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ZU-Professor Joachim Behnke ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Die Ringvorlesung beleuchtet das Themenfeld von Flucht, Asyl, Einwanderung und Integration aus verschiedenen fachwissenschaftlichen Perspektiven. Dabei wird die Problematik sowohl aus der theoretischen als auch der praxisorientierten Perspektive behandelt. Die in der Ringvorlesung aufgegriffenen Aspekte beziehen sich auf moralphilosophische Fragen, die durch die Flüchtlingsbewegung aufgeworfen werden, auf juristische Aspekte der Umsetzung des Asylrechts und auf praktische Erfahrungen der Bewältigung der Flüchtlingskrise einerseits vor Ort in den Krisengebieten, andererseits in den aufnehmenden Kommunen in Deutschland. Aus fachwissenschaftlicher Perspektive wird das Bild der Flüchtlinge in den Medien sowie die Einstellungen der Bevölkerung zu den Flüchtlingen untersucht. Die nächste Vorlesung „Asylrecht in der Praxis“ mit Hubert Heinhold, Anwalt für Asylrecht und stellvertretender Vorsitzender von Pro Asyl e.V., findet am Mittwoch, 28. September, um 19.30 Uhr auf dem ZF Campus der ZU im Fallenbrunnen 3 statt. Weitere Termine: am 19. Oktober „Paradigmenwechsel – Wie die Migrations- und Fluchtkrise als Anstoß zu moderner Vernetzung und Entwicklung genutzt werden kann“ mit Entwicklungshelfer Kilian Kleinschmidt, am 26. Oktober „Zusammenarbeit von Stadt und Landkreis in Zeiten von Massenmigration“ mit Vertretern der Stadt Friedrichshafen und des Landratsamts Bodenseekreis, am 23. November „Zur Repräsentation des Anderen – Das Bild des Flüchtlings in den Medien“ mit ZU-Professor Udo Göttlich und am 07. Dezember „Flüchtlinge willkommen? Und wenn ja, welche?“ mit ZU-Wissenschaftler Dr. Florian Bader.
Es ist unter Wahlforschern seit Jahrzehnten bekannt, dass es in Deutschland ein Potenzial von 10 bis 20 Prozent der Wähler gibt, die auch bereit sind, Parteien mit rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Positionen zu wählen. Insofern kann die Entstehung der AfD durchaus als Ausdruck einer gewissen „Normalität“ angesehen wird, wie sie ja auch in vielen unserer Nachbarländer vorzufinden ist. Merkels Politik hat diese Wählergruppen mit diesen Einstellungen nicht geschaffen, sie hat sie gewissermaßen nur „aktiviert“ (dies trifft auf die Gruppe der Nichtwähler sogar im wörtlichen Sinne zu) beziehungsweise nicht mehr bei der CDU halten können. Die AfD wird nicht einfach wieder zum Verschwinden gebracht werden können, indem man ihre Positionen übernimmt. Das heißt allerdings nicht, dass die AfD als unentrinnbares Schicksal betrachtet werden muss.
Die Überlebensfähigkeit der AfD wird zuerst von ihrer innerparteilichen Struktur und ihren innerparteilichen inhaltlichen Auseinandersetzungen abhängen. Andere Protestparteien wie die Republikaner und die Piraten sind nach durchaus vergleichbaren Erfolgen an diesen innerparteilichen Konflikten gescheitert. Darüber hinaus erfahren „Protestparteien“ einen Prozess der natürlichen Abnutzung als „Protest“, einfach aus dem Grund, weil sie nun „dazugehören“.
Dass die Abwanderung in gewisser Weise eine Folge von Merkels Handeln war, heißt aber keineswegs, dass sie diese ohne weiteres hätte verhindern können. Nur, weil etwas schief geht, muss das nicht bedeuten, dass man falsch gehandelt hat. Auch in jeder Hinsicht korrektes, das heißt rationales Handeln, kann zu unerwünschten Ergebnissen führen. Jeder Poker- und jeder Skatspieler weiß, dass man alles richtig machen und dennoch verlieren kann, wenn man eben ein Blatt auf der Hand hat, mit dem man einfach nicht gewinnen kann. Es gibt solche Situationen, in denen man nur verlieren kann. Was waren denn Merkels Entscheidungsoptionen im September 2015?
In dieser Situation gab es keine in jeder Hinsicht „richtige“ Lösung, weil es zwei Zieldimensionen gab, die nicht beide bedient werden konnten. Wer also darauf beharrt, dass Merkel falsch gehandelt hat, kann höchstens damit meinen, dass sie die falsche Abwägung zwischen den Interessen der CDU und denen der Flüchtlinge getroffen hat. Es ist aber darüber hinaus ausgesprochen unwahrscheinlich, dass Merkel mit einer Abschottungspolitik Abwanderungen von der CDU hätte vermeiden können. In diesem Fall hätte sie ja den Teil ihrer Anhänger verprellt, der eine liberale und offene Flüchtlingspolitik befürwortet. Wenn die eigene Anhängerschaft in einer bestimmten Frage polarisiert ist und wenn diese Frage so bedeutend wird, dass sie die dominante für die Wahlentscheidung ist, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, einen Verlust zu vermeiden.
Das Problem der „Schuldzuweisung“ entsteht dadurch, dass es unserem psychologischen Naturell widerspricht, Verluste einfach stoisch zu ertragen, weil wir bestimmte Ereignisse als „verursacht“ wahrnehmen und daher diese Ereignisse, insbesondere schlechte, dem Handeln bestimmter Personen zuschreiben. Diese Unfähigkeit, Verluste abzuschreiben und einfach auszuhalten, führt dann zu irrational riskantem Verhalten in der Hoffnung, die Verluste wieder ausgleichen zu können. Menschen, die beispielsweise beim Roulette kleine Beträge verloren haben, neigen dazu, immer riskanter zu spielen, was in der Regel lediglich zur Folge hat, dass sie ihren Verlust noch einmal deutlich vergrößern.
Verluste akzeptieren und aushalten zu können ist nicht gleichbedeutend mit Resignation und heißt nicht, dass man apathisch alles so weiterlaufen lässt wie bisher. Fehler gibt es immer und diese müssen wo immer möglich behoben werden. Fehler sind gemacht worden, das hat die Kanzlerin in ihrer Erklärung nach der Wahl von Berlin ja selbst zugegeben. Nur liegen diese Fehler eben nicht in der Politik vom September 2015, sondern in den vielen Versäumnissen und Unterlassungen davor, die eine Situation erst haben entstehen lassen, in der ein in jedem Aspekt „richtiges“ Handeln nicht mehr möglich war. Wobei man am Schluss nie aus dem Auge verlieren sollte, dass die Verluste bei allen Betroffenen sehr ungleich verteilt sind: Während die einen sich um die Verluste von Prozentpunkten sorgen, fürchten die anderen um ihr Leben oder zumindest um die Aufrechterhaltung der elementaren Voraussetzungen, die die Führung eines lebenswerten Lebens garantieren.
Titelbild:
| Nizomi / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
Bilder im Text:
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Joachim Behnke
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm