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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
„Rhythmus hat sie aber“, sagte unsere (lieber zitierte als erinnerte) Mutter, wenn wir wieder einmal bemerkt hatten, dass meine Schwester nicht nur ebenso unmusikalisch war wie ihr älterer Bruder, sondern auch die seltene Gabe hatte, beim Mitsingen von Weihnachtsliedern jeden einzelnen Ton dort zu platzieren, wo er gewiss nicht hingehörte. Mit den so entstehenden, nur prinzipiell, aber nie im Detail vorauszusehenden Kakophonien lief selbst „Stille Nacht“ kaum je zur sonst garantierten Stimmungs-Temperatur auf. Und was den Rhythmus angeht, sah meine Schwester nur deshalb einen Deut besser aus, weil sie die Unfähigkeit, ihren Körper in die Form von Takten fallen zu lassen, ganz und gar mit mir teilte. Auf Klassenpartys mit der beliebten Band „The Four Trashmen“ oder auf Festen im heimischen Party-Keller (unter Peinlichkeit stiftender Beteiligung unserer Eltern, die langsame Rhythmen und schummriges Licht nie aufkommen ließen) gelang es uns beiden allein, beim Tanzen auf „Let’s Twist Again“ oder „I Want to Hold Your Hand“ die Körper sichtbar, aber glücklicherweise unhörbar an den Bewegungen der anderen vorbei zu bewegen. Auch der Tanzkurs bei der „Tanzschule Hartung“ wurde so, ob Damenwahl oder Herrenwahl, zu einer einzigen, nie eingestandenen Tortur, einschließlich des von all meinen Freunden (und Freundinnen) sehr herbeigesehnten Schlussballs. Das Trauma hat sich schon früh festgesetzt – und ist mir bis heute erhalten geblieben. Ich kann nie Treppen herauf- oder heruntergehen, ohne ans Stolpern zu denken und dann auch zu stolpern, und ich weiß, dass sich für mich die Sehnsucht nie erfüllen wird, den Körper seine Takte einfach finden zu lassen – und so mit der Frau zu tanzen, die ich liebe.
Über Rhythmus und lyrische Formen „wissenschaftlich“ nachzudenken, hat alles nur noch schlimmer gemacht. Denn jetzt kommt das Trauma auch als intellektuelles Problem auf mich zu, wenn ich zum Beispiel registriere, dass die seit der Zeit des Surrealismus zum Standard der Moderne gehörenden „freien Verse“ und das stille Lesen von elegant aufgemachten Lyrik-Bänden während der vergangenen Jahrzehnte vor allem (aber nicht nur) in Ost-Europa wieder von öffentlichen Lyrik-Rezitationen und von Texten mit perfekten Reimen abgelöst worden sind. Vielleicht hat ja diese Renaissance der traditionellen und verkörperten Formen, vielleicht hat auch eine neue „existentielle“ Sehnsucht nach Tanz („ich habe mich drei Monate beurlauben lassen, um in die Tango-Szene von Buenos Aires einzutauchen“, hörte ich neulich auf einem akademischen Kolloquium), vielleicht hat dieses neue Bedürfnis nach Rhythmus damit zu tun, dass die Zeit unserer Gegenwart nicht mehr linear abzulaufen scheint, nicht mehr – horizontal sozusagen – eingespannt zwischen eine offene Zukunft, die wir gestalten, und eine Vergangenheit, aus der wir lernen sollen. Eher sind wir gefangen in der leeren und zugleich überbelegten Weite einer Gegenwart ohne Richtungs-Dynamik, deren Zukunft von (realen oder vorgestellten) Bedrohungen wie dem „Global Warming“ oder der Erschöpfung natürlicher Energiequellen besetzt ist, und deren nicht mehr auf Distanz zu haltende Vergangenheit die sich immer weiter verbreiternde Gegenwart überschwemmt. Es ist eine Gegenwart, in der wir oft seitwärts driften und uns bis zum Schwindel drehen, eine Gegenwart auch mit unendlich vielen Alternativen ohne Verbindlichkeit.
Wie die tragisch banalen Helden aus Becketts „Godot“ bewegen wir uns, „ohne vom Fleck zu kommen“ und sind Teil einer „intransitiven Mobilmachung“, die uns nirgendwo führt, aber atemlos und am Ende „ausgebrannt“ macht. Immer hastiger wollen wir rennen, weil wir nirgends ankommen können, und das mag der Grund für unsere Sehnsucht nach Formen sein, zu der auch eine Tanz-Sehnsucht und die Sehnsucht nach Gedichten in klassischen Versmaßen gehören. Denn sie lassen uns hoffen, dass wir eins mit anderen Körpern werden und uns an ihnen festhalten können – immer vorausgesetzt, es gelingt, wozu ich noch nie imstande war, nämlich einem Rhythmus zu vertrauen, statt uns durchzählend auf ihn zu konzentrieren. Natürlich habe ich lange schon aufgegeben und fühle ich mich beinahe wie Richard Rorty, der Philosoph, als er im Angesicht des Todes schrieb, sein Leben wäre wohl viel „angenehmer und erfüllter“ gewesen, wenn er „mehr Freunde im Alltag und mehr Gedichte im Gedächtnis“ gehabt hätte, mehr rhythmische Formen, denen sich der Körper überlassen kann und die ihm Formen geben.
Intellektuell gesehen allerdings kommt man an dieser Stelle über ein (pseudo)begriffliches Stammeln kaum hinaus, ohne sich zu fragen, was wir denn meinen, wenn wir „Rhythmus“ sagen — und dass Rhythmen unser Leben „erfüllter“ machen. Meine erste Antwort heißt, dass das Wort „Rhythmus“ immer auf praktische Lösungen des Problems verweist, unter welchen Bedingungen „Zeitobjekte im eigentlichen Sinn“ eine „Form“ haben können. Als „Zeitobjekte“ hatte Edmund Husserl jene Phänomene beschrieben, die allein in zeitlicher Entfaltung existieren können, Musik zum Beispiel, Sprache und natürlich jede Art von Bewegung. Unter dem unübersichtlich vielfältigen Angebot von Definitionen für „Form“ wähle ich den Vorschlag von Niklas Luhmann, für den die „Einheit der Differenz zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz“ eine Form ausmacht. Ein Kreis oder ein Quadrat zum Beispiel ziehen Aufmerksamkeit auf sich („Selbstreferenz“) im Gegensatz zu all dem, was außerhalb des Kreises oder Quadrates liegt („Fremdreferenz“). Wenn aber nun aus dem Kreis ein Oval wird und aus dem Oval ein Quadrat, dann fassen wir das Zeitobjekt einer solchen beginnenden Sequenz erst einmal nicht als Form auf. Hier genau liegt das Problem, dessen Lösung jede Art von Rhythmus ist. „Rhythmus“ nennen wir eine solche Sequenz, sobald wir entdecken, dass sie eine bestimmte Abfolge von Formen immer aufs Neue durchläuft. Denn dann ersetzt die Stabilität der Sequenz – als Rhythmus – die Stabilität einer nicht zum Zeitobjekt werdenden Form.
Rhythmen sind das Medium jener Art von Koppelung (oder „Interaktion“) zwischen verschiedenen Systemen (etwa verschiedenen menschlichen Körpern), die Luhmann „Koppelungen erster Art“ nennt. Dabei lässt die wechselseitige Wirkung der verkoppelten Systeme diese wiederholt – und im Prinzip endlos – durch dieselbe Sequenz von Zuständen laufen. Bei „Koppelungen zweiter Art“ hingegen bringt die Interaktion zwischen den gekoppelten Systemen beständig neue Zustände hervor, Zustände, die ohne die Interaktion von Systemen nicht zustande kämen, und bringt so eine interne Komplexität hervor, aus der endlich eine Ebene der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, also Bedeutung hervorgehen muss. Bei Interaktionen zwischen Menschen sind diese Koppelungen zweiter Ordnung mit einer hohen und jene Koppelungen erster Ordnung mit einer geringeren Bewusstseinsspannung verbunden.
Die von jedem Rhythmus („Koppelung erster Ordnung“) vorausgesetzte und zugleich ausgelöste Ent-Spannung verstellt sich, wer – wie meine Schwester und ich – Tanzschritte mit einem „Eins-Zwei-Drei“ begleitet, immer in Sorge, „etwas falsch zu machen“. Dass Rhythmen der laufenden Zeit Formen aufprägen, anders gesagt, dass rhythmisierte Zeitobjekte (immer wieder) einen Anfang und (immer wieder) ein Ende haben, im Gegensatz zur Zeit des Alltags, die keinen Anfang und kein Ende kennt, erklärt ihre zweite, die erinnerungsstützende Funktion. Als Form legt sich jeder Rhythmus dem offenen Verlaufen der alltäglichen Zeit auf und scheint diese Zeit des Alltags – solange die Wiederholung seiner Sequenzen anhält – zum Stillstand zu bringen. Alle von der Zeit erfassten Phänomene scheinen unter dem Einfluss von Rhythmen gleichzeitig zu werden, und das könnte erklären, warum das Andauern von Rhythmen die Wirkung eines „Fensters“ hat, durch das Erfahrungen oder Wissen aus der Vergangenheit in die Gegenwart gelangen können. Hätte ich sie nicht im Lateinunterricht mit einem Merkvers (und sogar einer kleinen Melodie) gelernt, als ich elf Jahre alt war, könnte ich mich heute sicher nicht mehr an „a, e, de, cum, sine, pro und prae“ als „die Präpositionen mit dem Ablativ“ erinnern.
Schon allein die von ihnen bewirkte Koordination verschiedener Körper und die Aktivierung des Gedächtnisses würden die Intuition bestätigen, dass uns Rhythmen – im Singen, Tanzen und Sich-Bewegen – ein erfüllteres Leben schenken. Noch wichtiger und erstaunlicher aber ist ihre Fähigkeit – auch hier: über die Senkung der Bewusstseinsspannung – unsere Vorstellungskraft in einer Weise zu intensivieren, die uns glauben lässt, Rhythmen könnten entfernte Dinge und Körper heraufbeschwören. Wie das möglich ist, illustriert ein mittlerweile fast hundert Jahr altes Gedanken-Experiment des amerikanischen Philosophen George Herbert Mead. Mead lädt seine Leser ein, sich einen frühen Homo Sapiens vorzustellen, in dessen Bewusstsein ein Umweltgeräusch die Vorstellung von einem anderen Tier abruft. Ob es sich dabei nun um die Vorstellung von einem im Vergleich zum Homo Sapiens stärkeren oder schwächeren Tier handelt, immer werden solche Vorstellungen unmittelbare Innervation – und durch sie Bewegungen des Angriffs oder der Flucht auslösen (wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass unsere Vorstellungen „nah“ bei solchen Körperreaktionen liegen).
Eben diese unmittelbare Verbindung von Vorstellung und Innervation, welche Mead offenbar mit dem „frühen“ Homo Sapiens assoziiert, ist beim „fortgeschrittenen“ Homo Sapiens normalerweise durch Begriffe und andere mentale Schemata unterbrochen, mit denen primäre Vorstellungen gefiltert und interpretiert werden. Unter dem Eindruck von Rhythmus aber (und also mit einer gesenkten Bewusstseinsspannung) wirken auch für uns durch alle Arten von Umweltwahrnehmung (zum Beispiel durch die Rezitation von Gedichten) ausgelöste Vorstellungen direkt auf den Körper – der dann reagiert, als seien die in der Vorstellung präsenten Gegenstände auch physisch gegenwärtig. Es ist also die durch Rhythmen ausgelöste (oder zumindest intensivierte) unmittelbare Wirkung von Vorstellungen auf unsere Körper, welche uns glauben lässt, dass Rhythmen Dinge in räumliche Nähe heraufbeschwören können.
Diese Wirkung vor allem macht ein Leben unter dem Eindruck von Rhythmen zu einem erfüllteren Leben, zu einem Leben, in dem sich Gegenstände der Vorstellung zu unseren Freunden gesellen – und sie stellt sich ganz unabhängig von unseren Intentionen und Bemühungen ein. Nicht mehr setzt sie voraus als die Fähigkeit, unsere Körper den Rhythmen zu überlassen, auf die wir treffen – und die uns gleichsam dem dreidimensionalen Raum zurückgeben können. Danach sehnen wir uns – meist ohne es zu wissen – in einer Gegenwart, welche bis zum Extremwert der Ausschließlichkeit allein unser Bewusstsein herausfordert und in richtungslose Prozesse der Beschleunigung einspannt.
Dies alles beobachte ich – allzu aufmerksam – von außen und mit der resignierten Gewissheit, dass das Nachdenken über die Funktionen von Rhythmen nicht einmal ein schwacher Trost sein kann für all die Tangos und Walzer, die ich nie getanzt habe und nie tanzen werde. Unsere Mutter sah übrigens auch nicht so aus, als ob sie auf der Tanzfläche zuhause wäre, sie hatte eben andere Prioritäten, zum Beispiel, dass wir gute Noten vom Gymnasium nachhause brachten. Deshalb kann ich mich wenigstens für Momente an den in Versform erinnerten Regeln der lateinischen Grammatik festhalten – die mir sonst allerdings beim Lesen lateinischer Texte kaum helfen.
Der Beitrag ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Vincent Jarousseau / flickr.com (CC BY 2.0)
Bilder im Text: *Nom & Malc / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann