forschungsgebiet Pionierarbeit leistet.
Pionierarbeit in der Forschung leistete ZU-Wissenschaftlerin Luise Heinz mit ihrer Diplomarbeit über einen Ansatz zur soziologischen Theorie des Flirtens. Dafür hat sie den GENERIS-Preis 2014 gewonnen. Der Preis wird jährlich für eine herausragende Abschlussarbeit verliehen, die durch ihre theoretische und empirische Dichte einen wichtigen Beitrag zur soziologischen Forschung darstellt. Nur Face-to-Face oder auch in sozialen Netzwerken? Mit plumpem Anmach-Spruch oder erprobter Technik? Erfolgreich oder desaströs? ZU-Studierende erklären auf ZU|Daily, wie sie es mit dem Flirten halten.
Es muss um 1960 gewesen sein, als die alte Bundesrepublik in ihrer neuen Selbstgewissheit dogmatisch wurde und ich mit etwas mehr als zehn Jahren zu verstehen begann, warum meine Mutter zugleich streng, triumphalistisch und hämisch klang, wenn sie den Satz „die mussten heiraten“ gebrauchte – ohne den nur wenige Tage vergingen. Die dabei vorausgesetzten Regeln des Lebens hatten keine Zweideutigkeit: eine Frau, die „er geschwängert hatte“ (niemand nahm an diesem transitiven Verb Anstoß), nicht zu heiraten, galt immer noch als das „gute Recht des Mannes“, und nur besonders emphatisch disponierte Betrachter hielten es für allzu hart oder gar unschön, wenn er davon Gebrauch machte.
Im Heiratsfall aber, der als erfülltes „Muss“, als ihre erfüllte Pficht für die Frau auch ein Glücksfall war, kam unweigerlich die einfache Gleichung eines „Je-später-desto-schlimmer“ ins Spiel: eine unter dem Hochzeitskleid noch gerade zu kaschierende Schwangerschaft wurde mit dem Datum der Geburt zu einer an Peinlichkeit grenzenden – kleinen – Schande, während ein Hochzeitstermin nach der Geburt der Kindes als sozial beinahe so unannehmbar wie keine Hochzeit galt. Auch die unüberbietbar orthodoxe Ansicht hatte ich damals mit Faszination aufgeschnappt, nach der eine Frau, die heiraten musste, ein rosafarbenes Kleid „vor dem Traualtar“ zu tragen hatte – wie Witwen, die sich für eine weitere Ehe entschieden. Genau neun Monate nach der Hochzeit schließlich (mit einem kleinen, alle potentiellen Zweifel blockierenden „Sicherheitsabstand“) „ein Kind zu bekommen“, schloss ich stolz auf meine neue Sach-Kompetenz, musste der Ideal-Fall sein.
Wie sehr sich in einem halben Jahrhundert der Ton und die Bedeutung der Wörter „heiraten müssen“ verändert, ja umgekehrt haben, ist ein bemerkenswertes Symptom für den inzwischen eingetretenen gesellschaftlichen Wandel und auch für die Werte-Sicht der Gegenwart, zu der er geführt hat. Von einem ernsthaften „Muss“ des Heiratens ist eigentlich nie mehr die Rede. Wenn sich die Heirats-Frage überhaupt stellt, dann ist ihr Hilfsverb eher ein „Soll“ – mit sehr verschiedenen Bezugspunkten. Soll man besonders konservativen Familienmitgliedern den Gefallen tun, ohne andere Gründe eine stabile Paar-Beziehung zur Ehe zu machen? Soll man aus Steuer-, Versorgungs- oder Erb-Gründen die Ehe eingehen? Der schon geborenen Kinder wegen vielleicht (auch wenn die nichts zu vermissen scheinen)? Nur wenige Berufe oder Arbeitgeber-Rollen sind übrig geblieben, die zwischen stabilen Beziehungen ohne Ehe und vollzogener Ehe einen Unterschied machen – und ihre Position wird rechtlich prekär, sobald sie versuchen, damit bestimmte Vor- oder Nachteile für ihre Angestellten zu verbinden. Andererseits spricht es ja gewiss gegen die Ehe, dass zu ihr – mit statistisch schlagender Evidenz – das Risiko der Scheidung und der damit verbundenen finanziellen Nachteile, institutionellen Mühen und psychischen Schmerzen gehört. Warum sollte man sich ein so komplexes Risiko zumuten?
Und was könnte auf der anderen Seite heute überhaupt noch für Ehe und Heirat sprechen? Die Gelegenheit zum Beispiel, eine Paar-Beziehung in ihrer Stabilität zu feiern (was unerträglich vernünftig klingt) – oder etwas romantischer (und dann plötzlich ziemlich schmalzig): sich öffentlich und gemeinsam über eine doppelte „Liebe des Lebens“ zu freuen. Doch solche Feste sind teuer und bedürfen, wenn man sie denn haben will, längst nicht mehr wirklich der Eheschließung als institutioneller Voraussetzung. Für homosexuelle Paare allerdings sieht die Motivationslage anders aus. Denn ihr Entschluss zur Heirat und Ehe hat die fast unvermeidlich politische Implikation, nun – endlich – den Zugang zu einem Ritual und einem Status wahrnehmen zu können, die für Partner gleichgeschlechtlicher Beziehungen bisher unerreichbar geblieben waren. Hinzukommen mögen sehr spezifische, eher praktische Interessen, etwa der Wunsch, eine Form der Partnerschaft zu vereindeutigen, die wohl immer ein Minderheiten-Phänomen und deshalb ohne aktive Vereindeutigung für manche Beobachter immer konturenlos bleiben wird.
Dennoch ist anzunehmen – und zu hoffen, dass sich solch warm glänzende Euphorie angesichts der erreichten Gleichstellung homosexueller Paare eines Tages zur affektiven Normaltemperatur justieren wird (im Sinn der nüchternen Feststellung des amerikanischen Philosophen Richard Rorty, dass der Kampf für Gleichberechtigung der Homosexuellen erst dann vollendet sein wird, wenn die Motivation für „Gay Pride Parades“ verschwunden ist). Dann aber wird auch für homosexuelle Paare die Frage, „ob man heiraten muss“, genauso klingen, wie sie heute schon für heterosexuelle Paare klingt, nämlich wie eine rhetorische Frage mit skeptischem Unterton – wie eine Frage also, deren negative Beantwortung unterstellt ist. Wer die Wörter „ob man heiraten muss“ in dieser Weise verwendet – und das mag in einigen europäischen Gesellschaften heute bereits die Mehrheit sein, hat im Normalfall all die (schon erwähnten) praktischen Gründe berücksichtigt, welche für eine Heirat sprechen können. Unterstellt ist dabei freilich, dass die institutionelle Form mit all ihren praktischen Verpflichtungen und Implikationen in einer Spannung zu jener beiden Dimensionen steht, welche die Schönheit einer Liebebeziehung ausmachen sollen: in einer Spannung zu der Freiheit, sich jeden Tag neu füreinander zu entscheiden; und in einer Spannung zu jenem ekstatischen Grad von Individualität, dem naturgemäß keine institutionelle Form entsprechen oder gar gerecht werden kann.
So scheinen wir bei einer Situation angekommen zu sein (und beginnen, es uns in ihr gemütlich zu machen), deren Grundstruktur jedem Kulturhistoriker – vor allem jedem Literaturhistoriker – aus dem Mittelalter vertraut ist, ohne dass heute, wie es zur Zeit der Romantik und des Biedermeier der Fall war, ein bewusster Rückgriff auf diese Vergangenheit vorausgesetzt ist. Genau genommen allerdings werden wir nie wissen, wie erotische Liebe im Mittelalter tatsächlich erlebt wurde. Aber seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert hatte sich europäische Kultur auf ein kleines Corpus von Texten, von so genannten „Liedern“, konzentriert, die zuerst um 1100 im heutigen Südfrankreich entstanden waren, und deren Ton und Faszination dann ein produktives Jahrhundert lang in den europäischen Norden ausstrahlten.
Ihre mittelhochdeutschen Ableger nennt man „Minnesang“ – und prinzipiell geht es im Minnesang immer um die paradoxale Situation und Einsicht (Intellektuelle unserer Gegenwart könnten sie eine „double-bind Situation“ nennen), dass erotische Erfüllung nur außerhalb der institutionellen Verpflichtungen von Ehe und Familie zu haben ist, was wiederum vom Ernst des Ehe-Sakraments ausgeschlossen wird.
Das literarisch gebildete Bürgertum der Romantik reagierte auf den Minnesang mit der zur Erwartung normalisierten gegenläufigen Überzeugung, dass Ehe als Institution permanent mit leidenschaftlicher erotischer Liebe vereinbar sei – und hat der westlichen Kultur in den folgenden Jahrhunderten damit ein oft mit Enttäuschung und Frustration endendes Erbe hinterlassen (der französisch-schweizerische Existentialist Denis de Rougment hat darüber ein ebenso leidenschaftliches wie lesenswertes Buch geschrieben). So könnte man schließen, dass die gegenwärtige Tendenz zur stabilen Partnerbeziehung ohne Ehe möglicherweise die zur Tradition gewordene Spannung zwischen Institution und Leidenschaft vermeiden wird. Und noch ein weiterer – vielleicht entscheidender – Unterschied gegenüber der mittelalterlichen und romantischen Konzeption von Liebe lässt sich in der Gegenwart beobachten. Als zentrale Medium ihrer Nähe und Einheit würden die meisten Paare heute wohl weniger wechselseitige erotische Faszination identifizieren als Freundschaft, Freundschaft im Sinn einer „unverbindlichen Form der Bindung, die hält“, Freundschaft als offene Beziehung der Komplementarität, in der sich zwei (oder mehr) Individuen einander ausdifferenzieren und entwickeln können (früher hätte man von „Individual-Bildung“ geredet).
Im Alltag von heute bringt so der Bildungs-Konsum eine typische Paarbeziehung auf die Höhe unserer Gegenwart: das gemeinsame Konzertabonnement, der Freitagabend im Sterne-Restaurant, die Bildungsreise „auf den Spuren Darwins“ nach Galapagos, neben Liebhaberausgaben surrealistischer Gedichte mit Picasso-Zeichnungen als Weihnachtsgeschenk – und einmal im Leben Bayreuth (statt wie in einer „guten alten“ Zeit, die es vielleicht nie gegeben hat, Zeit für Sex – wenigstens einmal pro Woche). Sex scheint eher peripher geworden zu sein in der Paarbeziehung von heute. Gar Kinder zu haben, wäre unvereinbar mit den Bildungsfahrplänen zum gemeinsamen Glück – und sollten sich Kinder denn in die Freundschaft und Liebe des Paars schieben, dann werden sie seit dem ersten Tag ihres Lebens als Bildungsaufgabe interpretiert, an der die Partner nur wachsen können. Wohin sie wachsen, weiß niemand.
Titelbild: jing.dong / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Bilder im Text: Nathan Congleton / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann