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Alexander Eisenkopf studierte Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Nach seiner Promotion über Just-in-Time-orientierte Fertigungs- und Logistikstrategien arbeitete und lehrte Eisenkopf in Gießen und Frankfurt. Seit 2003 ist Eisenkopf Professor an der Zeppelin Universität und Gastdozent an der Wiener Wirtschaftsuniversität. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf Mobilität und Transportunternehmen.
Die Rohölpreise sind seit Mitte 2014 um rund 70 Prozent gefallen. Angesichts der raschen Abwärtsbewegung – zur Jahreswende 2014/15 wurde bereits ein Niveau um die 50 Dollar je Barrel erreicht – rieben sich viele Ökonomen erstaunt die Augen. Energiewirtschaftler wie Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hatten ja noch vor der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 in absehbarerer Zeit ein Preisniveau von bis zu 200 Dollar prognostiziert. Nach einer Zwischenerholung ging die Abwärtsbewegung in der zweiten Jahreshälfte 2015 weiter. Einen vorläufigen Schlusspunkt setzte der panikartige Sell-off in der letzten Woche mit Preisen unter 28 Dollar je Barrel, bevor zum Wochenende eine scharfe technische Reaktion einsetzte, welche die Notierungen wieder auf ein Niveau über 30 Dollar trug.
Mit diesem extremen Preisverfall wuchs die Nervosität an den internationalen Märkten. Entgegen den üblicherweise zu erwartenden jahreszeitlichen Mustern brachen die Aktienbörsen weltweit stark ein. Eingepreist wurde die Angst vor einer weltweiten Rezession, die mit sinkenden Ölpreisen assoziiert wird, zumal auch noch eher schlechte Nachrichten zur wirtschaftlichen Situation in China die Marktteilnehmer verunsicherten. Wegen der Konsequenzen für die Entwicklung des Preisniveaus erhielten auch die Sorgen vor einer drohenden Deflation neue Nahrung.
Um zu verstehen, ob hier irrationale Ängste am Werk sind oder nicht und was die aktuelle Ölpreisentwicklung für uns eigentlich bedeutet, sollte man zunächst analysieren, warum es zu diesem Trend kam. Wie Studierende der Wirtschaftswissenschaften im ersten Semester lernen, bestimmen auf Märkten Angebot und Nachfrage den Preis. Während die Preise anderer Rohstoffe im Rahmen ihrer mittelfristigen Preiszyklen bereits ab dem Jahre 2011 den Rückwärtsgang einlegten, blieben die Rohölpreise noch für einige Zeit auf einem Niveau von rund 100 Dollar. Erst 2014 sorgte eine mit dem Fracking-Boom kontinuierlich anschwellende amerikanische Ölproduktion gepaart mit einer Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklung in China für einen Preisrückgang. Die Länder des OPEC-Kartells, insbesondere Saudi-Arabien, welches früher stets die Rolle eines Marktregulators – eines „swing producer“ – eingenommen hatte, drosselten aber daraufhin nicht die Produktion, um den Preis zu stabilisieren, sondern förderten munter weiter. Niemand wollte Produzenten mit höheren Kosten freiwillig Marktanteile überlassen, die dann bei einem möglichen Anstieg der Preise verloren waren. Teilweise wurde auch die These vertreten, dass Saudi-Arabien die Förderung bewusst hochhielt, um die amerikanische Fracking-Industrie in die Knie zu zwingen. Spieltheoretisch könnte man das Verhalten der Ölförderländer als „game of chicken“ interpretieren: Man testet, wer niedrige Preise am längsten aushalten kann.
Insgesamt verhielt sich das Ölangebot im ökonomischen Jargon formuliert unelastisch, das heißt es reagierte nicht beziehungsweise kaum auf die kräftigen Preissenkungen. Mit dem neuerlichen dramatischen Verfall des Ölpreises in den letzten Wochen und Monaten hat sich die Marktsituation aber noch einmal verändert. Man kann heute sogar von einer inversen Angebotskurve sprechen, das bedeutet mit fallendem Preis steigt die angebotene Menge. Dies liegt daran, dass einige der wichtigen Ölförderländer von den Öleinnahmen so abhängig sind, dass sie so viel wie möglich produzieren müssen, um den Einnahmeverlust aus dem Preisverfall zu kompensieren. Dies betrifft nicht nur Länder wie Venezuela, das kurz vor dem Staatsbankrott stehen dürfte oder Russland, sondern beispielsweise auch Saudi-Arabien. Für den Staatshaushalt 2015 hatten die Saudis mit einem Ölpreis von 87 Dollar kalkuliert. Entsprechend betrug das Haushaltsdefizit des letzten Jahres 90 Milliarden Dollar (etwa 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Es musste erstmals gespart werden, und die bisher subventionierten Preise für Benzin und Grundnahrungsmittel wurden erhöht.
Angesichts der geostrategischen Lage gibt es aber kaum Anzeichen für eine baldige Wende beim Ölpreis. Zum 1. Januar 2016 haben die USA ihr jahrzehntelanges Exportverbot für Erdöl aufgehoben. Mit einer auf rund 12 Millionen Barrel pro Tag massiv erhöhten Erdölproduktion treten sie nun als neuer Anbieter auf dem internationalen Markt auf. Hinzu dürfte in absehbarer Zeit eine spürbare Produktionssteigerung im Iran kommen, während die Wachstumsaussichten der Weltwirtschaft momentan in gedämpftem Licht erscheinen und sogar in China Fortschritte bei der Energieeffizienz gemacht werden. Selbst Saudi-Arabien erwartet eine längere Phase billigen Öls. Dies wird durch einen Blick auf die Terminmärkte bestätigt, wo für die Jahre 2017 und 2018 derzeit Notierungen von 40 bis 45 Dollar je Barrel genannt werden. Selbst wenn der amerikanische Fracking-Markt demnächst kollabieren sollte, werden die überlebenden Unternehmen mittelfristig eine starke Marktposition haben – ein Blick in die Geschichte der amerikanischen Ölindustrie ist diesbezüglich sehr erhellend.
Was bedeutet aber dieses wahrscheinlich auf längere Frist billige Öl für Deutschland? Ölpreise von 30 bis 40 Dollar führen zu einem massiven Kaufkraftzuwachs der Bevölkerung. Sie stellen ein gigantisches Konjunkturprogramm dar. Ein repräsentativer Dreipersonenhaushalt mit einem Diesel-Pkw würde bei einem jahresdurchschnittlichen Tankstellenpreis von 1 Euro je Liter im Jahre 2016 gegenüber 2014 (Durchschnittspreis 1,35 Euro je Liter) über 400 Euro im Jahr sparen. Mikroökonomisch geht die Preissenkung mit einem Substitutions- und Einkommenseffekt einher, das heißt ein Teil der Ersparnis wird für zusätzliche Fahrten – oder eine weniger sparsame Fahrweise und größere Fahrzeuge – verwendet. Die entsprechenden Elastizitäten sind aber erfahrungsgemäß relativ niedrig, so dass ein Großteil der Ersparnis für andere Konsumzwecke zur Verfügung steht. Ähnlich bedeutsam dürften Einsparungen bei der Wohnungsheizung sein, insbesondere wenn der parallel zu beobachtende Preisrückgang für Gas auf den internationalen Märkten auch bis zu den deutschen Endverbrauchern durchgedrungen ist.
Auch die Industrie sollte durch sinkende Produktionskosten von niedrigen Ölpreisen profitieren, insbesondere im Bereich der Grundstoffe. Einzelne Branchen befürchten allerdings Einbußen im Export, da Aufträge aus den erdölproduzierenden Ländern ausbleiben oder reduziert werden. Ungeachtet der für die deutsche Wirtschaft insgesamt begrenzten Relevanz dieser Exportländer, wäre dies aus gesamtwirtschaftlicher Sicht jedoch im Grunde positiv, denn unsere durch eine unterbewertete Währung und den faktischen Nullzins künstlich aufgeblähte Exportblase würde zumindest etwas angestochen.
Auch der Überschwang auf den Aktienmärkten ist ja in den letzten Tagen durch internationale Portfoliobewegungen, die im Zusammenhang mit dem Rückzug von Petrodollars stehen dürften, gebremst worden. Allerdings drohen hier neue Blasen, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrer panischen Angst vor vermeintlich deflationären Entwicklungen die stark gefallenen Ölpreise zum Anlass nimmt, die Märkte noch stärker mit Liquidität zu fluten, wie EZB-Chef Mario Draghi bereits angekündigt hat.
Einem unserer politischen Lieblingsprojekte wird das billige Öl dagegen den Todesstoß versetzen: Kaum jemand wird sich mehr in Deutschland für Elektrofahrzeuge interessieren, wenn die Treibstoffkosten eines Pkw mit Verbrennungsmotor real auf dem Niveau der ersten Hälfte der 90er-Jahre liegen. Auch die derzeitige Klimapolitik wird ad absurdum geführt. Sie setzt ja insbesondere auf eine Zähmung der Nachfrage und hat fälschlicherweise die Angebotsseite stets außer Acht gelassen. Was Hans-Werner Sinn einst als das „grüne Paradox“ bezeichnete – rein nachfrageorientierte, schrittweise schärfere Klimapolitik verstärkt den Klimawandel, da die Ressourceneigner eine Entwertung ihrer Vorräte befürchten müssen und daher das Angebot steigern – wird durch solche Marktentwicklungen zu einem selbstverstärkenden Prozess, denn die Politik wird in der neuen Situation nichts unversucht lassen, durch höhere Abgaben die Nachfrage einzuschränken und zusätzliche Einnahmen zu erzielen.
Spannend sind dagegen die geopolitischen Konsequenzen der jetzt stattfindenden internationalen Umverteilung von Ölförder- zu Ölnachfrageländern. Wenn hypertrophen Regimen wie Saudi-Arabien das Geld ausgeht, müssten wird das doch eigentlich begrüßen. Sollen wir ein autokratisches, menschenverachtendes System, dessen sagenhafter Wohlstand allein auf der Ausbeutung seiner Ölvorkommen fußt, auf Dauer subventionieren? In diesem Kontext hätte das Fracking sogar die angenehme Nebenwirkung, weltweit die auf Öl basierenden Geschäftsmodelle fragwürdiger Potentaten in Frage zu stellen. Die Gefahr ist allerdings dabei, dass die Destabilisierung der OPEC-Länder in Zukunft einen neuen Flüchtlings- und gegebenenfalls auch Terrorexport auslöst, der uns auf dem falschen Fuß erwischt. Aber auch dem IS geht ja mit sinkenden Ölpreisen das Geld aus.
„ÖL! Ja ÖL. Ist ein ganz besonderer Saft“, lautet der Refrain des Songs „Öl“ von Extrabreit. Besonders ist dieser Saft auch, weil niemand weiß, was der „richtige“ Ölpreis ist und ob Öl heute zu „billig“ oder früher zu „teuer“ war. In der Tat bewegt sich der Ölpreis derzeit real – das heißt unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich stattgefundenen Geldentwertung – auf dem Niveau der ersten Ölkrise der 70er-Jahre. Dies zeigt allerdings zunächst einmal nur, dass es mit der Macht des OPEC-Kartells, welches sich unverschämterweise 40 Jahre lang zig Milliarden weltweiter Kaufkraft angeeignet hat, zu Ende ist. Dies scheint mir kein Grund zur Klage.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Alexander Eisenkopf
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm