ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) lautet:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Die Europäische Union bekennt sich zu Rechtsstaat und Demokratie, das heißt zu den klassischen liberalen Werten der westlichen Tradition. Diese Werte werden auch sanktioniert. In Artikel 7 des EUV sind Sanktionsmechanismen bis zum Verlust der Mitgliedschaft für den Fall vorgesehen, dass ein Mitgliedstaat diese Werte nachhaltig verletzt. Anfangs wurde dies auch noch sehr ernst genommen. Als in Österreich die rechtspopulistische FPÖ erstmals zusammen mit der ÖVP eine Koalition bildete, wurde ernsthaft darüber gesprochen, dass Sanktionen nach Artikel 7 EUV gegen Österreich ergriffen werden sollten.
Allerdings war das, was FPÖ und ÖVP in Österreich vorhatten, geradezu harmlos, gemessen an dem, was in Ungarn die rechtskonservative Regierung unter Viktor Orbán ins Werk setzte. Ausgestattet mit einer Zweidrittelmehrheit wurde die ungarische Verfassung in der Weise geändert, dass die Macht der Fidesz auf Jahrzehnte gesichert scheint. Auch hier wurden insbesondere rechtsstaatliche Mechanismen ausgehebelt. So wurde die Macht des Verfassungsgerichts erheblich beschnitten, die Medien wurden durch Gesetze auf Regierungskurs gebracht. Das sich in Ungarn offenbarende Demokratieverständnis hat mit dem des demokratischen Rechtsstaats nach Artikel 2 EUV nichts gemein. Es handelt sich vielmehr um ein autoritäres Politikverständnis, dass demokratische Formen vor allem braucht, um mit plebiszitären Akten die herrschende Partei zu bestätigen. Spätestens der Fall Ungarn hätte ein Verfahren nach Artikel 7 EUV gerechtfertigt. Dieses Verfahren ist unterblieben.
Seit Herbst vergangenen Jahres ist nun in Polen ebenfalls eine rechtspopulistische Partei an der Macht. Was diese Regierung seitdem ins Werk gesetzt hat, ist – wenn man jeden einzelnen Gesetzesakt für sich betrachtet – möglicherweise gar nicht so problematisch. Das Gesamtbild jedoch ist höchst bedenklich. Es begann damit, dass drei legal gewählte Mitglieder des Verfassungsgerichts vom Präsidenten über Monate nicht ernannt wurden. Als die Parlamentswahl stattgefunden hatte, wurden fünf neue Mitglieder gewählt und diese direkt ins Amt gesetzt. Anschließend hat man das Gesetz zum Verfassungsgericht geändert und dieses verpflichtet, alle Eingaben nach der Reihenfolge zu behandeln. Dann wurde ein Gesetz auf den Weg gebracht, dass die Führung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vom Vertrauen eines Ministers abhängig macht. Der nächste Gesetzesakt bezog sich auf die Staatsanwaltschaften. Der Justizminister wurde zum Generalstaatsanwalt gemacht und ist nun weisungsberechtigt gegenüber jedem Staatsanwalt in jedem einzelnen Fall. Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, Richter wegen fehlerhafter Urteile unter Anklage zu stellen.
Auch in Demokratien wie den USA ist ein Streit über die Besetzung von Richtern am Supreme Court nichts Ungewöhnliches. Auch in Deutschland ist der Justizminister gegenüber den Staatsanwaltschaften weisungsberechtigt. Betrachtet man allerdings diese Maßnahmen zusammen, so wird relativ schnell deutlich, in welche Richtung diese Regierung Polen steuert. Die Justiz wird ihrer Unabhängigkeit beraubt und fällt als Kontrollinstanz für die Politik aus. Das Gleiche gilt für die öffentlich-rechtlichen Medien, die nun Regierungsmedien werden. Polen geht damit den Weg von Ungarn. Die liberale Demokratie mit ihrem Pluralismus und ihren rechtsstaatlichen Sicherungen soll umgewandelt werden in eine – wie es Orbán in seiner bemerkenswerten Offenheit einmal gesagt hat – gelenkte Demokratie.
An den Beispielen Polen und Ungarn kann man ein Schema erkennen, welches auch anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa vorschwebt. Es ist durchaus vorstellbar, dass der FN in Frankreich einen ähnlichen Weg gehen würde. Umso mehr ist es erforderlich, dass Europa endlich beginnt, die Werte der liberalen Demokratie, auf die sich alle 28 Mitgliedstaaten – also auch Ungarn und Polen – verpflichtet haben, offensiv zu verteidigen. Das nun mit Polen begonnene Verfahren des „rechtsstaatlichen Dialogs“ ist begrüßenswert, hätte deutlich mehr Glaubwürdigkeit, wenn die Kommission bereits gegen Ungarn mit dem Artikel 7 EUV vorgegangen wäre.
Ohne Rechtsstaat kann keine Demokratie auf Dauer existieren. Ohne die rechtsstaatlichen Sicherungen entartet eine Demokratie innerhalb kürzester Zeit zu einer Diktatur der Mehrheit. Insofern sind es vor allem die Reformen im Justizsystem, die daran zweifeln lassen, dass die polnische Regierung die europäischen Werte von Demokratie und Freiheit wirklich teilt. Europa wird durch Polen und Ungarn vor die Frage gestellt, wie ernst sie die Wertegemeinschaft nimmt. Die Werte der EU haben jedenfalls nichts gemein mit den autoritär-faschistoiden Vorstellungen, die die polnische Regierung zu vertreten scheinen. Doch allein die Kommission wird diese Entwicklung nicht aufhalten können. Es müssen die polnischen Bürger und die Menschen in Europa diese Werte verteidigen. Sonst fällt Europa in das Dunkel der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück, Freiheits- und Wohlstandsverlust inklusive.
Titelbild:
| PeterBe / pixabay.com (CC0 Public Domain)
Bilder im Text:
| Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
| European People's Party - EPP Summit, Brussels, June 2015, CC BY 2.0
| European Parliament / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Georg Jochum
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm